(55) Arbeit als Oberfläche des Kapitals

5. Theorien über den Wert: Die dialektische Methode

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In den beiden letzten Notizen habe ich, wie angekündigt, zwei Dimensionen von „Dialektik“ in der Marxschen Darstellung hervorgehoben, womit ich zugleich auch auf zwei Forschungsfelder eingegangen bin, die in den Forschungsberichten von Ingo Elbe und Jan Hoff auseinander fallen (vgl. meine Rezension ihrer Bücher in der 51. Notiz). Bei der ersten Dimension handelt es sich um platonische Dialektik, die einfach eine des Fragens und Antwortens ist. Soweit Marx sich ihrer faktisch bedient, läuft seine Darstellung auf logische Ableitung von „kann“-Zuständen, Möglichkeiten hinaus, das heißt von Fragen. Die Entsprechung zu den Forschungsberichten liegt darin, dass der Übergang von „kann“ in „ist tatsächlich“ nur ein historischer, kein logischer sein kann – Fragen, die die Geschichte aufwirft, werden von geschichtlichen Kräften beantwortet -, das heißt, die für Elbe und Hoff zentrale Problematik der „logisch-historischen Methode“ und überhaupt des Verhältnisses von Theorie und Empirie hätte hier ihren Ort. Dass sie an diesem ihrem Ort auch aufgelöst werden könnte, wird in der Neuen Marxlektüre nicht begriffen.

Bei der zweiten Dimension handelt es sich um die Hegelsche Dialektik des Endlichen und Unendlichen, worin für Marx die Logik des Kapitals besteht; denn das Kapital, so bestimmt er es, ist stets mit endlichem Mehrwert befasst und strebt den unendlichen an. Diese Dimension wurde besonders in der japanischen Marxforschung bearbeitet. Hoff, der es berichtet, hat für das Spannungsverhältnis, in der sie zur ersten Dimension steht, keine Augen. Ich sehe das Verhältnis so: Man wird ganz generell sagen dürfen, dass Marx, während er versucht, die „objektive“ Hegelsche Dialektik des Kapitals nachzuzeichnen, sich selbst, in „subjektiver“ Dialektik, des platonischen Verfahrens faktisch bedient. Das Dargestellte gemahnt also an Hegel, während das Darstellen für sich eher platonisch wirkt. Der Ausdruck „Darstellungsmethode“ ist leider geeignet, den Unterschied von Darstellen und Dargestelltem zu verwischen.

Sehen wir zunächst der „subjektiven“ Dialektik zu. Das Marxsche Hauptwerk beginnt damit, dass die „ungeheure Warensammlung“ aufgegriffen wird, als welche der kapitalistische Reichtum erscheint, das heißt als welchen man ihn aussagt. Diese Aussage ist wie jede letztlich eine Antwort, es muss eine Frage vorausgegangen sein. Die platonisch-dialektische Bewegung besteht darin, zu ihr und noch zu den Annahmen, die in der Frage stecken und ihr vorausgesetzt sind, den Frage-Voraussetzungen, zurückzugehen. Das tut Marx und gelangt so von der Warensammlung zur Ware, die sich als Verschiedenheit von Gebrauchswert und Tauschwert herausstellt, die selbst wieder auf die Verschiedenheit von „konkret nützlicher“ und „abstrakter“ Arbeit verweisen.

Marx hat die Frage damit zurückgewiesen und so den nicht speziell Hegelschen, sondern platonischen Widerspruchsbegriff, Widerspruch als Widersprechen, ins Spiel gebracht. (Ich sage „nicht speziell“, weil diese Dialektik bei Hegel  a u c h  vorkommt, besonders in der Phänomenologie des Geistes, die wohl gerade deshalb so fasziniert. Sie ist aber eben nicht das, worin er Dialektik erneuerte und veränderte.) Marx hat sie zurückgewiesen, da  z w e i  Fragen in der einen stecken, die zwei Antworten erheischen und nicht nur eine. Was ist der kapitalistische Reichtum? Man muss unterscheiden: Was „konkret nützlich“ ist, steht auf anderem Blatt als was „abstrakt“ ist – oder wenn es dasselbe Blatt ist, dann auf der Vorder- statt Rückseite -, obwohl beide reich machen und das Zweite es nur tut als Kehrseite des Ersten.

