Wenn man daran denkt, dass das Land von vielen revolutionären Gruppen überzogen sein wird, meldet sich die historische Erinnerung an „Räte“, in russischer Übersetzung „Sowjets“. Sind unsere Gruppen „Räte“? Dabei ist zu unterscheiden: Sie spielen traditionell in den drei bezeichneten Phasen einer Revolution verschiedene Rollen. Bedeutung erlangten sie als Erscheinung der zweiten Phase, wo es um den revolutionären Machtwechsel geht. In der dritten stellte sich dann die Frage, ob sie in Form eines „Rätesystems“ zur politischen Verfassung gemacht werden sollten und würden, was 1917/18 weder in Deutschland noch in Russland geschah, obwohl man in Russland den Namen beibehielt. In der Perspektive meines Modells bleibt die Frage der Räte mehr oder weniger offen. Hier wird ja lediglich vorgeschlagen, das vorhandene parlamentarische System durch ökonomische Wahlen zu ergänzen, was das Ende des Kapitals und seiner Logik zur Folge hätte und in den Parlamenten selber das Ende des kapitalistischen Zwei-Parteienlager-Systems. Weitere denkbare Reformen des politischen System erörtere ich nicht, weil ich mich ganz auf die Abschaffung des vorhandenen Grundübels, das ist die Kapitallogik, konzentriere. Nur so viel sei gesagt, ein System allgemeiner politischer Wahlen, und das ist der Parlamentarismus, muss und wird es in meinen Augen neben den ökonomischen Wahlen weiterhin geben. Denn ohne allgemeine Wahlen gibt es keine Demokratie. Ob und wie der Parlamentarismus durch ein Rätesystem ergänzt werden könnte, bleibt zu diskutieren. Ich selbst könnte mir eines vorstellen, das als eine Art Kommunentag zusammentritt. Denn unsere revolutionären Gruppen werden jeweils in einem Wohnumfeld aktiv sein. Gegenstand ihrer Aktivität ist zwar die Gesamtpolitik, aber dazu gehört die kommunale Verwaltung als nächstliegender Bezug.
Die Räte der Tradition waren Vertreter von Betriebsbelegschaften. Solche sind in meinem Modell als Organ der ökonomischen Wahlen vorgesehen: Liegt das Wahlergebnis vor, tritt ein Ökonomischer Rat zusammen, um sich über dessen Umsetzung zu beraten. Da er von den vormaligen Aktiengesellschaften, die in der Anderen Gesellschaft in „Mitarbeitergesellschaften“ (Ota Sik) umgewandelt sind, dominiert sein wird, ist er ganz überwiegend ein „Arbeiterrat“. Es ist aber klar, dass er weder entscheidet, was produziert wird, noch in die Angelegenheiten der Parlamente hineinredet. Aber auch zum Organ des revolutionären Machtwechsels scheint er mir nicht zu taugen. Die Revolution soll ja keine “Diktatur des Proletariats“ in dem Sinn herbeiführen, dass hinterher die Arbeiterklasse als ein Teil der Bevölkerung über andere Teile regiert. Wenn Betriebsgruppen für die Revolution eintreten, kann das im Rahmen der vorhandenen Gewerkschaften geschehen. Der erste Versuch soll aber immer sein, interklassistische Gruppen im Wohnumfeld zu bilden.
