(47) Unheimliche Begegnung der dritten Art

4. Theorien über den Wert: Der innermarxistische Positivismusstreit

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Wir sehen jetzt zu, wie die Vertreter der Neuen Marxlektüre den Tauschwert als „Gedachtes“ erörtert haben, in Adornos Nachfolge, und beginnen mit dessen Schüler Hans-Georg Backhaus. „Zwar ist der Wert ein Gedachtes“, schreibt Backhaus 1969, „aber kein ‚Begriff‘ im Sinne der formalen Logik: eine spezifische Differenz lässt sich ebenso wenig aufzeigen wie ein materielles Korrelat. Er ist kein Gattungsbegriff“, worauf ein Adorno-Zitat folgt: „sondern ‚ein vom logischen Umfang, der Merkmalseinheit irgendwelcher Einzelelemente total verschiedenes Begriffliches‘.“ (Zur Dialektik der Wertform, in Alfred Schmidt [Hg.], Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M., S. 128-152, hier S. 144) Backhaus dürfte nicht „sondern“ sagen, denn die Worte Adornos wiederholen nur noch einmal, dass es sich um keinen Gattungsbegriff handelt. In der Tat ist es vielmehr ein Gleichungsbegriff, wie wir in der vorigen Notiz und schon früher gesehen haben. Der Wert hat keine Wert-Arten unter sich: Er ist nur dadurch bestimmt, dass er mit einem anderen Wert das Gleiche ist.

Das können aber weder Adorno noch Backhaus so sagen. Wenn sie es mit Begrifflichem außerhalb von Gattungs-, also  a r i s t o t e l i s c h e r  Logik zu tun haben, wissen sie gleich gar nicht, was ihnen denn da begegnet. Es gibt aber neben Gattungslogik Gleichungslogik, und sie ist eben etwas ganz anderes. In der 40. Notiz haben wir gesehen, dass die Gleichung nur begriffen werden kann, wenn man aufhört, sie mit aristotelischen Denkmitteln rekonstruieren zu wollen. Man muss sie vielmehr ihrerseits zum Denkmittel machen, und es ist umgekehrt die aristotelische Logik, die der Rekonstruktion bedarf. Das hat Gottlob Frege vorgeführt, der später als Marx forschte. Obwohl es in Freges Logik keine „spezifischen Differenzen“ und „materiellen Korrelate“ mehr gibt, ist sie das, was man heutzutage unter Logik versteht.

Adorno und Backhaus greifen nicht auf Frege zurück. Aber wenigstens halten sie fest, was sie nicht verstehen. Sie tun nicht so, als sei da gar nichts. Ja, da ist ein „Begriffliches“, also „Gedachtes“ – welcher Art auch immer! Übrigens wissen sie natürlich, dass der Tauschwert nicht  n u r  Gedachtes ist; das, woraus man ihn erschließen kann, ist ja eine reale Operation, die, in der Ware und Geld getauscht werden. Sie sprechen deshalb von einer „Realabstraktion“: Das Gedachte stellt sich als Ding dar. Die Dinge selber scheinen zu denken, was sie aber natürlich nicht tun. Das Geld ist jedenfalls ein Ding, die gedachte Tauschäquivalenz als Ding. Ich habe das in meiner Terminologie immer schon berücksichtigt und Adornos Annahme als eine vom Gedachten „im“ Tauschwert, der ein Ding ist, bezeichnet. Aber genau wenn wir so differenzieren, gelangen wir in die Kalamitäten der Debatte über den Tauschwert als Gedachtes hinein. Denn was soll man sich unter einer „Realabstraktion“ eigentlich vorstellen?

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Wir machen einen Sprung zu Backhaus 2002, dem Aufsatz Der widersprüchliche und monströse Kern der nationalökonomischen Begriffsbildung (in Iring Fetscher/Alfred Schmidt, Emanzipation als Versöhnung. Zu Adornos Kritik der ‚Warentausch‘-Gesellschaft und Perspektiven der Transformation, Frankfurt/M., S. 111-141). Hier wird das Verhältnis von Dinglichkeit einer Sache und Gedachtsein derselben Sache, die als Einheit von beidem „Realabstraktion“ ist, als Paradox der bürgerlichen ökonomischen Wissenschaft dargestellt. Bürgerliche Ökonomen, so Backhaus, versuchen ihr Objekt mit quasi-naturwissenschaftlichen Methoden zu erfassen, wobei es ihnen dann aber notwendigerweise unterläuft, dass das auch beteiligte Gedachte, von dem sie nichts wissen wollen, „in der Gestalt monströser Entitäten“ wiederkehrt. Backhaus beruft sich auf Adorno, der dasselbe schon an Emile Durkheim demonstriert, und auf Marx, der von „Mystifikationen“ der bürgerlichen Theorie spricht und von der „Verrücktheit“ der Ware selber, die eine „reelle Mystifikation“ sei. (S. 111 f.)

