Distanzloses Geld
Wie im vorigen Exkurs „über Liebe und Gesellschaft“ geht es mir auch in diesem darum, eine These zum Geld, wie es in einer bestimmten Epoche geworden ist, an einem analogen, historisch nahezu gleichzeitig aufgetretenen Phänomen ganz anderer Art zu illustrieren. Die These wurde am Anfang der vorigen Notiz noch einmal in Erinnerung gerufen. In short handelt es sich darum, dass tauschfähiges, zur beliebigen individuellen Verwendung freigegebenes Geld früher einmal nur in den Grenzen von etwas funktioniert hat, das ich „Gesellschaftsgeld“ nenne. Geld war zwiefach vorhanden, stand gleichsam in Distanz zu sich selber.
Es folgte eine Zeit, in der die gesellschaftsgeldliche Dimension immer mehr ins „individuelle Geld“ hineingenommen wurde, um schließlich ganz mit ihm zu verschmelzen. Wir sind wohl bereits am Ende dieses Prozesses angelangt. Er überschritt mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise eine Schwelle und machte von da an auch die Golddeckung von Geld, letzte Spur eines vom Individualgeld dinglich verschiedenen Gesellschaftsgeldes, mehr und mehr illusorisch, bis auch sie noch völlig verschwand.
Der Prozess hat zur Folge, dass die gesellschaftsgeldliche Dimension im Individualgeld nur noch mitgeschleppt wird wie eine verachtete Gefangene, während jenes, siegreich zwar, doch auf sich verwiesen und mit sich überfordert, von Krise zu Krise taumelt. Ich plädiere daher für ein vom Individualgeld wieder getrenntes Gesellschaftsgeld, das aber anders als das einstmalige kein von ihm getrenntes Ding sein soll, sondern in den geldmäßigen Konsequenzen allgemeiner ökonomischer Wahlen bestünde, die in der Anderen Gesellschaft periodisch abgehalten würden. Die historische Gesamtentwicklung wäre damit, wenn man will, von der These über die Antithese zur Synthese gelangt.
Tristan und Isolde
Im vorigen Exkurs wurde erörtert, wie auch in der Liebe die historische Tendenz wirkte und wirkt, ein von ihr verschiedenes Gesellschaftliches, zu dem sie sich doch immer verhalten hat, mit sich völlig zu verschmelzen, dadurch an den Rand zu drängen und in der Folge sich selbst zu überfordern. Wenn wir jetzt in gleicher Weise die Musik erörtern, ist der Übergang nicht schwer, denn hier wird Liebe gern behandelt und auch Gesellschaftliches teils unmittelbar zum Thema gemacht, teils hinterlässt es Spuren in den musikalischen Formen. Wir können zunächst konstatieren, dass die musikalische Entwicklung unsere Überlegungen zur Liebe auf ihre Art nicht nur bestätigt, sondern auch vertieft.
Es ist einfach, auf Wagners Musikdrama Tristan und Isolde zu verweisen, aber das ist auch wirklich der Beleg, der zuerst genannt werden muss. Das berühmte Tristan-Vorspiel, dessen Eingangsakkord und -tonfolge als Vorschein der späteren „atonalen“ Kompositionsweise gilt, stellt vordergründig die Gefühle zweier ausweglos auf sich zurückgeworfener Liebender dar. Das Drama wird entfalten, wie sie den Kontakt zur Gesellschaft völlig verlieren und deshalb nur untergehen können. Denn selbst der Verzicht des Königs Marke auf Isolde, die ihm zur Gattin bestimmt war, kann die Katastrophe nicht aufhalten, in der die Liebenden sich selbst vernichten. Auf Markes Frage, warum Tristan, sein Freund, ihm solche Schmach bereite, antwortet der, das könne er nicht sagen, „und was du frägst, das kannst du nie erfahren“. Immerhin so viel sind die beiden zu sagen imstande, dass sie, statt sich noch als Glieder der Gesellschaft anzusehen – oder der „Welt“, wie Tristan sich ausdrückt -, einem „fremden Land“ zugehörig geworden sind, in dem „der Sonne Licht nicht scheint“. Als musikalischen Reflex dieser Haltung im Tristan-Vorspiel wird man den Umstand bewerten dürfen, dass es, obwohl in a-moll gehalten, den Ton a in seiner Funktion als Grundton immer nur umkreist, ohne ihn je zu erreichen.
Wenn man dies Vorspiel anhört, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass weit mehr verhandelt wird als „nur“ die Liebe, oder eben, sie selbst wird derart behandelt, dass sie die ganze „Welt“ einsaugt, sich mit ihr gleichsam aufpumpt – bis dahin, dass sie platzen muss wie ein Luftballon. Übrigens eine Erfahrung, die man auch beim Anhören von Peter Tschaikowskis Konzertouvertüre Romeo und Julia macht. Deren Musiksprache nämlich scheint eher das Vernichtetwerden eines Millionenkriegsheers zu beschreiben als den Liebestod zweier junger Menschen. Was Tschaikowski sich dabei gedacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis, doch über Wagners Gedanken beim Tristan-Vorspiel sind wir gut unterrichtet, weil der Komponist das prägende Motiv schon vorher in einem Lied hat erklingen lassen, zu dem seine zeitweilige Geliebte Mathilde Wesendonk den Text schrieb. Es heißt „Im Treibhaus“ und handelt von der Liebe. Eine Metapher wird ausgemalt:
Hochgewölbte Blätterkronen,
Baldachine von Smaragd,
Kinder ihr aus fernen Zonen,
Saget mir, warum ihr klagt?