Ich plädiere also nicht für die tradierte Einheit von ökonomischer und politischer Arbeit, die den Rätebegriff bisher eigentlich ausgemacht hat. Selbst noch in Rudolf Bahros Landkommunen wurde sie angestrebt; wenn sein Experiment Erfolg gehabt hätte, viele Landkommunen entstanden und geblieben wären, man hätte sie wohl in Form einer Räteversammlung verknüpft. Bahros Gedanke war, durchs Beispiel zu wirken. Auch die Gruppen für die Andere Gesellschaft geben ein Beispiel, aber ein etwas anderes: Hier geht es um den Erwerb und die Weitergabe von Einsichten sowie um gelungene Geselligkeit, zu der sie sich selbst erst erziehen müssen. Zu den Einsichten gehört, dass Geselligkeit außerhalb der Arbeit, als neue Keimzelle des Politischen, so wenig wie die unmittelbare Kooperation i n der Arbeit ein Modell dafür sein, wie eine ganze sei’s auch befreite Gesellschaft funktioniert. Die wird immer auch „systemisch“ bleiben und Züge von Entfremdung tragen; wir setzen nur durch, dass das Systemische beherrscht wird, indem man es durch ökonomische Wahlen komplettiert und verändert. Diese Wahlen werden bestimmt nicht Gesellschaft in Gemeinschaft auflösen, sie machen es aber möglich, dass Geselligkeit z u r G r u n d l a g e des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird. Denn sie wird dann nicht mehr kapitallogisch durch den heute alles penetrierenden Marktradikalismus zersetzt.
Freilich muss auch im Systemischen selber eine andere Vernunft zum Zuge kommen, nicht mehr die kalte des homo oeconomicus, wie er definiert zu werden pflegt, sondern eine leidempfindliche und solidarische. Wir haben bei der Erörterung von Seiten der Anderen Gesellschaft gesehen, wie das geschehen kann, durch eine entschärfte Marktkonkurrenz etwa oder durch eine Form der Kreditierung, die keinen blinden Automatismus der Schuldenrückzahlung mehr einschließt. Den letztgenannten Gedanken finde ich jetzt auch in dem interessanten Buch von Fabian Scheidler, Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Wien 2015, S. 26: „In nicht marktförmig organisierten Gesellschaften sind […] Kreditbeziehungen Teil des sozialen Gewebes, sie tragen dazu bei, ein Netz gegenseitiger Verpflichtungen zu knüpfen. Die Form von Kredit weist aber zwei entscheidende Unterschiede zum kommerziellen Kredit auf: Er muss, erstens, nicht um jeden Preis zurückgezahlt werden; und er ist, zweitens, nicht handelbar. Kredite dieser Form bleiben also Teil einer persönlichen Beziehung, wie es auch heute noch Kredite unter Freunden sind.“ (Scheidler geht über Graeber, auf den er sich beruft, weit hinaus.) Ich würde nur hinzufügen, dass die soziale Einbettung des Kredits durchaus auch in marktförmigen Gesellschaften denkbar ist, wenn nur die Märkte aufhören, kapitalistisch zu sein, und dass die Alternative zur Beherrschung der Märkte durchs Kapital eben ihre Eingebundenheit in Gesellschaften ist, die zur Geselligkeit als Grundlage des Zusammenhalts zurückgefunden haben.
Da es schon mehr davon gab, als heute überall verbreitet ist, wird man sich ihre historischen Formen und deren Einübung in Erinnerung rufen. So war die Renaissance eine Zeit der Einübung. Der Boccaccio kündet davon, wie man lernte, was dazugehört: Gesprächsfähigkeit, Bildung, Kreativität und Umgangsformen. Wenn das zusammenkam, konnten Männer und Frauen Geselligkeit auch in beweglichen Gruppen, der Form der Landpartie praktizieren. Man wird ferner an gewisse Höfe denken (Weimar) und die bürgerlichen Salons, die heute ihrerseits eine Renaissance erfahren. Auf die Freimaurer wurde schon hingewiesen, interessant ist, dass die ihnen sehr ähnlichen Carbonari, die das italienische Risorgimento trugen – ähnlich schon im Namen, denn „Carbonari“ sind Köhler, man schrieb sich also ebenfalls eine konkrete Arbeit auf die Fahne -, sich darin doch unterschieden, dass sie als explizit politische Bünde wirkten.
