(5) Der Parlamentarismus ist kein Notbehelf

2. Der Parlamentarismus als Vorschein der Anderen Gesellschaft / Erster Teil – Über den Unterschied des Individuellen und Privaten. Vorschein der Anderen Gesellschaft

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Ich setze das Nachdenken über „die Revolution“ fort. Es geht heute um die These, dass der Übergang zur Anderen Gesellschaft nur auf dem Weg der parlamentarischen Demokratie gelingen kann, weil das die Form der Volksherrschaft ist, weil, anders gesagt, der Weg schon zum Ziel gehört. Die Andere Gesellschaft selber kann nicht anders als parlamentarisch verfasst sein. Nun sprechen gerade Marx und Engels von der parlamentarisch durchgeführten Revolution und machen die Idee auch plausibel. Diese Blog-Notiz ist ganz ihrem Denken gewidmet, denn es ist wichtig zu wissen, dass sie eine andere Haltung zum Parlamentarismus einnehmen als die versunkenen Lehrbücher der realsozialistischen Welt.

Es geht darum, die falsche Vorstellung der Lehrbücher aufzulösen, Parlamentarismus sei nur „bürgerliche Demokratie“ und müsse deshalb in der Anderen Gesellschaft einer „höheren Form“ von Demokratie weichen. Wie die Vorstellung mit der Revolutionsfrage zusammenhängt, ist klar: Wer den Parlamentarismus für „bürgerliche“ Demokratie hält, hat kein Problem damit, ihn in der Revolution über Bord zu werfen.

Mancher mag es überflüssig finden, solche Irrtümer noch zu erörtern. Ist die realsozialistische Welt nicht unwiederbringlich dahin? Doch es gibt Renaissancen. Wenn der Kapitalismus seinen Kredit verspielt, werden viele zuerst an die vergangene Sozialismusgestalt denken und sich fragen, ob sie nicht doch das Bessere war. Außerdem gibt es in zugespitzten Situationen den Willen zur Radikalität. Das ist ja auch gut so. Eine Wende zur Anderen Gesellschaft wird nur durch radikales Handeln herbeigeführt werden können. Die Revolutionen der Vergangenheit faszinieren durch ihre Radikalität, das Radikale scheint darin zu liegen, dass Zwang und Gewalt und nicht parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse ihre Bewegungsform waren. 1789 und 1830 in Frankreich, 1848 dort und anderswo, 1917 in Russland, 1918 in Deutschland, noch 1974 in Portugal, es waren immer Zeiten, in denen die parlamentarische Geltung suspendiert wurde, wenn es sie vorher überhaupt gegeben hatte. Und ist denn schon einmal durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluss eine Andere Gesellschaft entstanden?

Doch was ist radikal? Radikal sein heißt die Dinge bei der Wurzel packen, lesen wir gerade bei Marx. Damit hat er das Wort nur ins Deutsche übersetzt: radix, die Wurzel. Wenn es falsch ist, im Parlamentarismus „bürgerliche Demokratie“ zu sehen, dann ist es auch nicht radikal, ihn über Bord zu werfen. Überhaupt liegt die erste Bedingung aller Radikalität im Willen zur Wahrheit, auch wenn diese unangenehm ist, zur Trennung von gewohnten Vorstellungen zwingt und womöglich „Gesichtsverlust“ zur Folge hat. Ich selbst habe entscheidende Informationen über die Haltung von Marx und Engels erst kürzlich in der neuen Marx-Biografie meines Freundes Rolf Hosfeld gefunden. Er polemisiert übrigens heftig gegen Marx, und ich stimme mit vielen Thesen seines Buches nicht überein. Trotzdem war die Lektüre ein großer Gewinn. Das Buch soll im September bei Piper erscheinen.

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In einer Schrift aus dem Jahr 1895 resümiert Engels sehr selbstkritisch die Vorstellungen, die er und Marx sich vormals von der Revolution gemacht hatten. Die Betrachtung enthält den prophetischen Satz, die „totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens“ habe „jeden anderen Krieg unmöglich [gemacht] als einen Weltkrieg von unerhörter Greuelhaftigkeit und von absolut unberechenbarem Ausgang“ (Einleitung zu Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich“, MEW 22, S. 517). Dieser Satz wird in der genannten Marx-Biografie als Urteil über die Unmöglichkeit künftiger Revolutionen aufgefasst; sie stellt damit einen Zusammenhang her, den Engels gar nicht ausspricht, den er aber zweifellos impliziert.