Schweigend neiget ihr die Zweige,
Malet Zeichen in die Luft,
Und der Leiden stummer Zeuge,
Steiget aufwärts süßer Duft.
Weit in sehnendem Verlangen
Breitet ihr die Arme aus,
Und umschlinget wahnbefangen
Öde Leere nicht’gen Graus.
Wohl, ich weiß es, arme Pflanze:
Ein Geschicke teilen wir,
Ob umstrahlt von Licht und Glanze,
Unsre Heimat ist nicht hier!
Das „sehnende Verlangen“ der Liebe greift also nach etwas, das gar nicht da ist – in die Leere, ins Nichts. Es reicht offenbar nicht, dass die „Blätterkronen“ e i n a n d e r umschlingen, sondern etwas müsste hinzukommen, kommt aber nicht: die Sonne heißer Erdzonen, die „im Treibhaus“ künstlich ersetzt wird, also eben fehlt, wie die Pflanzen sehr wohl spüren. Was fehlt, haben wir unter dem Gesichtspunkt erörtert, dass es die Gesellschaft sei. Eine Vertiefung des Themas liegt aber darin, dass es im Bild die Sonne ist, etwas Himmlisches, übersetzt die „himmlische Liebe“, zu der sich die „irdische“ ins Verhältnis setzen will, ohne es noch zu können. Tatsächlich hatte es Zeiten gegeben, in denen man glaubte, das Transzendente gesellschaftlich dingfest machen und so unter Einbezug der Liebe repräsentieren zu können: dadurch, dass die „Trauung“ kirchlich vollzogen wurde. Das war vorbei, auch wenn man es noch äußerlich üben mochte. Wir sehen daran, unter welchen Umständen es überhaupt nur angeht, oder angehen könnte, dass in die private Liebe Gesellschaftliches sich einmischt, ohne Verlogenheit oder Peinlichkeit hervorzurufen: Es ginge nicht bloß „positivistisch“ darum, sie in eine vorhandene Ordnung einzugliedern, sondern die Gesellschaft hätte eine Perspektive, „einen Traum“, und die Liebenden würden ihn mitträumen und wären d e s h a l b mit ihr verträglich, derart dass ihnen die Ordnung gar nicht äußerlich erschiene.
Diese Vertiefung führt zu der Einsicht, dass es nicht „nur“ die Liebe ist, deren Schicksal von solcher und vergleichbarer Musik des 19. Jahrhunderts beklagt wird, sondern der gesellschaftliche Sinnhorizont überhaupt. Was da „in sehnendem Verlangen die Arme ausbreitet“, ist letztlich die Gesellschaft selber: deren klügste Köpfe nach dem Ende der kirchlichen Hegemonie entsetzt feststellen, dass ihr, der Gesellschaft nämlich, die Ziele abhanden gekommen sind und ihre Existenz ganz sinnlos zu werden droht. Friedrich Nietzsche ist einer dieser Köpfe, und ihm ist Gustav Mahler gefolgt, der in seiner 8. Sinfonie die Frage wörtlich aufwirft, wo das neue Ziel bleibt: Veni creator spiritus. In Nietzsches „Nihilismus“-Diagnose erkennt man übrigens die unmittelbare Weiterführung früher, noch an die 1848er Revolution anschließender Texte Richard Wagners.
Dass Wagners Liebesthematik in sich selbst auch Gesellschaftsthematik ist, muss dem Komponisten insofern ganz bewusst gewesen sein, als er anfangs Anhänger der Philosophie Ludwig Feuerbachs war, der sich eine auf „Liebe“ basierende neue Gesellschaft erträumte. Sicher hat Wagner dann auch gesehen, dass die Verzweiflung König Markes nicht weniger tragisch ist als die Unmöglichkeit der Liebe Tristans und Isoldes zueinander. Feuerbachs Utopie hätte eben erfordert, dass a l l e d r e i in „Liebe“ verbunden wären, tatsächlich aber wird Marke von den Liebenden ausgeworfen, als wäre er eine Sinnestäuschung – was Wagner inzwischen ganz plausibel findet, denn er ist zu einer anderen Philosophie konvertiert, zu Schopenhauer, der sich östlicher Weisheit annähert. Ersatzweise müssen nun die Liebenden Herrscher in jenem „fremden Land“ werden, das über ihren Körperumfang nicht hinausreicht und im Grunde weiter nichts als ihr Grab ist.