Die Theoriegeschichte, die Backhaus liefert, ist sehr erhellend. Er zitiert zum Beispiel eine Schrift aus dem Jahr 1943: Dem Geldtheoretiker Walter Taueber zufolge haben wir es bei sozialwissenschaftlichen Objekten mit „‚Objektivationen‘ einer ‚überindividuellen Macht'“ zu tun, „wie sie sich etwa in ‚Gelddingen als Körper‘ darstellt […]. Dabei ist zu bedenken, dass der ‚unsinnlichen Gestalt‘ Geld ein höchst paradoxer Charakter eignet: einerseits ist es ’nicht greifbar, noch wahrnehmbar‘, gilt insofern als ein nur  ‚ q u a s i – ‚ räumliches Ding, andererseits erscheint es als räumliches  ‚ D i n g ‚ , steht den Menschen ‚transzendent‘ gegenüber, erscheint als ein ‚Transzendentes‘, das ‚kein Begriff, sondern eine Realität ist‘, ein quasi  ‚ [ R ] ä u m l i c h e s ‚.“ Backhaus verallgemeinert: „Vom Standpunkt der quantitativen Ökonomie gibt es keine Antwort auf die Frage, wie sich die Seinsweise dieser Entitäten bestimmen lässt. Handelt es sich um bloße Metaphern und monströse Fiktionen oder um eine objektiv vorgegebene Quasi-Realität?“ (S. 115)

Jedenfalls um „reale Abstraktionen“: Diesen Begriff übernimmt er von Georg Simmel, der schon 1900 geschrieben hatte, „dass es einen ‚objektiven (…) Vorgang‘ geben muss, der ’sozusagen‘ davon ‚abstrahiert‘, dass die [Tausch-] Dinge ungleich sind, und eine ‚Gleichheit derselben‘ herstellt. Dies besagt, dass nicht nur die ‚Betrachtung der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft selbst sozusagen in einer realen Abstraktion (…) besteht‘.“ (S. 117) Marx hatte sehr ähnlich formuliert, „dass die ‚Gleichheit‘ der Dinge immer ’nur in einer Abstraktion von ihrer wirklichen Ungleichheit bestehn‘ kann“, und zwar sei es  d a s  S y s t e m  g e l t e n d e r  P r e i s e , „in dem die Waren sich ‚als qualitativ dasselbe‘ präsentieren, als je schon anonym gleichgesetzte, keineswegs auf Grund subjektiv-individueller Wertschätzungen“ (S. 119, bei Marx MEW 23, 87; MEW 19, S. 374).

Besonders bezeichnend findet Backhaus die Sicht von Adolph Lowe, Politische Ökonomik, Frankfurt/M. 1965, der die „provokante These“ aufgestellt hat, „dass insbesondere das physikalische ‚  E r h a l t u n g s p r i n z i p  ‚ als ’stillschweigende Voraussetzung aller traditionellen Lehren‘ der Nationalökonomie als Disziplin zugrundeliegt; sie verdankt ihre Existenz demnach einer problematischen Analogie.“ Auch Marx scheine dem „Prinzip der ‚Erhaltung der wirtschaftlichen Energie'“ gefolgt zu sein, denn zustimmend habe er Say zitiert mit den Worten, der „Austausch zweier ungleicher Werte“ ändere „nichts an der Summe der gesellschaftlichen Werte“. (S. 120) Nun, bald genug muss Backhaus seinen Eindruck relativieren, denn es gibt doch „Unterschiede“ zwischen Say und Marx, „die schon daraus hervorgehen, dass sich aus dem statischen Energie-Erhaltungssatz das Wert – W a c h s t u m  […] nicht erklären lässt“. Er bleibt aber dabei: „Doch im statisch-stationären Kontext – Marxens ‚einfacher Zirkulation‘ – dürfte sich diesem Satz ein rationeller Kern kaum absprechen lassen.“ Und er findet das „Erhaltungsprinzip“ bei Schumpeter wie bei Keynes wieder: „Beide Autoren sprechen der Sache nach von gleichzusetzenden Wertsummen, Keynes nahezu wörtlich.“ Und zwar habe Keynes ja geschrieben, „dass das ‚gesamte Einkommen‘ einen (prämonetären) ‚Wert haben muss‘, der ‚genau gleich‘ dem (prämonetären)  ‚ W e r t (!)  der Produktion ist'“. (S. 121)