Hosfeld erinnert daran, dass Marx und Engels sich unter einer Revolution immer auch den Revolutionskrieg vorgestellt hatten. Eben von dem „Weltkrieg“, der 1895 unmöglich geworden war und 1914 dennoch entfesselt werden sollte, hatten sie 1848 noch selber geträumt. Er würde vom europäischen Proletariat geführt werden und sich gegen das zaristische Russland richten, den Hort der Reaktion. Die Feldzüge Napoleons waren das Muster, hatten sie doch in kurzer Zeit ganz Europa mit einigen Errungenschaften der französischen Revolution vertraut gemacht. Marx war überdies von Lincolns Krieg gegen die Südstaaten der USA begeistert. Diesen Krieg macht er nicht madig mit der Behauptung, es sei gar nicht um die Befreiung der Sklaven, sondern um die Handelsinteressen der Nordstaaten gegangen. Im Gegenteil, er schickte Lincoln ein Glückwunschtelegramm. Wenige Jahrzehnte später jedoch war der Zusammenhang von Krieg und Befreiung kein Vorbild mehr. Auch der Bürgerkrieg innerhalb eines Landes war zwischen 1848 und 1895 obsolet geworden: „Damals die relativ schwach wirkenden Vollkugeln und Kartätschen der Artillerie, heute die Perkussionsgranaten, deren eine hinreicht, die beste Barrikade zu zertrümmern.“ (S. 521)

Wenn Engels nun empfiehlt, das Proletariat solle sich künftig der Waffe des allgemeinen Stimmrechts bedienen, so wird man ihm zunächst ein bloß instrumentelles Verhältnis zum Parlamentarismus unterstellen. Zu Unrecht, denn er schreibt: „Die revolutionären Arbeiter der romanischen Länder hatten sich angewöhnt, das Stimmrecht als einen Fallstrick, als ein Instrument der Regierungsprellerei anzusehn. In Deutschland war das anders. Schon das ‚Kommunistische Manifest‘ hatte die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie, als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des streitbaren Proletariats proklamiert, und Lassalle hatte diesen Punkt wieder aufgenommen. Als nun Bismarck sich genötigt sah, dies Wahlrecht einzuführen als einziges Mittel, die Volksmassen für seine Pläne zu interessieren, da machten unsere Arbeiter sofort Ernst damit und sandten August Bebel in den ersten konstituierenden Reichstag. Und von dem Tage an haben sie das Wahlrecht benutzt in einer Weise, die sich ihnen tausendfach gelohnt und die den Arbeitern aller Länder als Vorbild gedient hat. Sie haben das Wahlrecht […] verwandelt aus einem Mittel der Prellerei, was es bisher war, in ein Werkzeug der Befreiung.“ „Und so geschah es, dass Bourgeoisie und Regierung dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion.“ (S. 518 f.)

Mit andern Worten, das Parlament gehört der Bourgeoisie und dem Proletariat gleichermaßen, beide suchen hier den Sieg, und Siegen heißt die Mehrheit Erlangen. Noch deutlicher als Engels formuliert Marx die Mehrheitshoffnung. In eben der Schrift, zu der Engels das zitierte Vorwort schreibt, äußert er sich über eine parlamentarischen Verfassung folgendermaßen: „Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen.“ (MEW 7, S. 43) Marx bezieht sich auf eine bestimmte Verfassung des Sommers 1849, doch sein Urteil hat den Parlamentarismus selber zum Gegenstand.

Seine und Engels‘ Stellungnahme ist mit der Vorstellung nicht verträglich, als sei der Parlamentarismus ein Notbehelf in Zeiten, wo nicht gewaltsam gekämpft werden kann. Umgekehrt: Solange es keinen Parlamentarismus gab, musste zum Notbehelf der Gewalt gegriffen werden. Im übrigen unterstreicht Marx, dass die Bourgeoisie ihre Herrschaft nicht freiwillig in „Bedingungen zwängt“, die den Sieg ihrer Gegner ermöglichen, sondern dass sie vom Volk dazu gezwungen wird. Ebenso später Engels, ich habe es zitiert: „Als nun Bismarck sich genötigt sah, dies Wahlrecht einzuführen…“ Damit ist bewiesen: Mögen die Verfassungen, die wir kennen, noch so „bürgerlich“ geprägt sein, gerade ihr Herzstück, die allgemeinen, freien und gleichen Wahlen, sind es nicht. Sie sind die mächtige Spur, die das Volk in ihnen hat hinterlassen können. Wer sich gegen dies Herzstück vergeht, ist ein Volksfeind. Es ist ja auch logisch: Wenn das Revolutionsziel, wie Marx im Kapital schreibt, „die Expropriation [Enteignung] weniger Usurpatoren durch die Volksmasse“ ist (MEW 23, S. 791), wie könnte deren Kraft besser ins Gewicht fallen als durch Mehrheitsentscheidungen?