Interessant sind nicht zuletzt die Geselligkeitsformen der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert. In Deutschland war es zum Beispiel verbreitet, dass Arbeiter einen Kollegen freizahlten, damit er ihnen während der Arbeit vorlas. Dies führt übrigens zum Thema Räte zurück. Denn wenn Arbeiterräte durch die Einheit von Arbeit und Politik charakterisiert waren, müssen sie sich ja vorher Wissen angeeignet haben und dazu dienten v o r dem Machtkampf, in der ersten revolutionären Phase, die Lesungen. Ich habe von einem Fall gehört, wo auch heute Werktätige eine Person zum Vorlesen während der Arbeit bestimmten, vielleicht gibt es noch weitere. In diesem Fall werden Romane vorgelesen, aber das Kulturelle gehört eben auch dazu und muss schon im 19. Jahrhundert dazugehört haben, denn wie wäre es sonst erklärlich, dass die Tradition, die Neunte von Beethoven zu Sylvester aufzuführen, von Arbeitervereinen im 19. Jahrhundert begründet wurde.
Je konkreter man sich die neue Geselligkeit vorzustellen versucht, desto mehr erscheint sie als unmittelbarer Übergang zur Außenwirkung der Gruppen. Denn was sie selbst erlernen, versuchen sie im lokalen Umfeld zu fördern. Für den Erwerb und die Weitergabe von Einsichten ist Geselligkeit intern wie extern der Boden. Da kenne ich den Fall, dass eine Bar neuen Typs, in die Elemente von Wohnzimmern integriert sind, zur Anlaufstelle für neu sich bildende Gruppen gemacht wurde. Aus der Blütezeit der kommunistischen Arbeiterbewegung sind viele Beispiele guter „Öffentlichkeitsarbeit“ bekannt – man wird sie nicht unverändert nachahmen, doch illustrieren sie eine gewaltige soziale Kraft, die sicher auch heute noch aktiviert werden könnte. So initiierten Parteimitglieder in Argentinien sonntägliche Zusammenkünfte für Familienangehörige, Freunde und Nachbarn. „Vielfach verabredet man sich zu solchen Zusammenkünften anlässlich eines Geburtstages oder der Geburt eines Kindes in einer Arbeiterfamilie. Im Frühjahr und im Sommer trifft man sich im Grünen.“ (W. W. Sagladin [Gesamtredaktion], Die kommunistische Weltbewegung. Abriss der Strategie und Taktik, Frankfurt/M. 1973 [russ. 1972], S. 338) Das konnte man tun, ohne schon politisch erstarkt zu sein. Wo man stärker geworden war und also über mehr Mittel verfügte, gab es „Volksfeste, Unterhaltungsabende, Konzerte, Festivals, Lotterien und öffentliche Massenversammlungen“ (S. 341). Ist derart schon ein ganzes „Milieu“ entstanden, kann damit gerechnet werden, dass sich Künstler beteiligen, so dass es auch an Plakaten, Filmen, Ausstellungen nicht fehlt. Zugang zum Rundfunk und Fernsehen gab es schon damals und heute sind die Hürden weniger hoch.
Formen solcher Art sind nicht etwa deshalb überholt, weil es inzwischen das Internet gibt. Im Gegenteil. Das Internet ist nur eine Anlaufstelle wie jene Bar. Eine bessere, weil mehr Menschen erreicht werden, eine schlechtere aber wegen der nihilistischen Asozialität der Umgangsformen. Man muss die Menschen ermutigen, dass sie aus der Verschanzung hinter ihren Stubenmaschinen hervorkommen und die Maskierung mit Nicknames ablegen, sich face to face begegnen und eben Gruppen bilden, die sich zur Nachhaltigkeit befähigen.
