(4) Freiheit und Abhängigkeit, Neoliberalismus, „Revolution“

2. Der Parlamentarismus als Vorschein der Anderen Gesellschaft / Erster Teil – Über den Unterschied des Individuellen und Privaten. Vorschein der Anderen Gesellschaft

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„Die Revolution“ ist eine Art, den Übergang zur Anderen Gesellschaft zu denken. Diese Übergangsfrage soll vorläufig nur exponiert werden. Selbst dazu werde ich mehrere Blog-Notizen brauchen. Das Ziel ist lediglich, die Frage etwas klarer stellen zu können. Dabei gehe ich wieder von dem Ansatz aus, der mich in allen vorausgegangenen Notizen geleitet hat: Um die Bedingungen des Problems einer Anderen Gesellschaft zu erfassen, muss man sich darüber im klaren sein, dass „kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“ die Andere Gesellschaft herbeiführen kann, aber auch keine Partei, die immer recht hat, und auch sonst kein Kollektiv, das die Freiheit der in ihm enthaltenen oder von ihm beherrschten Individuen suspendiert; sondern nur die freien Individuen selber, indem sie sich zusammentun, können allenfalls das „Subjekt“ dieser Herbeiführung sein.

Nun lesen wir bei Marx den Satz: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn.“ (Grundrisse, MEW 42, 176) Auf den ersten Blick scheint er dem obigen Ansatz zu widersprechen. Wenn die Gesellschaft nicht aus Individuen besteht, besteht auch die Andere Gesellschaft nicht aus Individuen; wie kann sie dann von Individuen herbeigeführt werden? Aber der Satz sagt natürlich nicht, dass in der Gesellschaft keine Individuen vorkommen, sondern nur, dass sie nicht das Einzige sind, was man in ihr antrifft. Man trifft auch „Verhältnisse“ an, Marx wird vor allem ans Kapitalverhältnis gedacht haben. Davon, wie eine Gesellschaft herbeigeführt wird, spricht der Satz nicht, aber es ist klar, die Verhältnisse können das nicht tun, das können nur handelnde Wesen, also nur Individuen; wiederum würden auch sie es nicht können, wenn sie sich nicht fragten, in welcher Weise sie von den Verhältnissen abhängig sind, wie es dennoch möglich ist, diese zu verändern, und wohin die Veränderung führen soll.

Das ist eine Einschränkung. Sie versteht sich offenbar nicht von selbst, denn die neoliberale Ideologie zum Beispiel kommt ohne sie aus. Auch hier dreht sich alles um die freien Individuen, doch irgendeine Abhängigkeit von ihnen vorausgesetzten Verhältnissen scheint es nicht zu geben. Margot Thatcher ist in ihrem Freiheitspathos so weit gegangen, dass sie, wie um den Marxschen Satz möglichst schlagend zu widerlegen, bestritt, dass es so etwas wie „Gesellschaft“ überhaupt gebe: Das war konsequent, denn wenn das, was wir die Gesellschaft nennen, nur aus Individuen bestünde und nicht auch aus Verhältnissen, dann wäre „Gesellschaft“ weiter nichts als eine Nominalabstraktion, das heißt ein Wort, das zwar der Ökonomie des Denkens und Sprechens dient, dem aber nichts Reales entspräche. „Gesellschaft“ hieße so viel wie Summe der Individuen. Es wird ja auch der Realität der Finger einer Hand nichts hinzugefügt, wenn man sie zusammenzählt. Ist es nicht überhaupt ein Widerspruch, Individuen, die von etwas abhängig sind, frei zu nennen? Das scheint sich Frau Thatcher gefragt zu haben. Ich nenne diese Denkweise ideologisch, weil es ein Hohn ist, von unserer vorhandenen Gesellschaft zu glauben, sie bestünde aus freien Individuen, nur weil eine Handvoll Unternehmer sich irrtümlich einbildet, ihr Tun sei durch ihren freien Willen bestimmt. Alle, die abhängig beschäftigt sind, bilden sich das nicht einmal ein.

Aber diese Denkweise ist nicht nur ideologisch, es mangelt ihr auch an Verstand. Freiheit als Abwesenheit von Abhängigkeit zu definieren, das ist ungefähr so, als glaubte man, Fußballspieler berührten den Fußball nur mit dem Fuß. Freiheit wird einerseits zum Ziel der gesamten Menschheitsgeschichte stilisiert – und mit Recht! -, andererseits aber scheint sie eine so sturzsimple Sache zu sein, dass ihre Logik an weniger als drei Fingern sich abzählen lässt. Was nah ist, ist nicht fern, und entsprechend was frei ist, nicht unfrei? Nein, wenn das Wort „Freiheit“ einen Sinn hat, dann kann es nur der von „Befreiung“ sein. Frei sein heißt sich oder andere von etwas befreien. Wenigstens ein Stück weit befreien. Wenigstens auf dem Weg sein, das zu tun. Wenn man auf dem Weg ist, dann ist man in einem höheren und höchsten Sinn an und für sich frei.