Auch wenn er von der „Diktatur des Proletariats“ sprach, schwebte ihm nichts anderes vor. Das wird in seiner Schrift über die Pariser Commune 1871 deutlich. Er formuliert dort, die Kommune berge das „Geheimnis“, dass sie „wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse“ sei (MEW 17, S. 342). Das war eine kühne Behauptung, da der Arbeiteranteil am Generalrat der Commune nur 40 Prozent betrug und die Arbeiter keinerlei Sonderrechte besaßen. Der Rat war durch allgemeine Wahlen konstituiert worden, wobei auf je 20.000 Einwohner ein Delegierter kam und bei der Vorbereitung darauf geachtet wurde, dass auch die Bourgeois-Viertel sich beteiligten. Hier gab es keine – mit Lenin zu sprechen – „unter der Kontrolle und Leitung des bewaffneten Proletariats stehenden Techniker, Aufseher, Buchhalter“ (Lenin Werke 25, S. 440) wie in der Sowjetunion. Und doch „wesentlich“ eine „Regierung der Arbeiterklasse“? Offenbar weil Marx glaubte, in einem solchen System würde sich die Sache der Arbeiter notwendig durchsetzen. Nicht aber, weil er sich deren undemokratische Gewaltherrschaft wünschte. Engels unterstreicht noch 1891 (in der Einleitung zu dieser Marxschen Schrift, MEW 17, S. 625): „Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“

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Nun muss Marx, kaum hat er festgestellt, dass jene Verfassung des allgemeinen Stimmrechts die Volksklassen „in den Besitz der politischen Macht setzt“, schon eine Buchseite später feststellen: Diese Klassen, weit entfernt, „die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage zu stellen“, wählen vielmehr Napoleon III. Besonders von den Bauern erhält der Mann, der die bürgerliche Gesellschaft nicht antastet, sondern kräftig fördert, sehr viele Stimmen. Marx und Engels versuchten sich seinen Sieg als Ausnahme zu erklären. Doch in Wahrheit zeigte sich schon hier, der Parlamentarismus bietet kein Schauspiel eines stetig wachsenden und zuletzt siegreichen antikapitalistischen Lagers. Je mehr er sich im 20. Jahrhundert einspielt, desto typischer wird ein ganz anderes Phänomen: der Zerfall der Parlamente in zwei ungefähr gleich große Parteien oder Parteiblöcke. Bauern wählen mehr den einen, Arbeiter mehr den anderen Block. Besonders wenn von einem Wahlausgang viel abhängt, kommen verblüffend oft regelrechte Fifty–fifty-Ergebnisse zustande. In marxistischer Perspektive bedeutet das, „die Volksmasse“ ist systematisch gespalten; die „Enteignung der Enteigner“ durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluss will sich nicht anbahnen.

Der erste und bis heute fast einzige, der diese Situation theoretisch zu erfassen versuchte, war der italienische Marxist und Parteiführer Antonio Gramsci. Er schrieb, die Bourgeoisie verbünde sich abwechselnd mal mit den städtischen, mal mit den ländlichen unterworfenen Klassen und arbeite derart ständig an deren Spaltung. Sicher war die Erklärung zu kurz gegriffen, schon weil die unterworfenen Klassen niemals gleichstark sind; auch kommt es viel zu systematisch zum parlamentarischen Gleichgewicht, als dass man es aus einer bewussten Intrige der Kapitaleigner erklären könnte. Richtig ist aber, dass Arbeiterparteien und eher kleinbürgerliche bzw. -bäuerliche Parteien, die nach Marx gemeinsame Sache gegen das Kapital machen müssten, sich vielmehr gegenseitig bekämpfen und um den besseren Kapitalismus miteinander wetteifern.

Warum das so ist, soll uns jetzt nicht beschäftigen. Ich möchte nur den Hauptpunkt unterstreichen: Wenn man sagen will, dieses System sei „bürgerlich“ – im Sinn von „der Kapitalherrschaft förderlich“ -, soll man nicht den Parlamentarismus mit dem parlamentarischen Zwei-Parteienblöcke-System verwechseln. Der Parlamentarismus als solcher ist nicht „bürgerlich“. Wer ihn ablehnt, lehnt die Möglichkeit eines Übergangs zur Anderen Gesellschaft ab. „Bürgerlich“ kann nur das Zwei-Blöcke-System im Parlament sein. An dessen Auflösung müsste man arbeiten, um den Übergang möglich zu machen.

Doch wie seltsam, die meisten Systemkritiker sind weit entfernt, dergleichen auch nur zu wollen. Vielmehr richten sie sich im Vorhandenen ein, sind stolz auf ihr „Linkssein“ – mit den Worten „rechts“, „links“ beschreiben und drapieren sie die Spaltungsordnung der Blöcke – und wundern sich gar nicht, dass es ungefähr gleichviel „Linke“ wie „Rechte“ gibt. Statt sich zu wundern, bestreiten sie lieber, dass der sich auf Arbeiter berufende Parteiblock wirklich links sei, nein, das sei er ja gar nicht, Struck und Schröder seien doch nicht links; diese Ausflucht hindert sie aber niemals, den einen Block gegen den anderen zu unterstützen und sich seiner Disziplin zu unterwerfen. Sie sind „links“, das heißt, sie kämpfen gegen eine ganze Bevölkerungshälfte! – und bilden sich noch ein, das sei ein antikapitalistischer Kampf.