Die Frage, die weiterzuverfolgen ist, ist mehr die nach dem „Abstrakten“. Denn in ihm ist  s p e z i f i s c h  auf kapitalistischen Reichtum verwiesen, nach dem gefragt worden war. Das ist platonische Dialektik, und sie geht weiter: Es war zwar eine Konfusion, „abstrakt“ und „konkret nützlich“ nicht auseinander zu halten, hat man dies jedoch einmal getan, ist damit noch nicht gleich ein Antagonismus entdeckt. Man hat widersprochen,  o h n e  auf einen solchen zu führen. Die Frage ist daher nicht eigentlich aufgelöst. Marx betont es immer wieder: Gebrauchswert und Wert gehören im Kapitalismus zusammen, eins ist nicht ohne das andere, und sie  p a s s e n  auch zusammen, denn es finden sich für diese Verschiedenheit und alles, worin sie sich im Lauf der Darstellung entwickeln, modifizieren wird, „Bewegungsformen“; das will sagen, die Frage, statt aufgegeben werden zu müssen, hat durch Reformulierung immer weiteren Bestand.

Die Darstellung zielt aber natürlich auf den Punkt, wo sie dann doch scheitert. Er ist im Kapitel über den tendenziellen Fall der Profitrate erreicht: Die unendliche Bewegung des Werts schafft irgendwann eine Komplexität, die nicht mehr beherrschbar ist, für die es also eine „Bewegungsform“ nicht mehr gibt. Die Komplexität liegt darin, dass es immer absurderer Vermittlungen bedarf – zum Beispiel, deutsche Steuerzahler müssen irischen Banken Geld schenken -, um die Allokation der gewöhnlichsten Gebrauchswerte zu sichern.

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Was uns hier eigentlich interessiert, ist die „objektive“ Dialektik. Wir wollen ja wissen, ob Kapitallogik schon in der Verschiedenheit von Gebrauchswert und Wert steckt. Ob sie im einfachen Warentausch schon mitgesetzt ist. Uns geht es darum, dies zu bestreiten. Wir behaupten, Ware und Geld implizieren per se noch nicht Kapital. Subjektiv und platonisch gesehen, ist es schon einmal großartig, dass Marx nicht bei der „Warensammlung“ stehen bleibt, sondern Gebrauchswert und Wert unterscheidet, die Konfusion der Frage nach dem Reichtum damit auflöst. Um aber die uns interessierende Frage zu entscheiden, reicht es nicht, diesen Unterschied zu entdecken, sondern es müsste entdeckt werden, ob er so gemeint ist oder so mit ihm operiert wird, dass im Gebrauchswert eine endliche, im Wert eine unendliche Seite erscheint, wie es dem Kapitalbegriff einzig entspräche. Denn Kapital heißt nicht In-Wert-Setzung überhaupt (etwa auch derart, dass manches getauscht wird, anderes nicht und der Tausch dann ein Ende hat), sondern  u n e n d l i c h e  Verwertung.