Wir sind ausgegangen von der Parteiform, wir kehren zu ihr noch einmal zurück. Die skizzierten Gruppen sollen keine Parteigruppen sein, wohl aber werden aus ihnen welche in der Partei oder in den Parteien tätig sein und sie mit ihrem Verhaltenstypus zu beeinflussen versuchen. Es soll ja ohnehin in möglichst a l l e n Parteien des Verfassungsbogens Mitgliedergruppen geben, die für Proportionswahlen eintreten. Bei diesem Gedanken steht das Programmatische, das die „Entristen“ verbreiten würden, im Vordergrund, doch wenn wir gesagt haben, dies würde eine n e u e F o r m von Entrismus sein, so können wir nun fortfahren, dass wenn Teile der außerparteilichen revolutionären Gruppen in die „eigene“ revolutionäre Partei eintreten, auch das im Grunde eine entristische Aktivität ist, weil sie hier mit ihrem geselligen, nicht mehr nihilistischen Verhalten vorbildlich sind. Gewisse Minimalumgangsformen könnten sich die revolutionären Parteien aber ohnehin und von vornherein statuarisch vorgeschrieben haben, so dass der Verstoß gegen sie ein Ausschlussgrund wäre. Das Parteiengesetz steht dem nicht entgegen.
Revolutionäres Verhalten und revolutionäres Programm: Aus beidem wird sich allmählich jener Kreis „bedeutender Persönlichkeiten“ herausbilden, die in der Revolution zu orientieren in der Lage sind, ohne dass sie an irgendwelchen Machthebeln säßen. Möglichst viele müssen es sein, wie während der Französischen Revolution, wo es nichts half, Marat zu ermorden; man hatte nur einen Märtyrer hervorgebracht und die Revolution dadurch noch belebt. Ihre Legitimation und Autorität müssen sich die Persönlichkeiten selbst erarbeiten und es wird eine außerparteiliche sein, auch wenn sie einer revolutionären Partei als Mitglieder angehören. Von ihnen eigentlich ist zu erwarten, dass sie die diskursive Vermittlung herstellen zwischen den revolutionären Themen und dem, was der revolutionären Bewegung jeweils „in einer konkreten Situation zustößt“: Das ist zwar die klassische Parteiaufgabe, muss aber deshalb nicht von den Parteiführungen geleistet werden können. Die sind mehr für Bündnisse, Kompromisse und dergleichen zuständig, kurz für Fragen der Macht, während jene in den diskursiven Fragen besonders kompetent sind. Zuerst müssen immer die diskursiven Fragen beantwortet sein, Machtpolitik versucht dann Lösungen zu fixieren. Wichtigste Handlung der Machtpolitiker ist die Ansetzung der Urwahl zur Anderen Gesellschaft, nachdem diskursiv klar geworden ist, dass sie bejahend ausfallen wird.
Zum Schluss die elementarste Frage noch einmal: Wo sollen die Menschen herkommen, die in einen solchen Prozess eintreten, um sich und andere zu revolutionieren? Man wird es nach wie vor fragen. Die skizzierten Gruppen werden zwar zustande kommen. Wenn nicht aus mutlos gewordenen Rentnern, dann aus jungen Leuten, die sich von der Zerstörung um sie herum nicht beeindrucken lassen. Ich weiß noch, wie wir nach dem Weltkrieg aufwuchsen und spielten: in Trümmerhöhlen, die uns wie phantastische Abenteuerspielplätze erschienen. Hannah Arendt hat das verallgemeinert: Wegen der „Einzigartigkeit, die mit der Tatsache der Geburt gegeben ist, ist es, als würde in jedem Menschen noch einmal der Schöpfungsakt Gottes wiederholt und bestätigt; will man den Jemand, der einzigartig in jedem neuen Menschen in die Welt kommt, bestimmen, so kann man nur sagen, dass es in Bezug auf ihn vor seiner Geburt ‚Niemand‘ gab. Handeln als Neuanfang entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins“. (Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981 [engl. 1958], S. 167)
Aber das genügt ja nicht für den Erfolg der Revolution. Vielmehr müsste sich die große gesellschaftliche Mehrheit öffnen. Dabei geht es nicht mehr um Umgangsformen, schon weil es nicht Sache der Mehrheit und ganzen Gesellschaft ist, sich politisch zu organisieren. Aber das Elementare, das die Gruppen betrifft, betrifft alle: Wir stellen uns eine Revolution vor, die erstens n i c h t a u s e i n e m I n t e r e s s e heraus erfolgt, aus dem jedenfalls nicht, was man bisher und meistens unter „Interesse“ versteht, ja wobei man wohl auch bleiben sollte: das partiale, das sich von anderen partialen unterscheidet. Dass es konfligierende Interessen gibt, ist eine zu wichtige Tatsache, als dass ihr die Begriffsbezeichnung und damit verbundene Aufmerksamkeit entzogen werden dürfte. Wir werden also nicht vom „Vernunftinteresse“ und dergleichen reden. Und stellen uns zweitens Revolutionäre vor, die ihre Kraft nicht daraus schöpfen, dass sie sich g e g e n bestimmte andere Kräfte behaupten. Beide Punkte hängen so eng zusammen, dass der zweite nur die Verallgemeinerung des ersten ist.
