(6) Die Abgehobenheit der Parlamente

2. Der Parlamentarismus als Vorschein der Anderen Gesellschaft / Erster Teil – Über den Unterschied des Individuellen und Privaten. Vorschein der Anderen Gesellschaft

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In der vorigen Notiz habe ich die gute Erbschaft von Marx und Engels hervorgehoben: ihren eindeutigen Willen zum demokratischen Mehrheitsprinzip. Doch es gibt ein Problem, denn es ist auch wahr, dass Lenin sich auf dieselbe Erbschaft stützen konnte, um Parlamentarismus und Mehrheitsprinzip auszuhebeln. Ja, Marx hat den Anlass gegeben, jedenfalls Vorschub geleistet. Mit seiner Kritik nämlich, der Parlamentarismus sei eine Körperschaft, deren gewählte Vertreter sich gegen die Vertretenen, die Wähler, verselbständigten. Nicht wahr, er hatte doch recht? Wird nicht dieselbe Kritik bis heute erhoben? Beklagen wir nicht mehr denn je, dass der Bundestag, obwohl aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen, den Willen der Bevölkerung missachte?

Doch die Frage ist, welchen Schluss man daraus zieht. Es wird davon abhängen, worauf man die Verselbständigung zurückführt. Was Marx hierzu äußert, ist nicht sonderlich klar. Demokratie heißt für ihn nicht nur Mehrheitsprinzip, sondern auch Selbstverwaltung der Produzenten. Da hat er schon seine Antwort: Zur Verselbständigung kommt es, weil an die Stelle der Selbstverwaltung die Repräsentation durch Abgeordnete tritt. Nun weiß Marx natürlich, dass Repräsentation unvermeidlich ist, wenn sich eine Stadt, eine ganze Gesellschaft ihren Mehrheitswillen soll bilden können. Selbstverwaltung im originären Sinn – dass eine überschaubare Gruppe nicht nur gemeinsam arbeitet, sondern sich auch zur Beratung versammelt und am Ende abstimmt – ist dann nicht mehr möglich. Marx steht also vor einem Widerspruch.

Er löst ihn so auf, dass er der Repräsentativkörperschaft möglichst viel Ähnlichkeit mit einer Selbstverwaltungskörperschaft zu geben versucht. Dazu bieten sich ihm zwei Mittel, erstens das imperative Mandat. Es bewirkt, dass im Vertretungsorgan auch die Vertretenen nahezu anwesend sind, insofern, als jeder Vertreter ständig bemüht sein muss, dem Misstrauen der Vertretenen zuvorzukommen. Zweitens, die Vertretung soll „nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit“. Marx will also die Abgehobenheit des Parlaments dadurch beseitigen, dass es sich nicht auf Gesetzgebung beschränkt, sondern Legislative und Exekutive zugleich ist. Und warum soll das besser sein? Wieder wegen der Analogie zur Selbstverwaltung, wo die, die zusammenarbeiten, Beschlüsse eben über die Zusammenarbeit fassen und diese insofern selbst umsetzen, als sie schlicht weiterarbeiten. Vielleicht arbeiten sie nun etwas anders wegen der orientierenden Selbstreflexion ihres Beschlusses.

Deshalb spricht Marx von einer „arbeitenden“ Körperschaft. Nur, es ist ja keine. Was sind denn Vertreter, die nicht nur als Parlamentarier parlieren (die Vorstellung des Parlaments als „Quatschbude“ schwingt mit), sondern die auch „arbeiten“, also exekutieren, Beamte sind? Tun Beamte etwas anderes als Reden und Schreiben? Nein, es ist nicht ihre Tätigkeitsform, die sie von den Abgeordneten unterscheidet. Sondern ihr Sprachspiel: Während Abgeordnete Behauptungen austauschen, üben Beamte gesetzliche Befehlsgewalt. Und da sieht man den springenden Punkt: Den vertretenen Produzenten kommen beide Sprachspiele nicht zu. Und daher, ob Abgeordneter und Beamter nun zwei Personen sind oder eine, abgehoben von der Gesellschaft bleibt ihre Sphäre allemal. Deshalb darf gefragt werden, ob es nicht, wenn sich an der Abgehobenheit ohnehin nichts ändert, aus anderen Gründen dann doch besser ist – Gründen der Arbeitsteilung, aber auch der Machtteilung -, die Rollen des Gesetzgebers und dessen, der vollzieht, getrennt zu halten.

Überdies widerspricht Marx sich selbst, denn sein Modell kennt „kommunale, d.h. streng verantwortliche Beamte“ durchaus, Menschen also, die nur vollziehen sollen. Was soll denn nun gelten? Sollen die Beamten streng kontrolliert werden oder sollen sie zugleich Gesetzgeber sein? Wenn es möglich ist, sie streng zu kontrollieren, kann man sich das andere doch schenken.