Die Kreutzersonate
In der Operntradition, die auch von Wagners „Musikdramen“ noch fortgesetzt wird, stand Liebe immer im Zentrum, so dass Wagner als Beleg für unsere Überlegung wenig aussagekräftig erscheint. Die Idee, diesen Exkurs „über Musik und Gesellschaft“ zu schreiben, kam mir aber auch gar nicht da – Wagner fiel mir erst später ein -, sondern beim Anhören von Beethovens Violinsonaten anlässlich einer recht guten Neuaufnahme (von Kristóf Baráti und Klára Würtz, Brillant Classics 2012), die ich, um neue Lautsprecher zu testen, mit denen von Brahms verglich. Die Gedankenbahn, auf der ich mich gerade bewegte, eben die von „Geld, Liebe, Gesellschaft“, ließ mich dann staunen, dass Brahms viel p r i v a t e r klingt als Beethoven, obwohl auch für diesen die Violinsonate ein Genre ist, in dem man persönliche Gefühle, Leidenschaft und gewiss auch Liebe thematisiert. Mit Wortmarken wie „Klassik versus Romantik“ erfasst man diesen Unterschied nicht, zumal es Stimmen gibt, die schon in Beethoven einen Romantiker sehen.
Was könnte leidenschaftlicher sein als Beethovens Violinsonate Nr. 9, die berühmte „Kreutzersonate“? Doch wenn man im Anschluss die ebenso hinreißende d-moll-Sonate von Brahms anhört, fühlt man sich in dieselbe ausweglose Liebesparanoia geworfen, von der auch Tristan und Isolde geschlagen sind – während ja Beethovens Paar, Florestan und Leonore in der Oper Fidelio, nicht nur durch individuelle Liebe sondern auch, mit Brecht zu reden, eine „dritte Sache“ verbunden ist (sie bekämpfen einen Tyrannen). Welche Verschiedenheit der musikalischen Mittel den Unterschied der Wirkung der Violinsonaten bedingt, will und kann ich hier nicht untersuchen (auf den Konzertsaal berechnet statt bloß für den Privatsalon gedacht sind beide); dafür aber, dass ich ihn mir nicht bloß einbilde, spricht als unverdächtiges Zeugnis Die Kreutzersonate, eine Novelle von Leo Tolstoi.
Unverdächtig insofern, als das ein ganz scheußlicher Text ist, dessen Ideen uns kalt lassen und sogar abstoßen. Der Protagonist meint, es sei verdammenswerter Ehebruch, wenn auch nur der Gatte die Gattin begehrt, weil Keuschheit beider Bestimmung sei. Das hindert den Gatten nicht, die Gattin in rasender Eifersucht umzubringen, wofür er vom Gericht auch noch freigesprochen wird, weil er mit dem Mord ja nur seine „Ehre“ verteidigt habe. Weil Tolstois Leser sich die Augen gerieben haben, hat er in einem Nachwort noch ausdrücklich erklärt, im Protagonisten spreche er selber. Es blieb nicht verborgen, dass er mit der Novelle die eigene Frau angriff, die sich wehrte, indem sie ihrerseits an die Öffentlichkeit ging. So weit, so schlecht. Doch welche Rolle spielt die Kreutzersonate? Die Frau spielt Klavier, lernt einen Violinisten kennen, lädt ihn zu Hauskonzerten ein und wird seine Geliebte. Tolstoi muss daher über Musik reflektieren. So sehr er versucht, sein Urteil zurechtzubiegen, merkt man, dass er von Musik sehr viel versteht.
Das fängt schon damit an, dass er überhaupt ein Stück von Beethoven ins Zentrum stellt, denn wenn man die deutschen Musiknovellen des 19. Jahrhunderts daneben hält (siehe den Sammelband Musiknovellen des 19. Jahrhunderts, hg. von Reinhard Kiefer, Kassel Basel 1987, mit Texten von Kleist, E.T.A. Hoffmann, Tieck, Hauff, Eichendorff, Bechstein, Mörike, Storm und Keller), stellt man fest, dass keine von ihnen über Mozarts Don Giovanni hinausgreift, wie es schon Goethes Schranke gewesen war. Tolstoi ist auf der Höhe – „Ich war ein großer Freund der Tonkunst“, lässt er den Protagonisten sagen -, und wenn es auch etwas pauschal ist, dass dieser findet, „besonders das Geigenspiel“ könne „auf empfindsame Wesen“ einen schädlichen Einfluss ausüben, so ist doch die Präzision seines Kommentars zur Kreutzersonate umso erstaunlicher. Zumal sie zu seinen sonstigen Ideen kaum passt.