Gegnerschaft haben wir ausgeschlossen: Den Revolutionäre stehen zwar Gleichgültige und Gegner gegenüber, sie selbst aber mühen sich, alle in Freunde zu verwandeln. Diese Haltung müssen sie einnehmen, weil die Revolution doch durchsetzen soll, was a l l e brauchen, die Rettung der Ökologie des Planeten. Zwar werden sie es mit einem Rest von Gegnern, die es sein und bleiben wollen, sicher zu tun haben. Aber auch das braucht ihre Haltung nicht zu beeinflussen: Sie werden nicht einmal diese Gegner a l s Gegner a n e r k e n n e n ; sie zeigen es dadurch, dass sie nie aufhören, solche Menschen zur Rede zu stellen, so dass immer alle gezwungen sind, öffentlich zu argumentieren. Gegnerschaft auszuschließen ist aber ein Problem, weil sie in den klassischen Revolutionen der große Kraftquell war, der zum revolutionären Handeln bis hin zum Todesmut überhaupt erst motiviert hat. Dies hängt freilich damit zusammen, dass jene Revolutionen Bürgerkriege waren. Der „große Kraftquell“ also, mag man ihn auch glorifizieren – er verdient es, denn wo stünden wir ohne die Französische Revolution? -, war jedenfalls eine Kraft zum Kriege, den wir nun einmal ausschließen wollen und auch müssen.
Was für Gegnerschaft im Allgemeinen gilt, gilt für Interessen im Besonderen. Die klassischen Revolutionen waren Bürgerkriege und interessengeleitet. Der Zusammenhang ist so eng, dass wir ihn bei Clausewitz widergespiegelt finden:
„Der Kampf zwischen Menschen besteht eigentlich aus zwei verschiedenen Elementen, dem f e i n d s e l i g e n G e f ü h l und der f e i n d s e l i g e n A b s i c h t . Wir haben das letztere dieser beiden Elemente zum Merkmal unserer Definition gewählt, weil es das allgemeinere ist.“ Ja es gibt „viele feindselige Absichten die von gar keiner, oder wenigstens von keiner vorherrschenden Feindschaft der Gefühle begleitet sind.“ Aber: „Ist der Krieg ein Akt der Gewalt, so gehört er notwendig auch dem Gemüt an. Geht er nicht davon aus, so führt er doch darauf mehr oder weniger zurück, und dieses Mehr oder Weniger hängt nicht von dem Grade der Bildung, sondern von der Wichtigkeit und Dauer der feindseligen Interessen ab.“ (Vom Kriege, in: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte [Hg. Reinhard Stumpf], Frankfurt/M. 1993, S. 9-423, hier S. 17)
Interessen erscheinen hier als conditio sine qua non und sind es ja auch, sind es auch für die Revolution. Nur als Bedingung, die d e n K r i e g notwendig hervortreibt, dürfen sie nicht mehr gelten. Ansonsten fallen sie keineswegs aus unserer Betrachtung heraus. Wie gesagt wurde, gehören die Revolutionäre der Anderen Gesellschaft verschiedenen Klassen und Formationen an, sie sind Frauen und Männer, Arbeiter und Unternehmer, Bauern, Intellektuelle und so weiter. Wenn sie die damit verbundenen Gegensätze für sich selber um der Revolution willen überwinden, heißt das nicht, dass die Gegensätze bestehen bleiben und nur hintangestellt werden. Vielmehr steht die Geselligkeit der Revolutionäre in der Perspektive der Anderen Gesellschaft, in der es zur Auflösung der Gegensätze und Korrektur der Ungleichheiten kommt. Vor allem ist dann der Gegensatz von Kapital und Arbeit abgeschafft, weil es kein Kapital mehr gibt. Aber das Problem bleibt: Was soll sie motivieren, revolutionär zu sein, wenn sie nicht mehr aus einem Interesse heraus handeln, das gegen andere Interessen steht?
