(20) Psychologie und Wahrheit

2. Keynes, Weber und Braudel über die endlose Kapitalbewegung / Zweiter Teil – Die historische Besonderheit des Kapitals im Allgemeinen

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Für die so typische Konfusion in den Debatten zwischen Marxisten und Nichtmarxisten gibt Paul Mattick, Marx und Keynes, Frankfurt/M. 1971, S. 24 f., ein gutes Beispiel: „Was immer die objektiven Ursachen der Krisen sind: solange die Nationalökonomen glauben, sie nicht ermitteln zu können, haben sie nichts besseres zu tun, als sich mit der Psychologie der von ihnen repräsentierten Klasse zu beschäftigen. Diese Psychologie ist aus den realen Bewegungen der Kapitalproduktion zu erklären; sie kann aber nicht umgekehrt diese Bewegungen erklären. Selbst Keynes spürte manchmal, dass ein solches Vorgehen unzureichend war; er versuchte seinen psychologischen Interpretationen eine materielle Basis zu geben.“ Mit einem Wort, Marx stellt das Objektive des Kapitalismus dar, Keynes hingegen und überhaupt die bürgerlichen Ökonomen gehen „psychologisch“ an es heran.

So schlicht kann man das nicht gegenüberstellen. Der Kapitalismus ist eine Produktionsweise, in der Individuen voneinander unabhängig agieren, nur ihre Konkurrenz ist ihre Gemeinschaft, und es sind sehr viele Individuen. Das gilt im Prinzip, um Modifikationen kümmern wir uns jetzt nicht. Wenn es gilt, führt es gewiss dazu, dass jede Gesetzmäßigkeit, der das Tun der Individuen unterliegt, sich hinter ihrem Rücken herausbildet und „nicht aus ihrer Psychologie erklärt werden kann“. Aber man muss doch auch die Kehrseite sehen: Es kann nicht anders sein, als dass in einer solchen Produktionsweise die Psychologie der Individuen eine wichtige, eine geradezu ungewöhnlich wichtige Rolle spielt.

Dass sie atomistisch statt gemeinsam agieren, muss doch „objektive“ Folgen haben. Die atomistische Aktion ist aber das Handeln aufgrund von Reizen und Neigungen, Erwartungen und Befürchtungen, vorhandenem und fehlendem Vertrauen, also von lauter psychologischen Faktoren. Von diesen Faktoren muss eine Theorie ausgehen, die den Gesetzmäßigkeiten hinter dem Rücken der Individuen nachspürt. Man wird zwar eine Theorie einseitig finden, die das Gewicht all der Dinge ignoriert, die jeder individuellen Aktion zuvorkommen: der tradierten Institutionen, der Mindesthöhe des Kapitaleinsatzes in einer gegebenen Situation, der Laufzeit der Maschinen und des Imperativs, sie möglichst nie auszuschalten, damit ihr Wert nicht ungenutzt verfällt, und was man alles anführen könnte. Aber ebenso einseitig wäre die Theorie, die das Gewicht der aggregierten individuellen Entscheidungen leugnete. Um den Pyramidenbau der alten Ägypter zu erklären, braucht man nicht die Perspektive der beteiligten Individuen in Rechnung zu stellen, aber um zu erklären, wie eine kapitalistische Krise funktioniert, muss man das tun.

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„Es gibt notwendigerweise eine Verbindung zwischen Marx und Keynes“, schreibt Mattick weiter. „Marx nahm durch seine Kritik an der klassischen Theorie die Kritik Keynes‘ an der neoklassischen Theorie vorweg; beide erkannten das kapitalistische Dilemma in der sinkenden Rate der Kapitalbildung. Aber während Keynes ihre Ursache im Mangel an Investitionsanreizen sah, führte Marx das Dilemma auf seine letzte Ursache zurück, auf den Charakter der Produktion als Produktion von Kapital.“ (S. 29) Da haben wir es, „Investitionsanreize“ – hier tritt wohl das psychologische Reiz-Reaktions-Schema an die Stelle des objektiven Kapitalbegriffs und seiner Logik, der Kapitallogik? Nein, so einfach sind die Dinge nicht zu trennen, denn Keynes will die Reize doch nicht nur so beschreiben, wie sie den Reagierenden erscheinen, sondern wie sie sind.