„Auf mich wenigstens“, sagt nämlich der Protagonist, „übte das Stück eine entsetzliche Wirkung aus: es war mir, als offenbarten sich mir neue Gefühle, neue Möglichkeiten, von denen ich bisher keine Ahnung hatte.“ „Was dieses Neue war, das ich entdeckte – darüber vermochte ich mir nicht Rechenschaft abzulegen, aber die Erkenntnis dieses neuen Zustandes erfüllte mich mit großer Freude. In diesem neuen Zustand war kein Raum für die Eifersucht. Alle Leute, und unter ihnen auch meine Frau und Truchatschewski“, der Violinspieler, „erschienen mir nun in ganz anderem Lichte. Dieses Tonstück entführte mich in eine andere Welt, in der es keine Eifersucht gab. Diese Eifersucht und das Gefühl, das sie hervorrief, erschienen mir als etwas so Nichtiges, dass es sich gar nicht lohnt, daran zu denken.“
Also dass ihm Eifersucht vor dem Hintergrund der Vision einer anderen Welt als nichtig erscheint, d a r i n liegt die “ e n t s e t z l i c h e Wirkung“, die das Stück auf ihn ausübt. Es soll gesagt werden, dass es mit der Hoffnung auf etwas, das (noch) nicht da ist, die Wachheit der Gegenwartssinne betrügerisch umgarnt. Dann jedenfalls, wenn es zur falschen Zeit und am falschen Ort erklingt. Denn der Protagonist sagt auch: „Solche Stücke darf man nur unter gewissen wichtigen, bedeutsamen Umständen spielen, oder dann, wenn eine diesem Spiel entsprechende Tat vollbracht werden soll. Aber wenn man einen weder zu dem Ort passenden, noch der Zeit entsprechenden Sturm der Gefühle hervorruft, der in nichts zum Vorschein kommt – das kann nur verderblich wirken.“ Er scheut nicht die Verallgemeinerung: „In China steht die Tonkunst unter Staatsaufsicht, und so muss es auch sein.“
Diese Urteile, so sehr sich alles in uns gegen sie empört, decken in der Musik eine Dimension auf, die andere übersehen, und es ist eben die gesellschaftliche, die uns in ihrem Verhältnis zur individuellen interessiert. Musik hat tatsächlich immer eine gesellschaftliche Dimension gehabt und stand d e s h a l b unter Staatsaufsicht, und übrigens nicht nur in China, sondern auch im antiken Griechenland, von dem wir uns selbst herleiten. In Sparta genau genommen: Dort beruft man Musiker „zur Stillung innerer Unruhen“, wie wir bei Jacob Burckhardt lesen. „Der Kreter Thaletas wird schon mit Lykurg“, dem mythischen Reformer des Stadtstaates, „zusammengebracht; seine Gesänge trieben durch Melodie und Rhythmus zu Gehorsam und Eintracht an, sie hatten etwas Würdiges und Beruhigendes.“ „Terpandros […] wurde bei schwerer Unruhe berufen, weil das Orakel gesagt hatte, es würde Versöhnung eintreten, wenn der Methymnäer auf den Saiten spiele, und in der Tat umarmte man sich bald mit Tränen.“ In Sparta „war und blieb [die Musik] auffallend im Vordergrunde des Lebens und hatte ihre sehr ausgezeichnete Stelle auch im Felde und bei Festen.“ „Man wagte, Sparta allegorisch darzustellen als Weib mit einer Lyra.“ Dazu passt dann auch, dass „Aphrodite […] in Sparta gefesselt gebildet [war], als Andeutung der ehelichen Treue“. „Die Musik“, fasst Burckhardt zusammen, „machten sie vor allem unschädlich und dann nützlich“, derart dass sie nichts als „eine Heilkunst“ war. (Griechische Kulturgeschichte Bd. I, München 1977, S. 108 ff.).
In „einigen Staaten“ Griechenlands, so Buckhardt an anderer Stelle, wo er wiederum auf Kreta verweist, hatte auch umgekehrt das Gesellschaftliche eine musikalische Dimension, denn dort „mussten schon die Knaben die Gesetze nach einer Melodie oder Kadenz auswendig lernen […]. Nomos hat ja den Doppelsinn Gesetz und Melodie.“ (S. 80)
Musik ist also insofern i n d i v i d u e l l , als sie jedermanns Gefühle in sehr viele, vielleicht fast beliebige Richtungen lenken kann – „Böse Musik“ heißt eine Ausstellung, die Berlin dieses Jahr bevorsteht -, und ist zur damaligen Zeit insofern g e s e l l s c h a f t l i c h , als der Staat sie von sich aus in b e s t i m m t e Richtungen lenkt. Ist dies zwar in Sparta der Fall, nicht aber in Athen, wird man sich doch erinnern, dass der Athener Platon einen Wunschstaat entworfen hat, der, was Musik angeht, mehr noch dem kretischen als dem spartanischen Modell folgt, indem er dieses durch Hereinnahme von Zwangsmaßnahmen überbietet. All das wirkte traditionsbildend. Im christlichen Abendland sorgte die Kirche seit der Gregorianik für eine Musik, die nur noch Heilkunst sein sollte. Noch im Konzil von Trient, 16. Jahrhundert, suchte sie Musik im Stil Palestrinas gegen die neue, ihren Zielen entgleitende Renaissancemusik in ihrem Einflussbereich zu monopolisieren, und der Komponist selber hatte sich, woran Hans Pfitzners Oper erinnert, als ihr gehorsamer Diener zu sehen.
Zurück zu Beethoven, damit auch zu Brahms. Was ist es, das die Kreutzersonate mehr sein lässt als den puren Aufschrei von Leidenschaft, sicher von Liebe? Man kann jedenfalls auch von ihr sagen, dass sie bei aller zur Schau gestellten Zerrissenheit „etwas Würdiges hat“. Sie ist pathetisch. Das Pathos wirkt nicht aufgesetzt. Eine literarische Veranschaulichung wäre Albano, der Held von Jean Pauls Hauptroman Titan, der eine Frau namens Linda so unbedingt wie nur möglich liebt, ebenso unbedingt aber für die Französische Revolution kämpfen will. Da Linda darin einen Abstrich von der Liebe sieht, will sie es ihm verwehren, daran scheitert die Beziehung. Sie hatte schon die Eheschließung als Entfremdung der Liebe zurückweisen wollen, war da aber noch nachgiebig gewesen. Wir sahen im vorigen Exkurs, dass Jean Pauls Zeitgenosse, der Philosoph Fichte, den er beständig angreift, zwischen Liebe und Ehe schon nicht mehr unterscheiden mochte. Dem Dichter indes ist in der Liebe selber die Verschiedenheit der individuellen und gesellschaftlichen Dimension wichtig. Brecht erzählt Analoges: Ein Mann wird von der Geliebten gehindert, sich einem Schachverein anzuschließen, doch als er auch der kommunistischen Partei nicht beitreten soll, erhält sie den Laufpass.