Nun machen wir uns aber klar, dass solche Handlungen aus einer Unfreiheit heraus getan wurden und in ihr auch verblieben. Was i s t ein Interesse? Es ist die oft zutreffende Unterstellung eines Menschen oder einer Formation von Menschen, man selbst oder die, von denen man es sagt, sei(en) dauerhaft in einer besonderen Lage, die, wenn sie bewusst wird, zu gewissen Absichten und deren Verfolgung führt – sei‘s dass die Besonderheit der Lage verändert oder dass sie geschützt werden soll – und die schon unwillentlich das Gefühl bestimmt. Meine besondere Lage erscheint als etwas, das mich determiniert. Ich werde, wenn Revolutionieren gut ist, zum Guten gezwungen, ja, aber es bleibt dabei, ich werde gezwungen. Was mich da zwingt, man könnte es Prädestination nennen. Und weit entfernt bin ich, es herunterreden zu wollen. Vergangene Revolutionen m u s s t e n sich auf so etwas stützen. Aber man muss laut sagen, was das heißt: V e r g a n g e n e R e v o l u t i o n e n m u s s t e n i n U n f r e i h e i t g e s c h e h e n . Immer war Befreiung die revolutionäre Absicht, doch k o n n t e sie nur auf unfreiem Wege v e r s u c h t werden – wie nahe liegt da die Vermutung, es möchte ein Zusammenhang bestehen zwischen den revolutionären Befreiungsversuchen, die es gegeben hat, und dem allgemein bekannten Umstand, dass Revolutionen in Wahrheit immer nur kurze Unterbrechungen – Szenen des Karnevals, wie man gesagt hat (Michail Bachtin) – im ewig scheinenden Kreislauf der Beherrschung, der U n f r e i h e i t gewesen sind!
Eine Revolution a u s d e r F r e i h e i t der Menschen heraus hat es n o c h n i e gegeben. Und deshalb soll sie nicht möglich sein? Weil es nie probiert wurde? Das entbehrt jeglicher Logik. Wenn etwas die Menschheit auszeichnet, dann ihre Entschlossenheit, Sachen zu machen, die nie probiert worden sind. Das Rad zum Beispiel war Jahrhunderttausende lang unmöglich. Dann wurde es erfunden. Im Übrigen bleibt uns gar nichts mehr übrig als die Revolution aus der Freiheit heraus. Denn mit ihr überwinden wir unseren eigenen Nihilismus, auf den wir uns doch nicht stützen können wie auf eine soziale Lage. Was können wir dem nihilistischen Nichts entgegensetzen außer dem anderen Nichts der noch unverwirklichten Möglichkeit? Dieses eben ist der Nicht-Boden des Handelns aus Freiheit. Freiheit kennt keine Stützpunkte. Sie s c h a f f t s i c h welche, findet sie aber nicht schon vor. „Das Mögliche und Sinnvolle tun“ ist Leitspruch einer Revolution, die in Genussfähigkeit und Leidempfindlichkeit, in Offenheit und letztlich in Haltlosigkeit gründet.
