(13) „Den Staat stürzen, um die Persönlichkeit durchzusetzen“

5. Der Rechtsstaat als Vorschein der Anderen Gesellschaft / Erster Teil – Über den Unterschied des Individuellen und Privaten. Vorschein der Anderen Gesellschaft

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In der letzten Notiz habe ich die Frage erörtert, welche Rolle das Recht in der Anderen Gesellschaft spielen wird. Viele mögen das Resultat trivial finden: Sie wird rechtsstaatlich sein im zugespitzten Sinn eines Schutzes der Privatheit. „Zugespitzt“ aber deshalb, weil in den vorausgegangenen Notizen das Private, Abgesonderte fast stets getadelt und das Individuelle, Besondere dagegen ausgespielt worden war, so dass man vielleicht erwarten konnte, ich würde eine Gesellschaft postulieren, in der nur das nichtprivate Individuelle als schutzwürdig anerkannt ist – das Besondere, das sich der „Solidarität“ öffnet, statt sich abzusondern. Die Unterscheidung von „privat“ und „individuell“ als solche hatte ich von Marx übernommen, der zum Beispiel schrieb, dass es im Kapitalismus den „private[n] Austausch“ gebe, im Kommunismus dagegen den „freien Austausch von Individuen, die assoziiert sind“ (MEW 42, S. 76). In einer anderen Wendung desselben Gedankens hatte er auch bemerkt, nicht das Individuum sei „frei gesetzt in der freien Konkurrenz“, sondern das Kapital, die ökonomische Macht der Privatheit (S. 513 f.).

Das zitierte ich in der 1. Notiz. Was nun das Individuelle vom Privaten unterscheidet, wurde in den folgenden Notizen gelegentlich erörtert. Zum Individuum gehört es, dass es Glied der Gesellschaft ist und sich nach deren Regeln richtet, hieß es in der 2. Notiz. In der 3. Notiz wurde die „Eigenart“ von Individuen darauf zurückgeführt, dass „sie sich mit anderen Individuen austauschen – den Freunden und anerkannten Gegnern, der Familie, der Gemeinschaft, der Gesellschaft, der ‚Assoziation'“. Die 9. Notiz fasste diesen Bereich des individuellen, nicht privaten Austauschs als den Raum der „Mitbestimmungskompetenz“ des Individuums. Jedenfalls wenn die Gesellschaft demokratisch ist, richtet es sich nach dem, was es selbst mit eingesetzt hat, oder andersherum, es möchte ja die Regeln mitbestimmen, denn wie wäre es sonst frei, etwa durch Regellosigkeit?, und zieht dann natürlich die Konsequenz, sich nach ihnen zu richten.

In dieser Erörterung tauchte der Gedanke, dass das Recht die Privatheit schützt, bereits auf. Wenn es nämlich einen Raum der Mitbestimmung gibt, dann gibt es als Kehrseite auch einen Raum, in den die Mitbestimmungskompetenz nicht eingreift, und dies ist der rechtlich zu schützende Raum des Privaten. Das Private erscheint auf einmal als Rechtsgut, also in positiver Bedeutung: Der Grund ist, hier handelt es sich nicht mehr darum, dass jemand sich selbst Privatheit herausnimmt, gleichgültig gegen die Gesellschaft, sondern gerade von der Gesellschaft wird sie ihm zuerkannt.

In der 12. Notiz, die das Recht direkt zum Thema hatte, hob ich das Positive des Privaten noch mehr hervor: „Es geht darum, privat zu sein, um individuell sein zu können, ja um solidarisch sein zu können. Denn was ist, wenn das Individuum zu dem Schluss kommt, die in seiner Gesellschaft vorhandene Definition von Solidarität sei ungenügend, vielleicht gar in einem höheren Sinn unsolidarisch? […] In solchen Fällen muss das Individuum frei kämpfen können, das heißt es muss sich von den Meinungen und Handlungen anderer, ja womöglich aller anderen, absondern: Es muss privat sein dürfen um einer anderen Solidarität willen. Diese Privatheit hat der Rechtsstaat zu schützen, dafür ist er da.“

Wenn ich schrieb „dafür ist er da“, war das im Grunde eine „teleologische“ Aussage, das heißt ich habe die „Zweckursache“ einer so noch gar nicht eingetretenen Rechtsstaatlichkeit benannt. Denn vom Rechtsstaat, wie wir ihn kennen, kann nicht gesagt werden, er sei dafür da, seine eigene Aufhebung um eines besseren Rechtsstaates willen, der mehr Freiheit und mehr Solidarität schützt, zu ermöglichen. Er ist in Vielem weit eher der Versuch, vorhandene Unfreiheit und Unsolidarität zu verewigen. Es ist eben ein Rechtsstaat im Kapitalismus. Dennoch, schon so, wie er ist, sind Wege zur Selbstaufhebung in ihm angelegt. Wer verhindern will, dass eine Andere Gesellschaft mit mehr Freiheit und Solidarität herbeigeführt wird, kann sich dazu nicht des Rechtsstaates bedienen, sondern im Gegenteil, er muss ihn suspendieren. Der Rechtstaat, den wir haben, ist daher ebenso wie der Parlamentarismus, den wir haben, bereits ein „Vorschein“ der Anderen Gesellschaft. Dies auch in dem Sinn, dass es gerade die Andere Gesellschaft auszeichnen wird, zur Veränderung und sogar zur Selbstaufhebung bereit zu sein. Sie wird von sich wissen, anders als der Kapitalismus, dass sie nicht das Ende der Geschichte ist, sondern nur der geschichtlich nächste Schritt.