Bei Beethoven gibt das musikalische Ich viel, doch nicht alles von sich preis. Anders bei Brahms‘ d-moll-Sonate. Von ihr kann man jedenfalls nicht sagen, sie entführe in eine Welt, in der etwas wie Eifersucht als nichtig erscheinen würde. Was für eine Welt sollte das auch sein? Der Kampf gegen Tyrannen, wie in Beethovens Fidelio, steht nicht mehr auf dem Programm. Ist Brahms‘ Musik noch irgend politisch? Zur Reichsgründung 1871 hat er ein Jubelstück geschrieben, das mit Recht der Vergessenheit anheimfiel. Es ist allenfalls dadurch interessant, dass nur Verse der Johannesoffenbarung vertont werden, die Reichsgründung also beim Komponisten apokalyptische Gefühle hervorruft. Wenn wir oben sagten, das Tranzendente sei vormals „gesellschaftlich dingfest gemacht“ gewesen in Institutionen wie der Ehe – aber ja nicht nur dort, das Deutsche Reich selber nannte sich „heilig“ – und die Musik habe eben dies Ineinandergreifen von Gesellschaftlichkeit und Transzendenz gespiegelt, so ließe sich zu Brahms bemerken, bei ihm komme selbst da, wo er ein politisches Ereignis musikalisch kommentiert, das Gesellschaftliche n u r n o c h als Transzendentes vor. Damit steht es schon kurz vor dem Verschwinden.
Wie mit Beethoven könnten wir Brahms auch mit Johann Sebastian Bach vergleichen. Brahms‘ wunderbare Orgelfuge as-moll (ohne Opuszahl) lehnt sich ganz eng an den Contrapunctus 11, a 4 aus Bachs Kunst der Fuge an, aber nur um dies kathedralenmäßige Werk, das die Geschichte der Kreuzigung zu erzählen scheint, völlig zu „privatisieren“.
Lieben Sie Brahms?
Das wirklich Interessante an Brahms ist aber, dass er diese Zurückgeworfenheit des Menschen auf sich selbst im Verhältnis zu einer Gesellschaft, die sich, mit Wagners Wesendonk-Lied zu sprechen, als „öde Leere“ entpuppt, als solche wieder zu reflektieren versucht. Wie man weiß, wollte er ja Beethovens Nachfolger sein. Was ist der Horizont, den seine vier Sinfonien aufreißen? Die erste spielt überdeutlich auf Beethovens Neunte an, „Freude schöner Götterfunken“, nach Freude hört es sich aber nicht mehr an, eher nach Arbeit.
Ganz eigenständig und sehr wichtig im Zusammenhang unsers Themas ist die dritte Sinfonie, zu der es von Francoise Sagan eine treffende Romanfassung gibt. „Lieben Sie Brahms?“, so der Titel, ist auch hervorragend verfilmt worden. Der erste Satz der Sinfonie steht ganz ungewöhnlicherweise im Dreivierteltakt, und auf seinem Höhepunkt begreift man den Grund: Brahms erinnert sich quasi eines rauschenden Wiener Ballsaals, in dem Walzer getanzt wird, also eines g e s e l l s c h a f t l i c h e n Ereignisses. Indessen zieht sich das Walzermotiv im dritten Satz zum Trauermotiv eines einsamen Herzens zusammen. In der Verfilmung wird Brahms ganz passend durch d i e s e s Motiv repräsentiert. Es folgt im vierten Satz unverhüllte Katastrophenmusik.
Von der vierten Sinfonie war Brahms‘ geliebte Freundin Clara Schumann, der er sich oder die sich ihm wohl nie körperlich nahte, schon bei der Uraufführung entsetzt. Hier geht es gar nicht mehr um Liebe, aber hier begreift man, dass es schon bisher nicht primär darum ging, sondern ums Verschwinden des Sozialen überhaupt. Im Thema des ersten Satzes hat ein spöttischer Zeitgenosse die unfreiwillige Vertonung der Wörter „Mir fällt – nichts ein -“ sehen wollen. Das trifft es genau, wenn auch nicht in dem Sinn, dass Brahms‘ Unfähigkeit in ihm zutage getreten wäre. Die vierte Sinfonie ist sicher eine der bedeutendsten tonalen Kompositionen überhaupt. Aber Brahms zeigt, dass solche kein Fundament mehr haben, das heißt kein gesellschaftliches. Nicht ihm, sondern der Gesellschaft fällt nichts mehr ein, was eben der Definition von Nihilismus entspricht. Unter Nihilismus versteht Nietzsche, dass den Menschen die (übergreifenden) Ziele abhanden gekommen sind.
