Mein Plädoyer für Proportionswahlen, so schrieb ich in der vorigen Notiz, „läuft auf einen neu erschlossenen direktdemokratischen Bereich hinaus, der selbst wieder begrenzt ist“ und zwar auf die Fragen der ökonomischen Konsumtion, worin dann auch die Produktions- und letztlich überhaupt alle ökonomischen Fragen impliziert sind. (Ich will also nicht etwa zeigen, dass direkte Demokratie „in Allem“ geboten sei, wofür das Ökonomische nur mein erstes Beispiel wäre.) „Die Grenzen sind aber doch so weit gezogen, dass a l l e ökonomischen Proportionen gewählt werden können. Was das bedeutet, ist Gegenstand des zweiten Kapitels. In ihm gehe ich noch einmal – wie schon oben im Kapitel über die Vergesellschafteten Unternehmen – von Ota Sik aus, dem Reformer im ‚Prager Frühling‘ 1968. Mit der Frage, ob er gut beraten ist, nicht alle, sondern nur e i n i g e Proportionen zur Wahl zu stellen, steige ich dort ein.“
Das soll jetzt geschehen. Siks Vorstellung von ökonomischer Planung hört sich so an: „Berechnung unterschiedlicher Alternativen […], die Zusammenstellung dieser Alternativen aufgrund von unterschiedlichen Vorstellungen verschiedener Interessengruppen, die Erwägung gar von unterschiedlichen Proportionen zwischen der gesamten individuellen und der gesamten gesellschaftlichen Konsumtion, und schließlich noch die Vorlage von einigen Planalternativen zur demokratischen Entscheidung der Bevölkerung“ (Humane Wirtschaftsdemokratie. Ein Dritter Weg, Hamburg 1979, S. 464). Unterstreichen möchte ich die Wendung „unterschiedliche Proportionen zwischen individueller und gesellschaftlicher Konsumtion“, denn das ist der Kern der Aussage. Von Sik zwar übervorsichtig eingeführt („die Erwägung gar“), stellt sich doch bald heraus, dass ihm nur genau diese eine Proportion, das heißt ihre unterschiedlichen Ausführungen, als Gegenstand der „demokratischen Entscheidung“ vorschwebt. Denn es heißt wenig später:
„Die Gesamtkonsumtion wäre aufgeteilt auf zwei Hauptgruppen: die Privatkonsumtion (C) und gesellschaftliche Konsumtion (D). Die Privatkonsumtion (C) würde als Zielgröße nicht mehr weiter desaggregiert werden; eine angenommene Untergliederung der Privatkonsumtion hätte nur den Charakter unverbindlicher Prognosen für die Planungsorgane. Hingegen würde die Untergliederung der gesellschaftlichen Konsumtion nach angeführten Subkommissionen (D1, 2, 3 … etc …), also das Wachstumstempo und der Anteil einzelner Sparten der gesellschaftlichen Konsumtion den Charakter von Zielgrößen haben. Die gegliederte quantifizierte Konsumtionsentwicklung bildet den Kern der Lebensqualitätspläne, die in der Form qualitativ fixierter Aufgaben einen breiteren Charakter hätten.“ (S. 495 f.)
Unter „gesellschaftlichen Konsum“ fallen für Sik die ökologisch relevanten Produktszenarien: „Vorschläge für das Tempo […] der schnelleren oder langsameren Lösung anwachsender Transport- und Agglomerationsprobleme, des Übergangs zu unterschiedlichen neuen Energieressourcen“, „dringend nötige Städtesanierungen, ruhigere und gesündere Wohnungsverhältnisse, Überwindung von Verkehrschaos in Spitzenzeiten“ (S. 468). Die Proportionswahl auf solche Dinge zu focussieren, scheint auf den ersten Blick vernünftig. Denn wo die Gesellschaft ein Interesse haben kann, eine Frage mit gesellschaftlicher Mehrheit zu beantworten, wird es sich um eine gesellschaftliche Frage handeln. Das ist schon tautologisch wahr, zeigt sich aber auch an dem, worüber tatsächlich gestritten wird. Die Gesellschaft mit Mehrheit entscheiden zu lassen, wieviel Opel es im Verhältnis zu wieviel VW geben soll, steht ja nicht zur Debatte, denn das ist eine Frage des individuellen Konsums. Nur an der Entscheidung über Dinge, von denen die ganze Gesellschaft in Mitleidenschaft gezogen wird – und erst auf diesem Umweg der individuelle Konsum -, kann gesellschaftliches Interesse bestehen.