Objektiv und hegelianisch gesehen, müsste Marx also von Anfang an Gebrauchswert und  u n e n d l i c h e n  Wert unterscheiden; nur dann würde er schon sofort vom Kapital sprechen, von dessen „Keimzelle“ zunächst. Das Problem ist nun, er tut es nicht, obgleich er es zu tun glaubt. Ich habe in der vorigen Notiz darauf verwiesen, dass Dieter Wolf die Marxsche Dialektik als eine der Entfaltung des Unterschieds von Gebrauchswert und Wert nachzeichnet. Dies scheint mir in dem doppelten Sinn korrekt zu sein, erstens dass er damit den Marxschen Darstellungsplan wohl richtig begreift und zweitens dass es auch über Marx hinaus richtig sein dürfte, Kapitallogik, unendliche Verwertung ausgehend von jenem Unterschied darzustellen. Letzteres aber eben nur, wenn ein Unterschied von Gebrauchswert und  u n e n d l i c h e m  Wert entfaltet wird und dies von Anfang an klar ist. Wolf wird nicht darauf aufmerksam, weder dass es so sein müsste noch dass Marx es nicht leistet.

Um das Problem recht klar zu machen, wird es hier notwendig, einen weiteren Aspekt der Frage der „dialektischen Darstellung“ einzubeziehen: wie eine solche Darstellung anfängt, anfangen soll. Wolf könnte nämlich erwidern, sie fange mit einer „Oberfläche“ an, in der sich der Widerspruch des Endlichen und Unendlichen noch nicht zeige, was aber nichts daran ändere, dass er vorhanden sei. Er sei eben noch verborgen. Würde Wolf sagen, das sei in dialektischen Darstellungen so üblich, könnten wir kaum widersprechen. Wir finden es bei Platon wie bei Hegel, weil es im Begriff von Dialektik mitgesetzt ist. Dialektik ist Fragen und Antworten. Zuerst zeigt sich allenfalls eine Frage, die konfus gestellt sein kann. Diese Konfusion ist die „Oberfläche“, mit der das Verfahren anhebt. Oft zeigt sich nicht einmal die Frage, sondern eine pure Aussage, so dass die erste „Vertiefung“ schon in dem Erweis liegt, dass die Aussage auf eine Frage geantwortet ist, deren möglicher Konfusion man dann nachgehen kann.

Bei Hegel freilich heißt „Oberfläche, mit der die Darstellung beginnt“, noch mehr, und so müsste es in der uns interessierenden objektiven Dialektik des Kapitals mehr heißen. Wenn es sich um die Oberfläche des Widerspruchs des Endlichen und Unendlichen handelt, reicht es nämlich nicht, irgendeine beliebige konfuse Frage an den Anfang der Darstellung zu setzen, sondern die Anfangsfrage muss eine Spur der  b e s t i m m t e n  Konfusion zeigen, nach der sie fragt, eben der des Endlichen und Unendlichen. Das ist in den Hegelschen Darstellungen ausnahmslos der Fall. Man begreift zwar niemals sofort, worum es ihm geht, weil man die Spur nicht zu lesen versteht, sie erst im Rückblick lesbar wird. Entscheidend ist aber, sie ist immer sofort da. Hegel ist seriös: Er deckt die meisten Karten nicht gleich auf, zeigt nur erst ihre Rückseiten (die „Oberfläche“), darin ist aber enthalten, dass er  a l l e  Karten auf den Tisch legt. Nehmen wir zum Beispiel die Phänomenologie des Geistes: Dass sich das Hier und Jetzt ins Nicht-hier und Nicht-jetzt verwandelt, ist die Spur davon, dass sich endliche Wahrnehmungen in der Unendlichkeit des Raums und der Zeit verlieren. Oder, grundsätzlicher, die Wissenschaft der Logik: Sein und Nichts sind das Gegenteil und das Gleiche, sie gehen in „Werden“ über; dieses fängt zwar an und hört auf, aber das sind Charaktere, die im Quantitativen, wo alles graduell gleitet, relativiert werden; und so weiter.