Sehr bezeichnend folgt dem „Mir fällt nichts ein“-Thema eine Phase ritterturniermäßiger Fanfarentöne. Brahms bringt solche „Romantik“ nur, um sich davon zu verabschieden. Er ist kein „Spätromantiker“. Wenn man ihm ein Etikett verpassen will, sollte man ihn einen „poetischen Realisten“ nennen. Der zweite Satz, besonders erschütternd, stellt nur noch das Nicht-von-der-Stelle-kommen dar. Man ist beweglich genug, geschäftig wenn man will, und das könnte ins Unendliche so weiter gehen, aber es passiert buchstäblich überhaupt nichts. Der dritte Satz bringt noch einmal Fanfarenklänge, in denen man übrigens vielleicht eine Entsprechung (wenn auch keinerlei Ähnlichkeit) zu den Fanfaren sehen kann, die in Wagners Tristan-Drama, erster Aufzug, die „Welt“ bedeuten, aus der die Liebenden ins Reich der Nacht fliehen. Brahms wischt sie noch brutaler als Wagner vom Tisch, indem er sie am Beginn des vierten Satzes auf eine ganz andere Fanfare reduziert, die nun ohne jedes schmückende Beiwerk in gleichmäßigen Schritten, zugleich gemessen und in kürzester Zeit, nach oben schreitet, und oben ist S c h l u s s , Ende der Fahnenstange. Das ist kein Ritterspiel mehr, sondern das Weltende, wie Brahms es schon im Deutschen Requiem (anders) vertont, da aber mit dem Text von Paulus unterlegt hatte: „und dasselbige plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune“.
Zur besseren Verortung führe ich noch die d-moll-Sinfonie des Belgiers César Franck an. Sie ist wohl eine der eindrücklichsten, die es gibt, man kann aber, wenn man sich in der hier skizzierten Fragestellung bewegt, nur irritiert sein über ihre hemmungslose Privatheit. Sie entspricht dem Genre nicht mehr. Diese groß angelegte Sinfonie nimmt es einerseits an Pathos mit Beethovenschen Trauermärschen wie dem aus der Eroica auf, andererseits hat man das Gefühl, sie handle nur noch von Liebeskummer. Tatsächlich ist sie einem Schüler des Komponisten gewidmet, betrauert dessen Nervenlähmung, die eine vielversprechende Karriere unmöglich machte. Der langsame zweite Satz mit seinen in Harfenklang eingewickelten Zweitonfolgen erinnert wohl nicht zufällig an den langsamen zweiten Satz des Deutschen Requiems von Brahms. Ja, eine Nervenlähmung ist ein tragisches Schicksal. Aber davon handelt nun eine Sinfonie. Beethoven wollte seine Dritte Napoleon widmen, noch Anton Bruckner, der große Unzeitgemäße, widmet seine Neunte „dem lieben Gott“. Bei Franck sind vom Gesellschaftlichen nur die Sinfonieform und eine vage Anspielung auf den Totensonntag geblieben.
Das Verschwinden in der Wand
Wie unter vielen Gesichtspunkten bekannt, beginnt mit Arnold Schönberg ein neues Entwicklungsstadium. Es beginnt auch in dem, was uns hier beschäftigt. Schon die völlig tonalen Gurrelieder distanzieren sich krass von der Eingeschlossenheit in die Liebesparanoia, von der Schönberg selbst als Person nur allzu gut wusste. Sie haben zwei Teile, und wahrscheinlich geht es nicht nur mir so, dass ich meist nur den hinreißenden ersten Teil anhöre, in dem die Geliebte stirbt. Der zweite Teil aber, beginnend zwar mit Verzweiflung, Wut und Gottanklage des Liebenden, stellt das Traurige als Erlebnis der Nacht dar – wie auch Tristan und Isolde sich nachts treffen -, worauf herrlich der neue Sonnenaufgang folgt. Optimistisch zwar sind die Werke Schönbergs nicht geblieben, dazu hatte er keinerlei Grund, doch der Perspektivwechsel, den die Gurrelieder vollziehen, stellt sich im Nachhinein als Weichenstellung dar. Nachdem wir uns nämlich zunächst mit dem Liebenden in der Geliebten spiegeln, sind wir auf einmal mit dem Wispern einer ungeheuer vielfachen Natur konfrontiert, und zuletzt wird die Liebesklage nichtig vor dem Sonnenlärm.
Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Konzeption der ersten Szene von Faust II ist unverkennbar. Nur dass unklar bleibt, ob der neue Tag noch Individuen duldet, die nun einmal zur Liebe neigen. Ist nur die Klage des Geliebten nichtig oder verschwindet er selbst in der Wand des Allgemeinen? Wie Jahrzehnte später das Ich des Romans Malina? (Das Verschwinden in der Wand. Destruktive Moderne und Widerspruch eines weiblichen Ich in Ingeborg Bachmanns „Malina“ ist der Titel einer Studie von Gudrun Kohn-Waechter, Stuttgart 1992.) Hieran ist für die nachfolgende Entwicklung nicht nur Schönbergs, sondern auch anderer Komponisten nur untypisch, dass die Seite des Allgemeinen als Natur gefasst wird statt religiös und damit gesellschaftlich. Denn schon bevor die Gurrelieder zuendekomponiert sind, hat Strawinsky den Frühling durch ein Menschenopfer hervorrufen lassen. Le Sacre du Printemps: Im Bild geht es auch hier um Natur, doch wird man sich, wenn man das sieht und der Zeit der Uraufführung sich erinnert – 1913, Vorabend des Ersten Weltkriegs -, vor allem der mythischen Tradition erinnern, nach der es, um eine neue Stadt zu bauen, des Gründungsmords bedurfte.