Ich verstehe daher unter freien Individuen, die eine Andere Gesellschaft herbeiführen, solche Menschen, die ihre Abhängigkeit von „Verhältnissen“ der vorhandenen Gesellschaft nicht leugnen, sich aber an ihr abarbeiten und die wissen, dass es auch in der Anderen Gesellschaft Abhängigkeiten geben wird. Wenn das nicht so wäre, bräuchte man ja auch gar nicht die Frage zu stellen, „wohin die Veränderung führen soll“. Dann verstünde sich die Antwort von selbst: Na, in die Freiheit!

Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb Neoliberale nicht verstehen, welchen Sinn es haben soll, über eine Andere Gesellschaft nachzudenken. Entweder, werden sie sich sagen, wird die Andere Gesellschaft als eine freie Gesellschaft bestimmt, aber dann ist sie überflüssig, denn schon die jetzige Gesellschaft ist frei.

Worin sie nach meiner obigen Definition recht haben: Freiheit ist immer relativ, also kann es eine total unfreie Gesellschaft gar nicht geben; wer Gesellschaften vergleicht, wird zu dem Schluss kommen, dass eine neoliberale Gesellschaft meistens viel freier ist, wenn sie nämlich nicht gerade von einem Pinochet beherrscht wird, als eine realsozialistische; und wäre nicht schon die vorhandene Gesellschaft frei, dann wäre es logisch unmöglich, von ihr aus in eine Andere Gesellschaft zu gelangen.

Oder, sagen sich die Neoliberalen, die Andere Gesellschaft wird  n i c h t  als die freie Gesellschaft bestimmt. Na, dann kann sie ja nur als die unfreie Gesellschaft bestimmt werden!

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Wohin soll die Veränderung führen? Was soll denn anders werden? Wenn man davon keine Vorstellung hat, sondern nur überhaupt an der Gegenwart leidet und sich das „ganz Andere“ wünscht, wird es wohl beim Wünschen bleiben, zum Handeln kommt es dann nicht. Umgekehrt, wer handelt, stellt sich nicht vor, dass „alles“ anders wird, sondern hat bestimmte Ziele vor Augen. Nun habe ich in der vorigen Notiz zwei Ziele beispielhaft vorgeschlagen: „Marktwahlen“ und eine Behörde, die den Unternehmern gegenüber die gesellschaftliche Nachfrage verkörpert, eben die Nachfrage nämlich, die in jenen Wahlen ermittelt wurde. Es wurde ausgeführt, dass zwischen verschiedenen gleich möglichen Grundlinien der gesellschaftlichen Produktion gewählt werden würde, zum Beispiel zwischen mehr motorisiertem Individualverkehr und mehr öffentlichem Verkehr, und dass jene Behörde im Idealfall, falls nämlich alle Unternehmer sich an das Wahlresultat hielten, weder irgendetwas tun würde noch auch nur irgendwo in Erscheinung träte. Die Unternehmer wären lediglich verpflichtet, ihre Transaktionen untereinander durch den Behördencomputer laufen zu lassen.

Auf diese Weise würden Abhängigkeiten, die in der vorhandenen Gesellschaft bestehen, in andere Abhängigkeiten umgewandelt. Heute ist man frei, zwischen Opel und VW zu wählen, aber abhängig von der Grundentscheidung, dass motorisierter Individualverkehr vor öffentlichem Verkehr rangiert. Ferner auch von der Geldmenge, über die man verfügt. Die Geldmenge ihrerseits ist davon abhängig, ob man arbeitslos oder beschäftigt ist, wobei „Beschäftigung“ immer „abhängige Beschäftigung“ meint und selbst wieder davon abhängt, ob man sich in der Hochkonjunktur, in der Krise oder gar wie heute in der schweren Depression befindet. Ob all diese Abhängigkeiten abgestreift werden können, kann jetzt noch nicht erörtert werden. Aber von der zuerst genannten Abhängigkeit habe ich es behauptet. Es ist meiner Behauptung nach eine Andere Gesellschaft möglich, in der man frei wäre, nicht nur die Alibimenge öffentlichen Verkehrs zu genießen, die einem von den herrschenden Mächten, Unternehmern und Staat, zur Verfügung gestellt wird, sondern selbst allererst zu entscheiden, wie groß diese Menge denn sein soll – welche Proportion zwischen öffentlichem Verkehr und motorisiertem Individualverkehr man für kommod und vernünftig hält.