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Spätestens hier muss uns auffallen, dass die „monströsen Entitäten“ nicht nur in der bürgerlichen Ökonomie wiederkehren, sondern bei Backhaus selber. Denn er macht sich das „Erhaltungsprinzip“ zueigen, obwohl er es zunächst als „problematische Analogie“ bezeichnet hatte. Das ist es in der Tat! Und wiederum spätestens wenn er Keynes zitiert, sehen wir,  w o r i n  bei allen Beteiligten das Problematische liegt: Keynes fasst  e i n e  G l e i c h u n g  in Worte – eine so schlechterdings unfassbare Figur, dass Backhaus wie Lowe auf den Energieerhaltungssatz glauben zurückgreifen zu müssen, um sie begreifen zu können. Der Backhaus unbekannte Witz ist aber, dass der Energiesatz seinerseits und sein Gegenstand, die „Energie“ selber, noch viel unfassbarer sind als die Gleichung. Denn unter Energie versteht man, was einem materiellen System zugefügt oder entzogen werden muss, um es umzuwandeln oder fortzubewegen: d Q (die einem System zugeführte Energie) = d U (die Zunahme der inneren Energie des Systems) + Delta A (der Energieanteil, der, in andere Energieformen umgewandelt, das System verlässt). Es ist eine Definition, die sich im Kreis dreht; Julius Robert Mayer, der den Erhaltungssatz 1842 erstmals formulierte, meinte, man spreche da von „nichts anderem als einer universellen Beziehung“ (vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III, Darmstadt 1954, S. 540).

Statt dass uns die Gleichung durch den Energieerhaltungssatz verständlicher wird, führt dieser uns wieder nur vor, wie eine Gleichung funktioniert. Denn dass eine Energieart in eine andere umgewandelt wird und dabei „das Gleiche“ bleibt, „im geschlossenen System keine Energie verloren geht“, wie man sagt, ist genauso wahr wie dass 2 + 2 als das Gleiche in 4 umgewandelt werden kann, vorausgesetzt, es dringen keine fremden Zahlen in dieses geschlossene System 2 + 2 = 4 während der Umwandlung ein und das System hat kein Loch, durch welches ein paar Zerquetschte aus der 4 herausrinnen könnten. Man muss schon entweder beides evident finden, Gleichung wie Energiesatz, oder sich über beides wundern. Ich weiß nicht, wer außer Marx sich im 19. Jahrhundert über die Gleichung gewundert hat. Vom Energiesatz wissen wir aber, dass er bei vielen, wenn nicht den meisten bestallten Physikern Betroffenheit auslöste. Noch in Lenins bolschewistischer Partei wird er zum Streitthema, sein Buch Materialismus und Empiriokritizismus handelt davon. Später erging es „der Energie“ wie der Gleichung: Man hörte auf, nach ihr fragen, nicht aber, mit ihr in jedem Wortsinn zu rechnen.

Richtig sagt Backhaus, dass wenn man Lowe folgt, an der „Geburtsstätte der Nationalökonomie […] ein fetischistischer Grundgedanke“ stand: „die Erfindung einer ‚wirtschaftlichen Materie'“. (S. 122) Die Frage ist nur, ob er selbst denn dem Fetischismus entkam. Zwar kann er den bürgerlichen Ökonomen vorhalten, sie hätten „auf die Aufarbeitung eines sozialen Wertbegriffs, damit auf die Analyse objektiv-realer Abstraktionen“ verzichtet (S. 124); doch was nützt Analyse, wenn sie zu keinem Ergebnis führt? Zuletzt kritisiert er den Begründer der subjektiven Wertlehre, Carl Menger, der nur Physisches und Psychisches als Realität habe gelten lassen, „so dass für einen ‚objektiven Wert‘ […] kein Raum bleibt“ (S. 134). Er selbst aber bringt schließlich nur vor, der objektive Wert, die „reale Abstraktion“ lasse „sich logisch-ontologisch nur zwischen dem Physischen und dem Psychischen verorten“ (S. 135). Adornos „Gedachtes“ ist also dieses Zwischending – und das ist alles, was von ihm ausgesagt werden kann?