Diese Reize bilden untereinander ein System und sind als System betrachtet dasselbe, was Marx Kapital nennt. Der Hauptpunkt bei Keynes, dass es, je reicher eine Gesellschaft ist, immer schwieriger wird, Reinvestitionsmöglichkeiten aufzutun, und dass sie trotzdem gefunden werden müssen, weshalb Wachstum auch dann geschieht, wenn Irrsinn und Zerstörung die Folge sind – ich habe es in der 19. Notiz dargestellt -, dieser Punkt entspricht dem Marxschen Hinweis genau, dass kein Mehrwert einen Wert hätte, wenn er nicht in den nächsten Tausch einginge; eben daraus, dass er gegen mehr Maschinen und/oder Arbeitskraft getauscht werden muss, folgt bei Marx die Unendlichkeit der Akkumulation, die das Kapital definiert. Wenn man sagt, bei Keynes reagieren die Individuen auf Investitionsanreize, dann heißt das nichts anderes, als dass sie auf die vorgegebenen Imperative des Kapitals reagieren. Um mit Mattick zu sprechen, „diese Psychologie ist aus den realen Bewegungen der Kapitalproduktion zu erklären“ – was will er denn mehr?

Aber tatsächlich kennt Keynes auch solche Reaktionen der Individuen, die nicht aus allgemeinen Erfordernissen der Kapitalreproduktion hervorgehen, sondern sich gegen sie verselbständigen – wobei Verselbständigung seinerseits ein Kapitalerfordernis ist – und gerade deshalb das Kapital in die Krise stürzen.

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Um hier in Klarheit weitersprechen zu können, müssen wir mit Marx zwischen dem „Kapital im Allgemeinen“ und der „Konkurrenz der Einzelkapitale“ unterscheiden. Wir werden sehen: Obwohl Keynes die Unterscheidung nicht kennt, ist er es erst, der aufzeigt, wie man mit ihr umgehen könnte.

Zunächst: Er kennt die Unterscheidung nicht. Aussagen über das Kapital im Allgemeinen sind bei ihm nur eingestreut zwischen Aussagen über Einzelkapitale, so dass man meint, es sei stets von letzteren die Rede, was doch angesichts des Inhalts mancher Aussagen nicht sein kann. Gerade die Hauptaussage, ich wiederhole sie: dass das Kapital, um eine gegebene Menge von Arbeitern zu beschäftigen, sich nicht auf Produktion für den gegenwärtigen Konsum beschränken darf, sondern auch die Nachfrage der Zukunft voraussehen und in sie investieren muss, weil sonst weder Gewinn noch Kostenerstattung winken, diese Aussage gilt ersichtlich nicht fürs Einzelkapital, den Bäcker zum Beispiel, sondern für die Volkswirtschaft im Ganzen. Sie sagt etwas über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Einzelkapitalen, die Konsumgüter herstellen, und Einzelkapitalen, die für Investitionsgüter zuständig sind. Sie betrifft die Logik des Kapitals im Allgemeinen, keine „Psychologie“ einzelner Kapitalisten geht in sie ein.

Soweit das eine Logik ist, die in psychologischen oder Willensanwandlungen eine Entsprechung hat, handelt es sich um Anwandlungen nicht nur der Einzelkapitale, sondern auch und mehr noch des Staates. Wir sehen gerade bei Keynes konkret, wie vom Kapital im Allgemeinen nicht ohne Einbezug des Staates gesprochen werden kann, denn der sorgt sich nicht am wenigsten um die Nachfrage der Zukunft, organisiert etwa einen „Strukturwandel“ oder legt ein Investitionsprogramm auf. Mit Marx müsste man sagen, es gebe eine allgemeine Kapitallogik, die im Wachstumszwang, unendlichen Akkumulationszwang bestehe, und daneben eine Logik der Einzelkapitale, wie sie konkurrieren und staatlich reguliert werden, sich teilweise auch selbst regulieren. Die Konkurrenz exekutiert den Zwang nur, ist aber nicht seine Ursache, stellt Marx klar (z.B. MEW 23, S. 286, MEW 25, S. 266 f.). Hat das einen Nutzen, die allgemeine Kapitallogik so zu isolieren? Ja, man kann fragen, was das denn für ein Phänomen ist, dies Unendliche: wo der Zwang herkommt, wann er endet, ob sich das Ende herbeiführen lässt oder man es abwarten muss. Das war Marx‘ Interesse, deshalb hat seine Forschungsanstrengung fast ausschließlich der Darstellung des Kapitals im Allgemeinen gegolten; doch wusste er auch, bei der Erklärung der Empirie zählt die Logik der Einzelkapitale.