Und ob die Abgehobenheit durchs imperative Mandat beseitigt wird, ist mehr als fraglich. Es geht doch nur darum, dass Vertreter die Überzeugung von Vertretenen umsetzen. Sie tun das in einem besonderen Feld, dem der Gesetzgebung, so dass es eigentlich naheliegend wäre, sie als Spezialisten zu begreifen, Vertreter und Vertretene also als Glieder wiederum einer Arbeitsteilung. In solcher Perspektive wäre es geboten, den Vertretern ein Vorschussvertrauen zu gewähren und sie, wenn sie es missbrauchen, erst nachträglich abzuwählen, statt dass man ihre Spezialistentätigkeit durch Rückkopplungspflicht bei jeder Einzeltat massiv erschwert. Wenn sie jedesmal die Basis fragen müssen, sieht man daran doch nur, dass die Abgehobenheit ihrer Sphäre von vornherein unterstellt ist. Das imperative Mandat ist ein Mittel der Vertretenen, sich vor dieser Abgehobenheit dadurch zu schützen, dass sie die Vertreter auf Schritt und Tritt überwachen. Es beseitigt die Abgehobenheit also nicht, sondern ist nur eine Methode, und vielleicht nicht immer die beste, sie durch Kontrolle zu vermindern.

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Das ist alles nicht zuendegedacht, aber eins bleibt für Marx absolut klar: Am Mehrheitsprinzip rüttelt er nicht. Ich habe oben aus seiner Schrift über die Pariser Commune zitiert. Deren Vertretungskörperschaft, was immer Marx über ihre Arbeitsweise ausführt, „bildete sich“ jedenfalls „aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten“ (dieses und die vorigen Zitate MEW 17, S. 339 f.).

Auch für Engels ist das Mehrheitsprinzip unhinterfragbar. Der späte Engels kann den Parlamentarismus ganz vorbehaltlos loben (ich habe es in der vorigen Notiz zitiert), denn er sieht die ersten parlamentarischen Erfolge der SPD mit an. Ausdrücklich entwirft er einen rein parlamentarischen Übergang in die Andere Gesellschaft: Im zeitgenössischen England, schreibt er 1886, „[könnte] die unvermeidliche soziale Revolution gänzlich mit friedlichen und gesetzlichen Mitteln durchgeführt werden“. Dieses Zitat ist wegen des Stichworts „friedlich“ bedeutsam. Manch einer mag glauben, eine Revolution, die nicht gewaltsam verlaufe, sei keine Revolution mehr, aber Engels sieht das nicht so. Dabei weiß er, dass der Friede immer bedroht ist: Kaum sei zu erwarten, „die herrschenden Klassen Englands würden sich ohne ‚proslavery rebellion‘ [Rebellion für die Sklaverei] dieser friedlichen und gesetzlichen Revolution unterwerfen“. Marx, fügt er hinzu, habe in allem genauso gedacht. (Vorwort zum Kapital, Buch I, MEW 23, S. 40)

Die Gefahr, dass ein Militärputsch, ein Ausnahmestaat die Früchte der gesetzlichen Revolution zunichte macht, ist wohl noch größer, als Engels annahm. Das heißt aber nur, es gehört zu den Bedingungen des Problems der Anderen Gesellschaft, dass man entweder fähig ist, solche Gegenwehr zu besiegen, oder sie gar nicht erst provoziert. Wie letzteres möglich wäre, ist die eigentlich spannende Frage. Jedenfalls tritt die Gefahr beim Übergang zur Anderen Gesellschaft notwendig auf, weil auch der Staat, in dem das allgemeine Wahlrecht gilt, nicht nur aus Parlamenten besteht. Politische Kräfte, die zur parlamentarischen Minderheit geworden sind, können gleichwohl in anderen Staatsapparaten, Schule, Justiz, Polizei, Armee, die Mehrheit behalten haben. Welche Mittel sie dann gesetzwidrig einsetzen, um den Stillstand der Gesellschaft erzwingen, ist eine offene Frage. Aber noch einmal, all das ändert am Mehrheitsprinzip gar nichts; an ihm halten Engels und Marx unter allen Umständen fest.

Nicht so Lenin. Lenin erkennt das Mehrheitsprinzip zwar an, noch mehr ist ihm aber daran gelegen, dass ein Staat von der richtigen Klasse beherrscht werde: „Demokratie ist  n i c h t  identisch mit Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit“, schreibt er. „Demokratie ist ein die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit anerkennender  S t a a t , d.h. eine Organisation zur systematischen  G e w a l t a n w e n d u n g  einer Klasse gegen die andere, eines Teils der Bevölkerung gegen den anderen.“ (Lenin Werke 25, S. 469) Das heißt, dieser „andere Teil“ wird gar nicht zur Abstimmung zugelassen, denn Diktatur „bedeutet […] unbedingt die Aufhebung der Demokratie […] für die Klasse, über welche oder gegen welche die Diktatur ausgeübt wird“ (LW 28, S. 233).
Wie man weiß, ging er in der Praxis noch weiter: Wenn Parteien auftraten, die zwar die guten Klassen repräsentierten, jedoch nach Lenis Urteil die Macht an die schlechten Klassen weitergaben, „über welche“ doch „die Diktatur ausgeübt wird“, entzog er ihnen das Stimmrecht. So jagte er nach der russischen Revolution die Konstituierende Versammlung auseinander, weil die Rechten Sozialrevolutionäre, eine Kleinbürger- und Kleinbauernpartei, in ihr die Mehrheit hatten.