Während Strawinsky das Geschehen nur kommentarlos spiegelt, stellt Schönberg es in der Oper Moses und Aron hilflos kritisch dar, 1930, als schon die Naziherrschaft vor der Tür steht. Der rituelle Tanz, der im Selbstopfer fürs Allgemeine mündet, kommt hier wie bei Strawinsky vor. Er erscheint deutlich als böse. Aber wenn dann dem bösen Allgemeinen – Religiösen, Gesellschaftlichen – in Gestalt des mosaischen Gottes und der Gesetzestafeln ein gutes konfrontiert wird, erweisen diese sich als ohnmächtig. Sie sind zu abstrakt, um mit der Sinnlichkeit des Tanzes „ums Goldene Kalb“ ins Verhältnis treten zu können, außer selbst wieder in das des Vernichtens.
Nicht zu verkennen, dass mit dem „Goldenen Kalb“ ganz buchstäblich d a s G e l d gemeint oder mitgemeint sein muss. Als hätte Schönberg komponierend herausgefunden, dass ein Geld, welches in purer Individuiertheit dem Gesellschaftlichen nur noch den Rang einer Nahrung zuerkennt, die es aufzufressen bereit und gezwungen ist, zuletzt selber zwangsläufig eine neue Gesellschaft hervorruft, die nun ihrerseits das Individuelle frisst und damit auslöscht. Dies aber kann auch ohne Rückgriff auf ältere Mythen dargestellt werden, wie Schönbergs Schüler Alban Berg mit seiner Oper Lulu zeigt. Hier nun ist das Geld, als Medium der Prostitution, ganz nackt auf die Bühne gebracht, erhält sogar eine eigene Musik – ragt tonal aus atonalem Umfeld heraus -, und wenn dies Spiel wieder aufs Menschenopfer hinausläuft, Lulus Ermordung, kann doch niemand mehr glauben, es sei die Natur oder ein Gott, denen man schon vor der Zeit seinen Atem zurückgeben müsse. Was einen auslöscht, ist die Gesellschaft des Geldes.
Wenn wir einen Schritt zurücktreten, müssen wir konstatieren, dass sich bis hierher an der Implosion des Individuellen und Gesellschaftlichen als solcher noch gar nichts geändert hat, nur dass sie auf den Kopf gestellt wurde, oder wenn man will auf die Füße. Jetzt verschwindet eben das Individuelle im Gesellschaftlichen statt umgekehrt.
Die neue Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Schule der „seriellen“ Musik anhebt, stellt noch einmal einen wirklichen Fortschritt dar, im „musikalischen Material“ sowieso, aber auch geistig. Eine Generation tritt auf – Boulez, Stockhausen -, die sich von vornherein nur noch im Utopischen bewegt, das sie ohne Bezugnahme auf Wiedererkennbares abstrakt „konstruiert“, wie das Schlüsselwort von Adornos ihr geltender ästhetischen Theorie lautet. Es ist, als bliebe aus Schönbergs Oper nur der Gott der Gesetzestafeln übrig. Dies näher auszuführen, kann ich mir hier nicht zur Aufgabe machen. In unserm Zusammenhang mag die Feststellung erhellend genug sein, dass von nun an die Musik selber zu einem für sich dastehenden Gesellschaftlichen wird; dessen Verschieden- und Getrenntsein vom Individuellen sich daran schon zeigt, dass die Individuen mit ihr nichts anfangen können, so wenig wie die Tänzer ums Kalb mit Mose. Immer noch eine Hilflosigkeit der musikalischen Kritik? Wenigstens bedeutet es auch, dass sich Musik als das Versprechen, es könne etwas wie Gegenmacht geben, sichtbar auf Dauer positioniert hat.
Sergeant Pepper
Mehr als das kann wohl nur gelingen, wenn zunächst auch a u ß e r m u s i k a l i s c h eine neue und zwar revolutionäre Entwicklung eintritt. So war Beethoven nicht denkbar ohne die Französische Revolution. Der ganz exzeptionelle Charakter seiner Musik tritt gerade unter dem Gesichtspunkt hervor, der meiner Betrachtung zugrunde liegt. Denn wo wäre vor oder nach ihm diese Unterscheidbarkeit, Verträglich- und Gleichwichtigkeit der individuellen und gesellschaftlichen musikalischen Impulse in ein und demselben Werk je erreicht worden? Bei Mozart allenfalls, Beethoven geht aber viel weiter als er. Er stellt mehr Leidenschaft zur Schau und behält doch jene Würde, die Tolstoi sogar der Kreutzersonate zusprechen muss. In Würde ist Anstand enthalten. Der Anstand liegt darin, dass distanziertes Zuhören von der Musik selber ermöglicht wird. Sie signalisiert, dass ihr bewusst ist, auf der Welt nicht allein zu sein. Die Freiheit ihres Vortrags der Leidenschaft steht hörbar unter dem Vorbehalt, dass sie sich hütet, in die Freiheit anderer einzugreifen. Sie drängt sich nicht auf, schon gar nicht versucht sie zur Identifikation mit sich zu nötigen. Denn ihr Individuelles sieht sich als bloßes Teil einer freien Gesamtheit. Darin besteht ja gerade das politische Programm.