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Ich will nur knapp auf den Text von Helmut Reichelt im selben Buch, Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien, hinweisen (a.a.O. S. 142-189), da das Grundproblem, wie es sich in meiner Perspektive darstellt, bei ihm dasselbe ist wie bei Backhaus. Gewiss geht er einen Schritt weiter, denn er verortet das Zwischending als „die Geltung“: „Doch wie ist diese existierende Abstraktion als praktisch vollzogene Operation der Austauschenden zu denken und zu begründen? Oben habe ich angedeutet, dass Marx im Kapital mit einem nicht weiter erläuterten Geltungskonzept operiert, das uns den Zugang zu einer Lösung eröffnen könnte.“ (S. 150) Und tatsächlich kann er aus der Erstauflage, die nicht mit MEW 23 identisch ist, Marx‘ Formulierung zitieren, die Austauschenden konstituierten „die ‚Form der Gleichgeltung'“ (S. 157). Damit hat er die ökonomischen Frage in eine soziologische übersetzt. Sie kommt dadurch an ihren richtigen Ort. Geld trägt schon im Namen, dass es gilt, aber warum gilt es? Was gibt ihm diese Autorität oder Überzeugungskraft? Das ist die soziologische Fassung der „realen Abstraktion“, zu der es der Warentausch bringt.

Um nun aber antworten zu können, müsste Reichelt dem Zirkel des „Physischen“ und „Psychischen“ entrinnen, jenen Entitäten, in denen sich das Reale zu erschöpfen scheint; wer ihnen, wie Backhaus, das Soziale als dritte Entität hinzufügen will, sieht sich zu der Auskunft gedrängt, es sei ein physisch-psychisches Zwischending. Tatsächlich stellt sich das Problem noch dramatischer, denn Psychologie selber wird vielfach wie eine Art Physik aufgezogen. Der Energieerhaltungssatz spielt auch bei Sigmund Freud eine zentrale Rolle. Bis zum heutigen Tag wimmeln Beschreibungen gesellschaftlicher Prozesse von Physikalismen, etwa dem der politischen oder sozialen „Kräfte“, die „Druck“ und „Gegendruck“ ausüben, „am längeren Hebel“ sitzen und so weiter. Doch was Jacques Lacan an Freud gezeigt hat, gilt allgemein: Man muss diese Prozesse auch von der Logik der Sprache her aufrollen.

Marx war kein Gott, er konnte sich nur der wissenschaftlichen Hilfsmittel seiner Zeit bedienen. Er entwickelte sie um so viel weiter, wie es einem Menschen gegeben ist. Nach ihm kam Frege. Nach Frege, Freud und jenen Physikern, die sich über den Energiesatz wunderten, kam der linguistic turn. Der macht es leichter, sich von sozialen Prozessen ein differenziertes Bild zu machen. Davon müssen sich auch Marxisten tangieren lassen. Manche Probleme sind nach dem linguistic turn keine mehr. Dass ein „Gedachtes“ etwas sein muss, das gesprochen wird oder wurde, wird wohl niemand bestreiten. Wenn wir aber schon bei der Sprache sind, wie kann dann ein physisch-psychischen Zwischending zum Problem werden? Dieses Ding ist eben die Sprache, indem ihre Zeichen sowohl physisch materiell sind als auch psychisch „gelesen“ werden. Wie das geschieht, ist wahrlich ein Rätsel, das wir aber gar nicht lösen müssen. Wir müssen nicht das Rätsel der menschlichen Sprache lösen! Es reicht zu wissen, dass sie beim Warentausch eine Rolle spielt. Das tut sie, denn da Gleichungen eine Sprache bilden, ist ein Tausch sprachvermittelt, der mit Wertgleichungen operiert.

Das ist das „Gedachte“ im Tauschwert, und damit hätte Reichelt erst seine weiterführende Fragestellung: Warum haben  G l e i c h u n g e n  Geltung? Wo kommen sie überhaupt her? Wie ich antworten würde, habe ich angedeutet: Man hat sie gefunden, als man über unendliche Angleichung nachdachte. Warum man  d a s  tat, können wir historisch rekonstruieren. Ich habe es in vielen Notizen versucht. Wissen wir aber einmal, warum man es getan hat, können wir auch wissen und laut sagen, dass man besser täte, es in Zukunft anders zu halten. Der Faden der Geschichte wird dann da wieder aufgenommen, wo er abgerissen schien, in Wahrheit aber nur vergessen wurde, und wird neu vernäht. Und zwar dringen wir darauf, dass die Ökonomie vom Zwang unendlicher Angleichung befreit werden muss, das heißt vom Kapital, wie Marx es definierte („Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen“, MEW 42, S. 253). Die Gleichung hingegen kann bleiben (da x Ware A = y Ware B jene „Bewegung“ nicht schon impliziert).