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Der vorhandene Rechtsstaat, soweit er kapitalistisch geprägt ist, lässt jene Privatheit, die sich gegen das Kapitalistische wendet, zwar in der Regel zu, setzt ihr nur mehr oder weniger unangenehme Hürden, was er aber von sich aus schützt, ist die ganz andere Privatheit des Kapitalistischen selber. Er schützt das Individuum, das sich selbst Rechte herausnimmt, weit eher als das Individuum, das für mehr Solidarität kämpft. So viel ist klar. Aber die letzte Zuspitzung liegt darin, dass auch einem Rechtsstaat, der vornehmlich diese „gute“ Privatheit schützen würde, gar nichts anderes übrig bliebe, als damit zugleich auch jene „schlechte“ Privatheit zu schützen. Nur wenn er das tut, ist er selbst ein „guter“ Rechtsstaat, der sich nämlich nicht anmaßt, zu entscheiden, was das Gute vom Schlechten unterscheidet. Denn das können nur die Individuen selber tun, das heißt zu tun versuchen. Ja, und wer von hier auf die Geschichte des vorhandenen Rechtsstaats zurückschaut, muss einräumen, dass er Züge des „Guten“ bereits trägt.

Die rechtliche Privatheit ist nicht bloß dadurch über uns gekommen, dass die Gesellschaft kapitalistisch geworden ist und ihr Staat deshalb das Privateigentum schützen musste. Das ist eine unzulängliche Vorstellung, denn das Privateigentum gab es schon in vorkapitalistischen Gesellschaften, die solche Privatfreiheiten, wie sie uns selbstverständlich sind, auch wenn wir nicht zu den Groß- oder Kleineigentümern gehören, durchaus noch nicht kannten. Um sie zu erklären, muss man sich viel eher der Konfessionskriege erinnern, mit dem Höhepunkt des Dreißigjährigen Krieges: Sie waren so verheerend, dass gerade die beteiligten Staaten zu dem Schluss kamen, es müsse jedem selbst überlassen bleiben, nach welcher Facon er selig werden wolle. Der so geschaffene Privatraum wurde genutzt, die Französische Revolution vorzubereiten, wie Reinhart Koselleck herausgearbeitet hat (Kritik und Krise, Freiburg München 1959), der sich dabei auf Carl Schmitt stützte (Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938). Hier hatte das Private schon etwas von jenem Charakter, den ich weiter oben anerkennend unterstrichen habe: Menschen verhielten sich privat um einer anderen Solidarität willen, es wurde nämlich zum Programm, dass nicht ein Monarch und allenfalls noch der Adel, sondern alle Bürger über die Regeln entscheiden sollten. Die Privatheit war ihnen aber vom monarchischen Staat selber eingeräumt worden.

Ihnen, das heißt den Aufklärern. Nachdem die Französische Revolution gesiegt hatte, wurde dann jene andere Privatheit dominant, die das Kapitalistische kennzeichnet und in der das Individuum für nichts kämpft als für die eigene Expansion. Machen wir uns an dieser Stelle nur klar, dass aufklärerische Privatheit nicht dasselbe ist wie kapitalistische Privatheit. Wenn Kant sogar noch dem Individuum applaudiert, das sich gleichgültig gegen wohlgemeinte ärztliche Ratschläge verhält, was doch eine krasse Form von Absonderung ist, hat das ganz und gar nichts mit dem kapitalistischen Menschenbild zu tun. Es ist keine „bürgerliche Ideologie“. Übrigens lag Kant selbst daran, das zu betonen, denn er schreibt: „Habe ich […] einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt […], so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann […].“ (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, A 482)

Aber wie gesagt, der Rechtsstaat schützt beide Wege der Privatheit. Wir werden den Kapitalismus nicht dadurch bekämpfen, dass wir den Rechtsstaat auch nur antasten.

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Diese Feststellung könnte der Abschluss der ganzen „Exposition“ sein, in der sich mein Blog bisher bewegte, und tatsächlich gehe ich mit der nächstfolgenden 14. Notiz zum Hauptthema über, dem Kapital und seiner Abschaffung sowie seinem Verhältnis zum Geld, das nach meiner Auffassung nicht eindeutig, sondern konfus ist. Aber eine letzte mögliche Verwirrung will noch beseitigt sein. Was es mit dem Recht auf sich hat, wird nämlich von Marxisten vielfach untersucht, und sie kommen meistens zu ganz anderen Schlüssen als ich.