Unübersehbar ist, dass Sik sich bei seiner Herangehensweise in gewissen Traditionsbahnen bewegt. Er selbst würde das nicht nur einräumen, sondern sich deshalb bestärkt fühlen. Da ist zum einen die sozialistische Tradition der „Verstaatlichung von Schlüsselindustrien“, hinter der natürlich die Vorstellung steht, Dinge von übergreifend gesellschaftlicher Relevanz gehörten in gesellschaftliche Hand. Sie schlägt sich ja noch im Programm der Linkspartei nieder, und man muss auch sagen, dass Sahra Wagenknecht in ihrem jüngsten Buch die Erfolge der Verstaatlichungspolitik, etwa der Labourpartei in England nach dem Zweiten Weltkrieg, durchaus überzeugend dargelegt hat (siehe das Kapitel „Staatliche Industrieunternehmen – Erfahrungen und Legenden“ in: Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt/Main 2011). Sik ist der Tradition insofern überlegen, als er, was sie dem Staat überantwortete, in die Hände der Gesellschaft legen will. Und auch die Bestimmung dessen, was für gesellschaftlich relevant erachtet wird, gelingt ihm besser. Da zeigt er, dass es nicht nur um bestimmte Güter geht, und seien es alle Investitionsgüter, sondern auch um Szenarien und „Agglomerationsprobleme“, um „Städtesanierung“ zum Beispiel. Indessen bleibt er der Tradition in einem entscheidenden Punkt verhaftet: Es ist so, dass sei’s der Staat bei Labour, sei’s bei ihm die Gesellschaft n u r ü b e r e i n e n T e i l b e r e i c h der Ökonomie entscheidet, den eben, der für gesellschaftlich relevant gehalten wird und es sicher auch ist.
Und dies trifft nun glücklich damit zusammen, dass Sik auch in der Tradition der Wachstumsökonomie steht. „Unterschiedliche Ziele“, schreibt er, „würden entsprechend differenzierte Wachstumsraten verlangen“. Bei „unterschiedliche[n] Planalternativen“ handelt es sich „vor allem um unterschiedliche Vorschläge für das Tempo des privaten oder gesellschaftlichen Konsumwachstums“. (ebd.) Das besagt, wenn „die Überwindung von Verkehrschaos“ gewählt wird, sorgt man fürs Wachstum der damit befassten Industrien, lässt aber alles andere auch wachsen. Denn die Investitionsfreiheit der Unternehmen, die für den „individuellen Konsum“ arbeiten, soll in keiner Weise angetastet werden. Bei einer gesellschaftlichen Wahl wird also nicht einerseits die Wachstumsrate des gesellschaftlichen, andererseits und im Verhältnis dazu die des individuellen Konsums gewählt, sondern nur verschiedene Wachstumsraten des gesellschaftlichen Konsums stehen zur Debatte. So kann zum Beispiel gewählt werden, der städtische Öffentliche Nahverkehr solle nicht nur stark, sondern sehr stark wachsen. Man lässt dann eine Menge neuer Omnibusse bauen und macht ihnen auf den Straßen den Weg frei, indem der motorisierte Privatverkehr auf wenig Raum, vielleicht eine einzige Fahrbahn beschränkt wird. Wie viele Autos aber montiert und verkauft werden, bleibt Sache der Privatunternehmer und des „individuellen Konsums“ der Käufer.
Ich würde Sik nicht einmal vorwerfen, dass er hier in kapitalistischem Denken gefangen bleibe. Wachstumszwang definiert zwar das Kapital, aber deshalb muss nicht jedes Wachstum, das gefordert oder toleriert wird, zwanghaft sprich kapitalistisch sein. Die Kritik am Wachstumszwang ist Sik in der Version von Keynes sehr wohl bekannt. Er kritisiert sie seinerseits, indem er darauf hinweist, dass noch Vieles wachsen muss, bevor man sagen kann, d i e A r m u t sei besiegt. Vor dem Hintergrund seiner realsozialistischen Herkunft ist das verständlich. Dennoch, oder gerade deshalb, bewegt sich sein Denken in einer Welt von gestern. Denn bei den Produkten, die heute gesellschaftlich umstritten sind, geht es nicht um Dinge, die uns reicher machen, wenn wir sie haben, und ärmer, wenn wir sie nicht haben. Wenn wir zum Beispiel weniger Autos haben, sind wir nicht ärmer, und wenn mehr genetisch manipulierte Lebensmittel, nicht reicher. Das Wachstum in solchen Bereichen muss überhaupt nicht sein. Sie fallen aber in Siks Version von Proportionswahlen unter „individuellen Konsum“, was zur Folge hat, dass es nicht Sache der Gesellschaft ist, über sie zu entscheiden. Gesellschaftliche Organe „prognostizieren“ ihr Wachstum zwar, „untergliedern“ es aber nicht weiter in Ziele, die mehr oder weniger erwünscht sind.