Man kann genau sagen, was ausnahmslos immer die Spur des Dialektischen, sei’s platonisch oder hegelianisch, in einer „Oberfläche“ ist, mit der der Anfang gemacht wird: dass es zur  V e r n e i n u n g  eines anfänglich Erfragten, Geantworteten, Ausgesagten oder nur Wahrgenommenen kommt. Da sagt dann Sokrates, „du hast zwei Fragen gestellt statt nur einer“, und auch Hegel kann sein spezielles Anliegen hinreichend verdeutlichen, denn eine Verneinung ist nicht nur eine Verneinung, sondern indem sie die Sache oder These, die debattiert wird, überschreitet, geht sie über deren Ende ins Offene hinaus, eröffnet also ein Un-Ende. So wird dem Hier das Nicht-hier entgegengehalten, und das pure Sein wird genichtet, verneint: Im Rückblick sieht man, die bloße Verneinung war schon die Mitsprache des Unendlichen. Wenn das so ist, haben wir ein Kriterium, über die Güte der Marxschen Darstellung zu entscheiden. Soll sie als Nachzeichnung der objektiven Dialektik des Kapitals gelten können, müsste sich schon in der „Oberfläche“, mit der sie anfängt, eine Negation finden lassen. Man findet aber keine. Denn der Unterschied von Gebrauchswert und Wert ist nur ein Unterschied und weiter nichts. Da „Wert“ zunächst einmal nur darauf verweist, dass Mehreres getauscht wird, liegt in ihm nichts Unendliches.

Ich will nun fragen, wie die Marxsche Darstellung hätte anfangen müssen, um als Nachzeichnung der objektiven Kapitallogik gelten zu können. Man wird sehen, dass es im Grunde nur einer kleinen Modifikation bedarf. So klein sie aber auch ist, stellt sie klar, worum es uns geht: dass Ware-Geld und Kapital nicht notwendig zusammengehören.

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Marx sagt selbst, der „Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit“, dass sie konkret nützliche und zugleich abstrakte Arbeit ist, sei „der Springpunkt […], um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht“ (MEW 23, S. 56). Konkret nützliche Arbeit schafft Gebrauchswert, abstrakte Arbeit Wert und beide sind stets ineinander, da die Ware selbst beides ist, Gebrauchswert und Wert gleichermaßen. Kandidat für eine unendliche Seite in diesem Verhältnis könnte nun nur die abstrakte Arbeit sein, da bei der konkreten von vornherein klar ist, dass sie sich im Endlichen bewegt und auf es zielt. Sie ist ja „bestimmte zweckmäßig produktive Tätigkeit“ (S. 57), geht also nicht immer weiter, sondern hört auf, wenn der Zweck erreicht ist – um danach, wenn es sein soll, neu zu beginnen -, und gewinnt von ihm her selbst schon, während der Zeit ihres Wirkens, „bestimmte“ Kontur. Demgegenüber ist abstrakte Arbeit Abstraktion gerade vom Zweck. Es ist Arbeit, mit der eine Ware produziert wird, ein Gebrauchswert als Ware, etwas, egal was, für den Tausch. Egal was: Ob Schneiderei oder Weberei, es ist Arbeit, um letztendlich sage 100 Euro pro Ware herauszuschlagen. 100 Euro sind kein Gebrauchswertzweck, obgleich sich einer, wenn man sie hat, mit ihnen kaufen lässt.

Abstrakte Arbeit ist damit nur erst negativ bestimmt, als Abstraktion eben von den Gebrauchswertzwecken. Die Negation hat allerdings keinen Verneinungscharakter. Es ist nicht wie bei Hegels Sein und Nichts, die, weil sie so gegensätzlich sind, ineinander „verschwinden“; vielmehr koexistieren abstrakte und konkrete Arbeit wunderbar miteinander. Du kannst einen bestimmten Rock zweckmäßig schneidern und es für den Tausch tun. Die Seite der Zweckmäßigkeit wird dann zwar „eingeklammert“, weil es um sie nicht geht, aber sie muss mitspielen, ist da und bringt weder einen Widerspruch noch die nachträglich lesbare Spur eines solchen hervor.