Das wäre eine Befreiung, denn die Zahl der Individuen, die an der Entscheidung teilnähmen, wäre tausendmal größer als heute, es gäbe, was die Wahl dieser Proportion angeht, viel mehr freie Individuen. Um es polemisch zu sagen: Die Individuen würden dem, der ihnen dann noch zu sagen wagte, ihre freie Individualität dürfe sich in ihrer Teilnahme am motorisierten Individualverkehr realisieren, etwas husten. Auf der anderen Seite würden sie natürlich nur in eine andere Abhängigkeit geraten.

Andere Gesellschaft, andere Abhängigkeit: Die Unternehmer wären von einer Wahlentscheidung abhängig, die sie zwar selber mitbestimmen würden, denn sie wären ja als freie Individuen wahlberechtigt, auf die sie aber nicht mehr den ausschlaggebenden Einfluss hätten. Und für die Gesamtheit der Wähler würde gelten, dass sie, hätten sie ihre Wahl einmal getroffen, an deren Ausgang dann auch gebunden wären. Immerhin wären sie nicht mehr von der Wahl der Unternehmer und des Staates abhängig, sondern von ihrer eigenen Wahl. Übrigens würde man auch diese verminderte Abhängigkeit noch weiter reduzieren, erstens durch periodische Wahlwiederholung, zweitens indem ein Wirtschaftsgrundgesetz vorschreiben könnte, dass bei Eintreten gewisser Sondergeschehnisse eine Wahl auch vorgezogen werden dürfte. Das alles ist ja schon in den Parlamentswahlen, die wir haben, erprobt. Dasselbe Gesetz würde aber auch vorschreiben, dass die Individuen, wie weit ihre Freiheit immer gehe, niemals etwas wählen dürften, das die ökologischen Grenzwerte überschritte. Die „Versklavung“ durch ökologische Grenzwerte lebe hoch!

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Ich möchte aus dieser Überlegung für den Begriff der „Revolution“, der mein Ausgangspunkt war, eine einfache Schlussfolgerung ziehen: Den Übergang in die Andere Gesellschaft wollen heißt anstreben, dass eine bestimmte Zahl von „Institutionen“, die man in ihrer Eigenart beschreiben können muss, entweder an die Stelle jetzt vorhandener Institutionen tritt oder diese ergänzt. Die Institution Marktwahl, auch die Institution Wirtschaftsgrundgesetz sind Beispiele. Das ist die Grundidee. Sie muss unabhängig von etlichen Fragen festgehalten werden, die auch irgendwie mit dem Revolutionsbegriff zusammenhängen: wie man verhindert, dass der Übergang zur Anderen Gesellschaft gewaltsam wird (ich glaube, man kann es verhindern), ob bestimmte Gruppen von Individuen eher zu ihm befähigt sind als andere (mir scheint, das ist nicht der Fall) und so weiter.

Aber die Grundidee selber wirft sofort eine Frage auf, die hier noch gestreift werden muss: Dass Institutionen andere Institutionen ersetzen oder ergänzen, muss das denn aus der vorhandenen Gesellschaft herausführen? Natürlich nicht. Was bedeutet dann der Ausdruck „Andere Gesellschaft“? Er bedeutet, dass unter allen Institutionen eine ist – vielleicht auch eine Gruppe, aber im vorliegenden Fall ist es tatsächlich genau eine -, die allen Institutionen, die es überhaupt gibt, ihre Prägung aufdrückt, so dass es nach ihrer Abschaffung keine Institution mehr gibt, die nicht mindestens eine andere Farbe annimmt. Das Institutionensystem überhaupt ist dann insofern anders geworden, und daher hat man eine Andere Gesellschaft. Das bedeutet auch, dass es keineswegs darum geht, möglichst viele vorhandene Institutionen abzuschaffen. Einige neue Institutionen werden freilich entstehen, damit die Lücke gefüllt wird, die das Verschwinden der einen abzuschaffenden Institution hinterlässt, aber daraus folgt nicht, dass auch alle anderen Institutionen verschwinden müssten. Im Gegenteil.

Eine Institution, die nicht verschwinden wird, ist die parlamentarische Demokratie. Darauf werde ich in der nächsten Notiz zurückkommen. Sie wird nicht nur nicht verschwinden, sondern man kann sie geradezu als die erste wesentliche Institution der Anderen Gesellschaft selber ansehen. Freilich existiert sie heute nur in einer Art Exil, nimmt eine ungünstige, sozusagen gelbstichige Färbung an, bleibt unnötig unfrei – sie lässt viel weniger freien Individualismus zu, als möglich wäre – und stellt deshalb doch nur einen  V o r g r i f f  auf die Andere Gesellschaft dar. Sie ist aber nicht nur ein Vorgriff auf sie, sondern auch ihre Existenzbedingung. Wenn überhaupt, kann die Andere Gesellschaft nur auf demokratischem Weg herbeiführt werden.