Das ist das Problem. Man kann eine solche Vorstellung nicht kohärent nennen. Wenn es viel mehr Omnibusse gibt, weil das gesellschaftlich so gewählt wurde, aber auch viel mehr Privatautos nach dem Willen und infolge der Angebotsmacht der Privatunternehmer, dann wird es nötig werden, die Entscheidung über die Fahrbahnen-Aufteilung zu revidieren. So viele Privatautos sind gekauft worden, aber doch nicht, damit sie nur im Stau stehen. Niemand hat den Kauf problematisiert, also kann sich jetzt der Staat, oder die Gesellschaft, nicht auf den Standpunkt stellen, der Stau sei das Privatproblem der Käufer. Nein, er muss zu dessen Auflösung beitragen und gibt Fahrbahnen wieder her, die er entzogen hatte. Wir sehen daran, und sehen es zuerst ganz äußerlich, dass der „individuelle Konsum“ zum Beispiel von Autos nicht das Gegenteil „gesellschaftlichem Konsums“, sondern selbst ein solcher ist. Wenn nämlich nur so viel Autos produziert und verkauft würden, wie mit den wenigen Fahrbahnen ohne Stau verträglich sind, die nach dem Willen der Gesellschaft für sie freigelassen wurden, während es daneben mehr Omnibusse gibt als früher und Fahrbahnen genug, sie aufzunehmen, dann werden nicht nur die Omnibusse, sondern auch die Autos gesellschaftlich konsumiert.
Wir sehen dasselbe auch begrifflich. Individuum und Gesellschaft sind nicht getrennt. Wenn es etwas wie Gesellschaft gibt, dann nur in und zwischen den Individuen. Dann kann aber auch ihr gesellschaftlicher Konsum nur etwas sein, das sich individuell realisiert. Und so verhält es sich. Gesellschaftlicher Konsum heißt, dass I n d i v i d u e n Bus fahren statt Privatautos besteigen. Gesellschaftlich ist ihr Motiv: Sie tun es, um die gesellschaftliche Schadstoffbilanz zu verbessern (weniger CO2-Ausstoß bei weniger Privatautoverkehr). Aber dann ist es auch ein Fall gesellschaftlichen Konsums, wenn eine Familie von drei Autos, die sie hat, zwei abschafft und sich das verbleibende teilt. Obwohl es da nur um Autos geht, konsumiert sie nicht bloß individuell. Wir sehen also, die Proportion „individueller versus gesellschaftlicher Konsum“ muss zurückgerufen werden. Und mit ihr die Erlaubnis, Privatunternehmer könnten n e b e n dem, was die Gesellschaft „gesellschaftlich konsumieren“ will, ihrerseits noch alles hinzutun, was sie nur immer produzieren wollen, und sei’s das Unendliche.
Wenn wir davon ausgehen, dass individueller und gesellschaftlicher Konsum erst einmal d a s s e l b e s i n d und nur sekundär, als zwei Akzente, einen Unterschied machen, dann stellt sich die Sache so dar: Die Entscheidung über den gesellschaftlichen Konsum ist keine über den Öffentlichen Verkehr, als stünde der private auf einem anderen Blatt, sondern ist Entscheidung ü b e r d a s V e r h ä l t n i s des Öffentlichen zum privaten Verkehr. Die Wahl, von der die Rede ist, ist deshalb g e s e l l s c h a f t l i c h , weil sie über die Proportion zwischen zwei oder mehr Arten i n d i v i d u e l l e n Konsums entscheidet. Es geht um die Frage, ob d i e I n d i v i d u e n sich mehr mit Privatautos oder mehr mit Bussen und Bahnen fortbewegen wollen, abhängig davon, wie wichtig ihnen die ökologischen Existenzbedingungen der Gesellschaft sind, die sie bilden.
Man sieht hier auch schon, obwohl das im Moment nicht thematisiert werden soll, dass die Produktion von mehr Bussen infolge einer gesellschaftlichen Wahl auch dann, wenn sie von P r i v a t u n t e r n e h m e r n ausgeführt wird, die sich aber ans Wahlergebnis halten, Produktion für den g e s e l l s c h a f t l i c h e n Konsum ist. Wie umgekehrt dasselbe für die Produktion von Privatautos gilt, wenn Privatunternehmer in den Grenzen des Wahlergebnisses produzieren. In diesen Kontext gehört es, dass ich in einer früheren Notiz Unternehmen „vergesellschaftet“ genannt habe, die sich den Grenzen nicht nur fügen, sondern es als i h r e A u f g a b e ansehen, sie allererst zu errichten und im Produktionsalltag funktionsfähig zu machen. Solche ökonomischen Kräfte werden nach jeder Wahl gebraucht, die am Proportionsgefüge etwas ändert.