Es scheint auf den ersten Blick müßig, Vergleichbares in unserer Zeit finden zu wollen, doch dem ist nicht so. Ich habe davon gesprochen, dass die „konstruierte“ Musik nach dem Zweiten Weltkrieg den Unterschied des Individuellen und Gesellschaftlichen genauso einebnet, nur nach der andern Seite hin, wie die „romantische“ des 19. Jahrhunderts. Verschwand in Wagners Tristan die „Welt“, so wird bei Boulez das Individuum fast unsichtbar. (Immerhin in verschlüsselten symbolistischen Texten, unter Decknamen wie „Hammer ohne Herr“, Schwan im Eis wird es noch evoziert.) Denken wir aber einmal an die mehr oder weniger friedliche Koexistenz, in der sich „U-Musik“ und „E-Musik“ seit nun schon langer Zeit eingerichtet haben. „U“ für Unterhaltung, „E“ für Ernst: Die Begriffe sind völlig unbrauchbar, aber wie soll man es sonst nennen? Es wäre tatsächlich nicht absurd, stattdessen von der einen Musik zu sprechen, deren „Ernst“ darin besteht, dass sie nur gesellschaftlich ist, und der andern, die dadurch unterhält, dass sie sich nur ans Individuum adressiert, wie es der Schlager tut. Nicht nur Tristan und Isolde blenden die „Welt“ aus, sondern auch die Tanzenden in der Disco. Der Unterschied von U- und E-Musik, um bei den eingebürgerten Wörtern zu bleiben, fällt auch deshalb so ins Gewicht, weil die eine tonal geblieben, die andere atonal geworden ist. Darin zumindest ist unsere musikalische Situation mit keiner Verschiedenheit von „Volks-“ und „hoher Musik“ vergleichbar, die es auch früher gegeben hat.
Ich führe das an, um den Kreis zu erweitern, in dem wir nach einer Analogie zu Beethovens musikalischem Konzept in unserer Zeit suchen können. Ich habe an Beethovens Beziehung zur Französischen Revolution erinnert: Gab es auch in der Zeit um 1968 eine Musik, die aus dem Gefängnis bloßer Vergesellschaftung oder bloßen individuellen Selbstbezugs hat ausbrechen können? Was die „E-Musik“ angeht, scheint es mir nicht so, ich überblicke sie aber nicht. Das Phänomen kann aber auch in der „U-Musik“ aufgetreten sein. Und so verhält es sich. Der Schlager, vormals im „brennend heißen Wüstensand“ der Sehnsucht sich erschöpfend, greift plötzlich nach der gesellschaftlichen Dimension. In welcher Vielfalt das bei verschiedensten Beat-Gruppen geschah, deren Namen bis heute nicht vergessen sind, kann hier nicht dargestellt werden. Ich will aber daran erinnern, dass ihre Songs, es ist nicht zu pathetisch gesagt, zentraler Bestandteil des Lebens der damals politisch Aktiven waren. Nur eine Gruppe greife ich heraus, deren Musik „klassisch“ genannt werden kann, die Beatles. Schon eine Äußerlichkeit war bezeichnend, sie hat mich damals hellhörig gemacht: dass im Schlager Penny Lane ein barockes Trompetenmotiv erklingt.
Im Song Eleanor Rigby singen sie: „All the lonely people, where do they all come from?“ Das war revolutionär. Das typische Thema des Schlagers, Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe, wird auf einmal (1966) als Rätsel ausgesprochen. Wenig später (1967) singen sie: „We ‚re Sergeant Pepper’s lonely heards club band!“ Begeistertes Geschrei der heards, die zuhören, wird eingeblendet, und es hören viele zu, und mit der Einsamkeit ist es vorbei. Nicht weil sie nur überhaupt zusammen zuhören. Sondern weil man aufhört, isoliert zu sein, wenn Einsamkeit zum Thema erhoben wird. Man schämt sich nicht mehr! Der wilde Mut der Vertonung gibt Kraft. Auf derselben Platte ist zuletzt der Song „A day in the life“ eingespielt, der die Tagesnachrichten belustigt rekapituliert – „The English Army had just won the war“ – und sich davon abwendet: „Someboy spoke and I went into a dream“. Denn es ist ein Tag in m e i n e m Leben. Die Musik zum dream lässt an einen LSD-Rausch denken, man darf aber auch eine Anspielung auf Ligetis clustermäßige „E-Musik“ darin sehen. Ligeti, welch Zusammentreffen, sollte nur ein Jahr später weithin bekannt werden, weil er ausführlich zitiert wird in Stanley Kubriks Film 2001 – Odyssee im Weltraum (1968).
So weit sind wir schon einmal gewesen.
*
In der nächsten Notiz fasse ich die Ergebnisse des bisherigen Verlaufs der ganzen Blogreihe zusammen oder beginne mit dieser Zusammenfassung. Auf dieser Basis folgt dann die Hauptsache, der Schlussteil über allgemeine ökonomische Wahlen in der Anderen Gesellschaft.