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Er schreibt ja, es sei „für den einzelnen Kapitalisten […] durchaus gleichgültig, ob er den in der Ware steckenden Wert und Mehrwert beim Verkauf realisiert oder nicht, vorausgesetzt nur, dass er den gewohnten oder einen größern Unternehmergewinn, über den durch Arbeitslohn, Zins und Rente für ihn individuell gegebnen Kostpreis“ hinaus, „aus dem Preise herausschlägt“. „Der ganze kapitalistische Produktionsprozeß ist […] reguliert durch die Preise der Produkte“ (MEW 25, S. 880 ff.), deren Bildung Marx nicht untersucht hat. Dabei wusste er, dass sie nicht nur vom Wert der Produkte, also den Kosten für Arbeit, Maschinen und Rohstoffe, sondern auch von Angebot und Nachfrage abhängen, so dass man geradezu auf einen Preis stoßen könnte, der überhaupt nicht „vom Wert der Waren, sondern vom Bedürfnis und der Zahlungsfähigkeit der Käufer bestimmt ist und dessen Betrachtung in die Lehre von der Konkurrenz gehört, wo die wirkliche Bewegung der Marktpreise untersucht wird“ (S. 772).

Man muss also die Konkurrenz untersuchen. Freilich ist „wissenschaftliche Analyse der Konkurrenz […] nur möglich, sobald die innere Natur des Kapitals begriffen ist, ganz wie die scheinbare Bewegung der Himmelskörper nur dem verständlich ist, der ihre wirkliche, aber sinnlich nicht wahrnehmbare Bewegung kennt“ (MEW 23, S. 335). Das war Marx‘ Projekt. Er untersuchte die sinnlich nicht wahrnehmbare Bewegung des Kapitals im Allgemeinen. Dabei entdeckte er: Es handelt sich um eine Bewegung ins Endlose. Gut, aber nun wollen wir wissen, wie die Konkurrenz untersucht werden kann.

Was Marx antworten würde, ist klar, wir kennen seine Forschungsweise: Man muss große Ökonomen studieren, falls es solche gibt, auch „bürgerliche“ natürlich, wen denn sonst, und ihre Untersuchungsergebnisse auf die eigene Grundannahme beziehen. Ein solcher Ökonom ist Keynes; seine Untersuchungsergebnisse auf die Marxschen Grundannahme zu beziehen, dass die Kapitalbewegung eine Bewegung ins Endlose ist, fällt schon deshalb leicht, weil er selbst nichts anderes annimmt. Die Bezugnahme und -gabe führt auch weiter. Wenn Marx zum Beispiel schreibt, dass „auf dem Geldmarkt beständig alles leihbare Kapital als Gesamtmasse dem fungierenden Kapital gegenübersteht“, zumal durch die „Konzentration des Kreditwesens“ (MEW 25, S. 378 f.), kann Keynes konkret weiterhelfen. Marx unterstreicht hier wieder nur das Vorhandensein der allgemeinen Kapitallogik: „Als was das industrielle Kapital nur in der Bewegung und Konkurrenz […] erscheint, als an sich gemeinsames Kapital der Klasse, tritt es hier“ auf dem Geldmarkt „wirklich […] auf“, „der Wucht nach, in der Nachfrage und Angebot von Kapital“, und es sei „als konzentrierte, organisierte Masse […] unter die Kontrolle der das gesellschaftliche Kapital vertretenden Bankiers gestellt“ (S. 381). Davon versteht auch Keynes etwas, er würde an dieser Stelle einwenden, dass die Banken, so konzentriert sie immer sein mögen, es mit zwei verschiedenen Sorten von Kunden zu tun haben: solchen, die bereit sind, ihr Geld langfristig anzulegen, so dass es zur Kreditierung von Investitionsprojekten verwendet werden kann, und solchen, die ihr Geld lieber „liquide halten“, weil sie glauben und erwarten, der Zeitpunkt gewinnversprechender Investition sei noch nicht gekommen.