Wir scheinen nun überhaupt alles, was es an ökonomischen Proportionen gibt, zum Gegenstand der gesellschaftlichen Wahl, der „Proportionswahl“ erklärt zu haben. Das wäre aber nicht sinnvoll und ist nicht wirklich der Schluss aus den bisherigen Überlegungen. Nein, nur m ö g l i c h muss es sein, dass die Gesellschaft jede Proportion „an sich zieht“, deren gesellschaftliche Relevanz sie entdeckt. So entspricht es auch der Erfahrung. In wenigen Jahrzehnten wurde erkannt: die Problematik der Atomkraft, von der man geglaubt hatte, sie könne „friedlich genutzt“ werden; des FCKW, das bei der Produktion von Kühlschränken zum Einsatz gekommen war; der Glühbirne, die nicht nur leuchtete, sondern auch heizte – man beachte wohl, das sind e i n z e l n e P r o d u k t e , die nur dem individuellen Konsum zu dienen schienen, hier aber ihre gesellschaftliche Seite zeigten -; überhaupt aller Produktion und Konsumtion, bei der große CO2-Mengen frei werden, wie der Kohle, und so weiter.
Da wir noch nicht in der Anderen Gesellschaft leben, spielte es sich Mal für Mal so ab, dass man erst warten musste, bis d e r S t a a t die gesellschaftliche Relevanz der betreffenden Frage erkannte. So wurde in Deutschland die Atomkraft staatlich verneint, nachdem das jahrzehntelang von einer großen gesellschaftlichen Mehrheit gefordert worden war. Japan scheint noch Katastrophen zu brauchen, bis es zur staatlichen Umkehr kommen kann. Eine war nicht genug. Doch schon im Korsett solcher Verhältnisse kann gesagt werden, dass ökonomische Fragen aufhörten, Fragen des bloß individuellen Konsums zu sein. Dass sie a l s Fragen v e r g e s e l l s c h a f t e t worden sind. Das und nichts Anderes ist es, wodurch dann auch die Proportionswahl sich ausweisen wird, eine gesellschaftliche Wahl zu sein.
Mit dieser Feststellung kläre ich ein Problem, das ich bisher hatte. Ich schwankte dazwischen, ob „Produktlinien“, „Produktklassen“ oder auch in manchen Fällen einzelne Produkte zur Wahl gestellt werden würden. Das kommt darauf an, ist die Antwort. Je nachdem, was der Gesellschaft problematisch wird, macht sie eine Produktklasse oder auch ein einzelnes Produkt zum Wahlgegenstand. Nachdem sie es getan hat, werden die Wahlalternativen ausgearbeitet. Jetzt erst, wo man k o n k r e t begonnen hat, wird nämlich gerechnet. Wird errechnet, welche Folgen die Veränderung einzelner Proportionen – derjenigen, die problematisiert worden sind – für alle Proportionen hat. Wie es um die Kohärenz der ganzen Volkswirtschaft bestellt ist, wenn sie teilweise verändert werden soll.
Darum geht es. Keineswegs stellt sich die Frage, was es denn so für Branchen gibt und ob wir besser getan hätten, ihr Verhältnis zueinander bewusst und nach allseitigem Plan schon einzuführen.
Die Klärung der Kohärenzfrage schließt immer auch ein, dass die Stellung der sich ändernden Volkswirtschaft auf dem Weltmarkt neu problematisiert werden muss. Dies sei für später auf den Merkzettel geschrieben. Wenn zum Beispiel Deutschland der Raum von Proportionswahlen wäre – wir haben allerdings die EU dafür vorgesehen, in Deutschland könnte es nur unvollkommene, vielleicht vorbildliche Anfänge geben -, dann würde gewiss die Frage vergesellschaftet, ob nicht die Autoproduktion drastisch zurückgefahren werden sollte. Aber wäre das nicht ein Weg, den deutschen Exporterfolg an der empfindlichsten Stelle zu treffen? Müssten wir für den demokratischen Fortschritt der Proportionswahl den Preis zahlen, dass das Land verarmt? Oder würde in ihr, weil die Wähler nicht verarmen wollen, die Autolobby gewinnen? Wir werden sehen.