Mit der Lehre von Marx hat das nichts mehr zu tun. Bei Marx bedeutet Klassenherrschaft der Arbeiter ganz einfach, dass die Mehrheit des Volkes aus Arbeitern besteht, deshalb Wahlen gewinnt und also regiert. Eine Gewaltherrschaft von Arbeitern, die in der Minderheit sind, oder vielmehr einer Partei, die „im Interesse“ dieser Minderheit regiert und sie noch ihrerseits beherrscht, sieht Marx nicht vor. Übrigens breche ich nicht den Stab über Lenin, wenn ich das feststelle, denn auch wer sich zu Unrecht auf Marx beruft, kann für sein Land das Richtige getan haben. Einen Weg für „England“ (siehe oben) hat Lenin aber nicht gewiesen.

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Doch er konnte sich auf Marx stützen. Auf welchen Marx? Auf den Marx der Abgehobenheit der Parlamente. „Die Vertretungskörperschaften bleiben“, schreibt Lenin über die Andere Gesellschaft, „aber den Parlamentarismus als besonderes System, als Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Tätigkeit, als Vorzugsstellung für Abgeordnete gibt es hier nicht.“ (LW 25, S. 437) So wird aus einer Unklarheit bei Marx ein regelrechter Lehrsatz, der hervorragend zu Lenins Vorstellung von der staatlichen Klassengewaltherrschaft passt. Denn obwohl Lenin zunächst nur sagen will, dass dem Parlament eine Sowjetversammlung (Räteversammlung) vorzuziehen sei, schwingt auch die Relativierung des parlamentarischen Mehrheitsprinzips mit; deshalb kann es später scheinen, dass Mehrheitsprinzip und parlamentarisches Prinzip überhaupt dasselbe seien, und im Zweifel gilt beides nicht mehr. Als Lenin Widerstand aus den Sowjets entgegenzuschlagen beginnt, schränkt er deren Rechte ein. In Stalins Verfassung wird „Sowjet“ zum Namen ganz eigenartiger Parlamente, in denen niemals eine Mehrheit ermittelt, eine Minderheit überstimmt werden darf. Minderheiten, die sich als solche bekennen, darf es dann überhaupt nicht mehr geben.

Das ist eine Erfahrung. Ich lerne aus ihr: Wer das Mehrheitsprinzip nicht in seiner parlamentarischen Gestalt anerkennt, wie es Marx und Engels nicht von Anfang an, schließlich aber doch getan haben, wird es bald gar nicht mehr anerkennen können.

Denn die Einsicht wird sich aufdrängen, dass nicht nur die parlamentarische Gestalt des Mehrheitsprinzips „sich gegen die Gesellschaft verselbständigt“, „abgehoben ist“ und so weiter, sondern dass schon das Mehrheitsprinzip selber dies Phänomen notwendig erzeugt. Sobald wir es nicht mehr mit Mehrheiten einer überschaubaren Versammlung, sondern einer ganzen Gesellschaft zu tun haben, wird das offensichtlich. Jeder Wähler, jede Wählerin muss doch fassungslos vor dem schrägen Mehrheits-Konglomerat stehen, das sich da immer wieder zusammenbraut, obwohl es „von niemandem gewollt wurde“. Am Mehrheitsprinzip führt dennoch nichts vorbei. Man muss nur dafür sorgen, dass die Exekutive, die sich auf die Mehrheit beruft, jederzeit mit Mehrheit abgewählt werden kann. Denn so viel ist klar: Die Verselbständigung einer Exekutive, die nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen ist, ist allemal noch viel größer. Zuletzt entsteht ein Fetisch wie „Stalin“, der Führer und Gott.

Mir scheint, dass diese Überlegung zu einem Grundirrtum im gesamten Werk von Marx führt. Er ist nämlich  g e n e r e l l  gegen Verselbständigungen, sieht darin immer die handgreifliche Metaphysik, die verrückte Verkehrung, immer postuliert er, die Gesellschaft müsse sich den jeweiligen „Fetisch“ wieder aneignen. Dies lässt sich aber nicht durchführen, es sei denn, man schüfe ganz zuerst das Prinzip der Mehrheit ab, die als anonyme Mehrheit in der Massengesellschaft ein typischer Fetisch ist. Wenn es sich bei der Mehrheit nicht durchführen lässt, kann es sein, dass auch andere Fetische in Geltung bleiben müssen. Man muss offenbar erst einmal unterscheiden, welche Fetische unvermeidlich sind und welche abgeschafft werden können. In einem zweiten Schritt wird man dann die unvermeidlichen Fetische einer Kontrolle unterwerfen. Denn wenn sie schon unvermeidlich sind, sollen sie sich nicht auch noch autonom entfalten dürfen. Das Mehrheitsprinzip gibt die beste Anschauung: Eine gewisse Verselbständigung exekutiver und legislativer Gruppen muss hingenommen werden, aber wenn es Mittel gibt, sie jederzeit abzuberufen, ist das nicht schlimm.