Doch abstrakte Arbeit lässt sich auch positiv bestimmen. Ob Schneiderei oder Weberei, es „sind beide“, und darin liegt ihre Einklammerung, „produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw., und in diesem Sinn beide menschliche Arbeit. Es sind nur zwei verschiedene Formen, menschliche Arbeitskraft zu verausgaben. Allerdings muss die menschliche Arbeitskraft selbst mehr oder minder entwickelt sein, um in dieser oder jener Form verausgabt zu werden. Der Wert der Ware aber stellt menschliche Arbeit schlechthin dar, Verausgabung menschlicher Arbeit überhaupt.“ (S. 58 f.)

Viele waren verwirrt, weil Marx hier die Spezifik eines kapitalistischen Verhältnisses mit dem überhistorisch Allgemeinen, „menschlicher Arbeit überhaupt“, gleichzusetzen scheint, was doch ein Widerspruch wäre, und zwar kein dialektischer, sondern ein schlicht logischer. Eine gewisse Ungereimtheit liegt auch wirklich in der Passage, und zwar ist sie die Spur nicht etwa der Dialektik des Kapitals, sondern des uns hier immerzu beschäftigenden Umstands, dass Marx das Kapital im einfachen Ware-Geld-Verhältnis schon angelegt sehen will. Denn weil es Ware-Geld-Verhältnisse irgendwelcher Art fast immer gegeben hat, kann er gar nicht anders, als sie zum einen für protokapitalistisch zu halten, zum andern auf „menschliche Arbeit überhaupt“ zurückzuführen und aus dieser dann noch irgendwie drittens ein spezielles Kapitalismus-Kriterium zu machen. Doch das hatten wir schon. Uns geht es jetzt darum, wie er es hätte besser machen können. Antwort: Der Terminus „abstrakte Arbeit“ wäre selbst noch einmal in sich zu differenzieren gewesen.

Mit menschlicher Arbeit überhaupt produziert man Waren, es kann sich aber um Ware-Geld-Verhältnisse endlicher Reichweite handeln. Der eine schneidert, weil er ein Produkt der Weberei braucht – er schneidert für Geld und kauft damit das Produkt -, der andere umgekehrt. Und Schluss. So weit haben wir es noch nicht mit dem Unterschied von Gebrauchswert und unendlichem Wert zu tun. Es geht dem Schneider ums Webprodukt und umgekehrt, beiden also um endlichen Wert. Auch wenn nicht nur zwei tauschen, sondern viele, ist es denkbar (und war es Jahrtausendelang Praxis), dass sie es nur um der Arbeitsteilung willen tun. Wir mögen ihre Arbeit abstrakt nennen, müssen dann aber ergänzen, dass die Arbeit zugleich immer noch, wenn auch vermittelt, konkret nützlich und zweckmäßig geblieben ist. Denn ich schneidere, weil es  m e i n  Z w e c k  ist, ein Webprodukt zu gebrauchen, das heißt ich arbeite abstrakt,  u m  einen  G e b r a u c h s w e r t  zu erlangen.

Von dieser abstrakten Arbeit, die sozusagen indirekt immer noch eine konkrete ist, kann diejenige abstrakte Arbeit unterschieden werden, die um des unendlichen Werts willen geleistet wird. Ich schneidere nicht mehr, weil ich ein Webprodukt brauche, sondern weil mein Lohnherr möglichst viel Geld häufen will. Um genauer zu sein, ich selbst, in meiner beschränkten Perspektive des Arbeiters, der seine Arbeitskraft verkauft, schneidere schon durchaus wegen des Webprodukts und überhaupt der Lebensmittel, die ich mit meinem Lohn kaufen und dann gebrauchen will. Doch das ist nur meine subjektive Sicht; objektiv schneidere ich, um jenes Geld des Kapitalisten zu häufen. Mein Lohn fällt dabei nur ab. Meine Arbeit ist dafür nur die Voraussetzung. Abstrakt arbeitend, arbeite ich nun objektiv nicht mehr für einen Gebrauchswertzweck. Hier ist, könnte man sagen, die Abstraktion erst vollendet; aber wir wollen es besser und klarer so formulieren, dass hier nicht mehr bloß abstrakt, sondern  u n e n d l i c h  gearbeitet wird.