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Weil sie glauben und erwarten: Hier, wo es um die Einzelnen geht, die ihr Geld anlegen, und darunter die einzelnen Kapitalisten, sind wir mit „Psychologie“ konfrontiert. Aber nun muss uns einfallen, dass auch die Andere Gesellschaft, Marx zufolge, eine Gesellschaft der Einzelnen und ihrer Freiheit, dass sie eine „Assoziation freier Individuen“ ist. Also muss ja auch dort die „Psychologie“ eine herausragende Rolle spielen. Gerade in ökonomischer Hinsicht.

Ist nicht gleich das Erste, was Marx zur Anderen Gesellschaft sagt, nämlich dass sie ihre Ökonomie plane, eine „psychologisch“ relevante Aussage? Denn der Plan begründet feste Erwartungen aller Akteure, das ist genau der Grund, weshalb man ihn macht. Wir können auch sagen, er soll Vertrauen in die Zukunft schaffen. Alle, die arbeiten, sollen zum Beispiel wissen, sie arbeiten nicht in die Arbeitslosigkeit hinein. Es ist seltsam, dass manche Marxisten meinen, die Verwendung „psychologischer“ Vokabeln wie Erwartung und Vertrauen sei unsachlich. Nein, im Gegenteil, sie  s i n d  die Sache, aus ihr ergibt sich die Notwendigkeit gesellschaftlicher Planung. Das Kapital ist nicht deshalb problematisch, weil es Individuen veranlasst, Erwartung zu hegen und Vertrauen zu haben, sondern weil das Erwartete nicht eintrifft und das Vertrauen enttäuscht wird.

Weshalb das so ist, können wir bei Keynes lesen: „Auf wirklicher langfristiger Erfahrung beruhende Investitionen sind heute so schwierig, dass sie kaum durchführbar sind.“ „Es gehört  m e h r  Intelligenz dazu, die Kräfte der Zeit und unsere Unwissenheit über die Zukunft zu überwinden, als das Geschoß zu übertreffen. Das Spiel des berufsmäßigen Investments ist unerträglich langweilig und übermäßig anstrengend für jeden, der vom Spieltrieb völlig frei ist“, auch deshalb zieht es intelligente Menschen nicht an. „Ein Investor, der beabsichtigt, kurzfristige Marktschwankungen unberücksichtigt zu lassen, benötigt überdies größere Geldmittel als sichernden Rückhalt und kann nicht in so hohem Maße, falls überhaupt, mit geborgtem Geld operieren“. Außerdem hat er „am meisten Kritik auszuhalten“. „Denn es liegt im Wesen seines Verhaltens, dass er in den Augen der durchschnittlichen Meinung als überspannt, unkonventionell und waghalsig erscheint.“ „Weltliche Weisheit lehrt, dass es besser für den Ruf ist, konventionell zu versagen, als unkonventionell erfolgreich zu sein.“ (Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 10. Aufl. Berlin 2006, S. 133 f./157 f.)

Das ist alles Psychologie, aber wer zweifelt, dass Keynes recht hat? Und was wird  u n s e r e  Schlussfolgerung sein, wenn nicht dass die langfristige Investition, zu der Privatinvestoren unfähig sind, stattdessen von der Gesellschaft entschieden werden sollte? Es muss ein Subjekt der langfristigen Investition geben! Das kann nur die Gesellschaft sein, die in einer allgemeinen Wahl beschließt, welche Welt, das heißt ökonomische Außenseite der Welt sie in fünf, zehn, zwanzig Jahren vorfinden will; sie wird sich an den Beschluss auch halten, es ist ja ihr eigener. Und nun hat man eine Basis, auf der das „Vertrauen wachsen“ kann; auch werden die Erwartungen realistisch sein, die den Handlungen zugrundeliegen; es wird eine Freude sein, zu handeln.