Wir haben also nur noch die Frage zu erörtern, ob die Menschen tatsächlich frei s i n d . Angenommen, sie sind es, sind sie es auch zur Revolution. Das heißt zu einer solchen Revolution, die nicht Unfreiheit in Freiheit umkippen lässt, was natürlich nicht geht, sondern die der Versuch ist, den Freiheitsraum, der schon da ist, zu vergrößern. Von der Art ist die Revolution der Anderen Gesellschaft. Sie ist objektiv betrachtet die Ausdehnung schon vorhandener politischer Freiheit aufs Ökonomische. Und auch subjektive Freiheit muss nicht erst erfunden werden. Die ist bekannt als realisierte Befreiung durch sich selbst und durch andere. Davon gibt es so viele Beispiele, dass man einfach sagen muss, Freiheit ist eine Tatsache.
Wie man sich selbst befreit, davon war in der 129. Notiz die Rede: Frei „ist man nur, wenn man mit Grenzen des Möglichen konfrontiert ist und sich an ihnen abarbeitet“. Da kommt denn auch der einzige Berührungspunkt ins Spiel, den Freiheit mit Vorhandenem hat, das sind die vorhandenen Grenzen. Von hier aus kann zum Beginn dieses Kapitels der Bogen geschlagen werden. Wir waren eingestiegen mit Moishe Postones Gedanke, die kommende Revolution werde nicht mehr durch einen Widerspruch zwischen vorhandenen Seiten des gegenwärtigen Systems, wie dem zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, sondern durch den Widerspruch zwischen allem Vorhandenen u n d d e m M ö g l i c h e n hervorgerufen. Möglich ist es, so fügten wir hinzu, dem Vorhandenen z u w i d e r s p r e c h e n . Von nichts anderem war eben nochmals die Rede. Denn indem ich mir selbst, meinen v o r h a n d e n e n Grenzen, widerspreche, erweise ich mich als frei. Eng hängt hiermit das Postulat zusammen, dass revolutionäre Gruppen sich als politische und ökonomische aber auch kulturelle begreifen sollten. Die Kunst nämlich kann mich mit Barrieren der eigenen Freiheit, die ich gar nicht wahrhaben will, konfrontieren. Sie ist auch ein Mittel der Einübung. Davon war in der 130. Notiz die Rede. „Ekstase“ und „Enthusiasmus“, schrieb ich, sind zusammengenommen ein echtes revolutionäres Selbstbefreiungsphänomen, vorausgesetzt nur, dass sie ihrerseits echt sind. Das waren sie nicht immer. Es hat die b e w u s s t l o s e Ekstase, den u n k r i t i s c h e n Enthusiasmus gegeben – Rausch und Fanatismus sind Gestalten der Lüge, nicht der Befreiung.
Wenn jemand meint, es gebe noch ganz andere und viel wichtigere Mittel der Einübung, so sei dazu die Diskussion eröffnet. Auf jeden Fall ist d i e P r a x i s der Gruppen, ihre Außenwirkung und –tätigkeit, für die Geselligen ein Hauptmittel der wechselseitigen individuellen Befreiung. Dass man sich jederzeit von allem befreien könne, behauptet niemand, wie auch niemand bestreitet, dass es Zustände praktisch völliger Unfreiheit gibt. Die Herbeiführung der Anderen Gesellschaft scheint aber zu den Selbstbefreiungen, die möglich sind, zu gehören. Mag mein Versuch, es zu begründen, nun gelungen sein oder nicht, daran, dass Menschen sich nicht befreien könnten, weil sie unfrei seien, wird er nicht am Ende noch scheitern, denn d i e s e Annahme ist ganz eindeutig und ohne jeden Zweifel falsch.