Im Recht, so lesen wir immer wieder, drücke sich ein gesellschaftliches Verhältnis aus, nämlich das Austauschverhältnis zwischen Warenbesitzern. Hieraus entspringe die Rechtssubjektivität als „Abstraktion des Menschen überhaupt“, formuliert nicht nur Eugen Paschukanis (Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt/M. 1966 [Erstausg. 1924], S. 91). Der abstrakte Mensch wird uns vorgestellt als der unterschiedslose Mensch, der sich vom unterschiedslosen Menschen absondert. Dies charakterisiert dann nicht nur den Kapitalisten, der Waren tauscht, sondern auch den Arbeiter, sofern er sich von der „juridischen Ideologie“ gefangen nehmen lässt. Er wird zum Privatindividuum isoliert, und mag ihn das Recht auch schützen, seine Klassenzugehörigkeit muss er vor Gericht verleugnen, denn so etwas kann es in einer Gesellschaft, die nur aus „abstrakt gleichen Rechtspersonen“ besteht, nicht geben. Und überhaupt dient das Ganze dazu, Klassenbewusstsein und Klassenkampf nicht aufkommen zu lassen.

Diese Überlegung ist erstens einseitig, denn sie versäumt es, die Entstehung der Rechtsprivatheit aus der Erfahrung der Konfessionskriege zu würdigen. Damit hängt aber das Zweite zusammen, dass sie in Gefahr ist, das Kind mit dem Bade auszuschütten, nämlich vor lauter „Klassenbewusstsein“ die Individualität oder jedenfalls den Individualismus zu verneinen. Das sollte nicht geschehen. Denn das Individuum gehört zwar einer Klasse an, sogar vielen Klassen gleichzeitig, oder sagen wir Gruppen – es ist nicht nur Arbeiter, sondern auch Katholik, Sorbe, männlich und so weiter -, aber wenn es gut beraten ist, all das nicht zu vergessen, ist doch auch die Kehrseite richtig, dass es aus solchen Gruppenbestimmtheiten etwas Eigenes, sie Transzendierendes machen und sowohl an der progressiven Veränderung sei’s der Gruppe, sei’s ihrer Lebensbedingungen solidarisch arbeiten als auch sich aus ihr herausarbeiten sollte. Deshalb darf die Kritik an „abstrakt gleichen Rechtspersonen“ nicht dazu führen, dass man von der Rechtspersönlichkeit zur Kollektivpersönlichkeit flüchtet, sondern sie muss zum Argument werden für die Verschiedenheit der Individuen, für den Individualismus.

Wo liest man denn auch einmal, dass es eine Dimension von Individualität gibt, in der das Individuum tatsächlich abgesondert, nämlich „mit sich allein“ ist, und dass dies gerade die Dimension seiner Freiheit ist? Nicht seiner ideologischen Freiheit im Kapitalismus, sondern seiner Freiheit? Die höchste Freiheit des Individuums liegt nämlich darin, dass es zu sich selbst finden, sich „individuieren“ kann und dass es, ferner, die Möglichkeit vorfindet oder schafft, auf seiner gefundenen Eigenart des Denkens und Handeln dann auch zu beharren – dann sogar noch, wenn es überhaupt gar nichts mehr gibt, was ihr vergleichbar wäre. Wenn Arnold Schönberg atonale Musik zu Gehör bringt, obwohl alle ihn niederschreien, das ist Freiheit, und man muss kein Arnold Schönberg sein, um, jede(r) auf ihrem (seinem) Feld, Analoges im Alltag wiederholen zu können. Der Individuierungsprozess als solcher ist kein Prozess der Absonderung, im Gegenteil, ich kann mich nur individuieren, indem ich meine Umwelt, die Außenwelt, das, was von mir verschieden ist, zu ändern versuche. Aber in diesem Prozess wird meine Verschiedenheit von der Außenwelt nicht kleiner, sondern größer, und eben dadurch, um es noch einmal zu sagen, macht er mich frei. Meine Freiheit ist mein Alleinsein.

Keine Ausführung von Marx widerspricht diesem Gedanken. Im Gegenteil, es gibt viele Ausführungen, die ihm sehr nahe kommen. So schreibt er zum Beispiel in der Jugendschrift Zur Judenfrage: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist […] und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (MEW 1, S. 370) Auch später, wenn die Klassen in den Blick kommen, bleibt Marx dabei, vom Individuum her zu denken: Die Proletarier, lesen wir in der Deutschen Ideologie, „müssen […], um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigne bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben.“ (Später wird er präzisieren: Die Lohnarbeit, das heißt das Kapitalverhältnis ist das, was sie aufheben müssen.) „Sie befinden sich daher auch im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen.“ (MEW 3, S. 77)

Und noch im Kommunismus geht es darum, „weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend“ zu machen (S. 229). Damit ist gemeint, das Individuum wird nicht unsolidarisch sein, aber auch nicht auf dem Altar der Solidarität verbrennen, sondern kann sich sagen: Ich bin da, ich bin assoziiert, ich bin letztlich allein, und alles dreht sich um mich.