Übrigens haben auch frühere Revolutionen n i c h t n u r die Unfreiheit frustrierter Getriebener, sondern ebenso auch Freiheit gezeigt. Das zu bestreiten würde sie völlig verfälschen. Der Mann, der sich in Anna Seghers‘ Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara erschießen lässt, war er getrieben – interessengeleitet – oder frei? Er war beides. Wäre er nicht beides gewesen, hätte es keinen Aufstand gegeben:
„Kedennek ging weiter, wie es ausgemacht war, nicht zu langsam, in ungewohnt kleinen, leichten Schritten. Er hatte im Rücken ein sonderbar kahles Gefühl, er verstand, dass die übrigen zurückgeblieben waren und dass er allein ging, und er verstand auch, dass der Soldat auf ihn schießen würde. Er fiel um, in der Mitte zwischen Soldaten und Fischern, ungefähr acht Meter von den Fischern entfernt. Sein ganzes Leben hatte Kedennek nur an Segel und Motoren, Fang und Tarife gedacht, aber während dieser acht Meter hatte er endlich Zeit gehabt, an alles Mögliche zu denken. In seinen Kopf waren alle Gedanken eingezogen, die zu empfangen der Kopf eines Menschen geschaffen ist.“
Wir handeln nicht mehr aus Getriebenheit. Gewiss treibt uns der Nihilismus, revolutionäres Handeln beginnt aber erst da, wo wir entschieden sind, ihn zu verlassen, hin zur Möglichkeit, zur Freiheit. Sonst würden wir ja zum Faschismus getrieben. Ich gehe so weit zu sagen, dass die Revolution, die zur Anderen Gesellschaft führt, in einem gewissen strengen Sinn die erste ist, die es je gegeben haben wird. Und doch erinnert das Seghers-Zitat daran, dass nicht wir erst die revolutionäre Freiheit entdecken. Ich möchte zuletzt noch Mao zitieren, aus einer Rede, die er 1945 gehalten hat (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung, Erste Miniaturausg. Peking 1968, S. 236 f.):
„Es gibt ein altes chinesisches Gleichnis, die Parabel ‚Yü Gung versetzt Berge‘. Darin wird erzählt, dass in alten Zeiten im Norden Chinas ein Greis aus den Nördlichen Bergen namens Yü Gung (‚Närrischer Greis‘) lebte. Den Weg, der von seiner Haustür nach Süden führte, versperrten zwei große Berge: der Taihang und der Wangwu. Yü Gung fasste den Entschluss, zusammen mit seinen Söhnen diese Berge mit Hacken abzutragen. Ein anderer Greis namens Dschi Sou (‚Weiser Alter‘) lachte, als er sie sah, und meinte: ‚Ihr treibt aber wirklich Unfug, ihr paar Leute könnt doch unmöglich zwei solche riesigen Berge abtragen!‘ Yü Gung antwortete ihm: ‚Sterbe ich, bleiben meine Kinder; sterben die Kinder, bleiben die Enkelkinder, und so werden sich die Generationen in einer endlosen Reihe ablösen. Diese Berge sind zwar hoch, aber sie können nicht mehr höher werden; um das, was wir abtragen, werden sie niedriger. Warum sollten wir sie da nicht abtragen können?‘ Nachdem Yü Gung die falsche Auffassung Dschi Sous widerlegt hatte, machte er sich, ohne auch nur im geringsten zu schwanken, daran, Tag für Tag die Berge abzutragen. Das rührte den Himmelskaiser, und er schickte zwei seiner Götter auf die Erde, die beide Berge auf dem Rücken davontrugen. Gegenwärtig lasten ebenfalls zwei große Berge schwer auf dem chinesischen Volk. Der eine heißt Imperialismus, der andere Feudalismus. Die Kommunistische Partei Chinas ist schon längst entschlossen, diese beiden Berge abzutragen. Wir müssen unseren Entschluss beharrlich in die Tat umsetzen, wir müssen unermüdlich arbeiten, und wir werden die Gottheit ebenfalls rühren; und diese Gottheit ist niemand anderer als die Volksmassen Chinas. Und wenn sich das ganze Volk erhebt, um mit uns zusammen diese Berge abzutragen, sollten wir sie da etwa nicht abtragen können?“
F i n i s