Dass es also  d r e i  S o r t e n  von Arbeit gibt: konkret nützliche, (darüber hinaus) abstrakte und (über beides hinaus) unendliche. Abstrakte Arbeit wird für jede Warenproduktion geleistet. Unendliche für solche Waren, die der Erlangung des unendlichen Mehrwerts dienen. Nicht von der (nur) abstrakten, sondern von der (auch) unendlichen Arbeit kann gesagt werden, dass sie nur im Kapitalismus vorkommt.

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Das hat Marx nicht unterschieden, aber er formuliert schon so, dass der Unterschied fast mit Händen zu greifen ist. „Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Herz, Hand usw.“, wer dächte da nicht an die bekannte philosophische Problematik der  K r a f t  u n d  i h r e r  Ä u ß e r u n g , die es schon bei Hegel gibt und die bei Nietzsche ihre Zuspitzung erfährt? Wo eine Kraft ist,  m u s s  sie geäußert werden, behauptet Nietzsche. Wir haben vor längerer Zeit in Annahmen solcher Art den Diskurs erkannt, der die Kapitallogik begründet: Was möglich ist,  m u s s  wirklich werden, statt dass Möglichkeiten zur  W a h l  stehen. Wenn nun die Arbeitskraft so eingeführt wird, wie Marx es tut, dann wird sie als eine eingeführt, die geäußert werden  m u s s . Denn keine Arbeitskraft, die direkt oder indirekt einem Gebrauchswertzweck gälte, würde man dadurch charakterisieren, dass sie schlicht und einfach verausgabt wird. Man würde vielmehr den Zweck nennen.

Mehr noch, der Begriff „Arbeitskraft“ würde gar nicht gebildet. Der Mensch, der für einen Nutzen arbeitet, verdoppelt sich ja nicht in den Arbeiter und die Arbeitskraftmaschine. Er ist nur das erste. Das zweite ist er als Lohnarbeiter eines Kapitalisten. Dann aber ist es wirklich so, dass er seine Kraft äußern  m u s s , zu hundert Prozent und noch darüber hinaus. Dann und nur dann wird es scholastisch, zwischen der Kraft und ihrer Äußerung noch zu unterscheiden. Der Kapitalist kauft die Arbeitskraft, um sie voll zu nutzen. Er hört nie auf, die Arbeit „intensiver“ zu machen, will die Kraft immer noch steigern, zur Steigerung zwingen, und die gesteigerte Kraft muss dann auch wieder voll verausgabt werden. Das ist es, was unendliche Arbeit genannt zu werden verdient. Diese Seite der Sache, von Marx vorgezeichnet, hat Michel Foucault näher untersucht (in Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976).

Marx zeichnet sie zwar vor, aber eben nicht am Anfang seiner Darstellung. Wenn er es getan hätte, könnte man wirklich sagen, er habe dialektisch dargestellt. Die Darstellung der objektiven Dialektik des Kapitals wäre damit eingeleitet, dass schon das Erste, die Arbeit, sich in endliche und unendliche zerteilte. So wäre von vornherein die Kapitalspur gelegt. Um es zu erreichen, hätte er nur wenig anders formulieren müssen, etwa so: Ob Schneiderei oder Weberei,

„es sind nur zwei verschiedene Formen, menschliche Arbeitskraft zu verausgaben. Dies wäre zwar einer Schneiderin der antiken Hauswirtschaft nicht bewusst geworden, und noch wer ihr Produkt verkauft hätte, um ein bestimmtes anderes dafür zu tauschen, hätte es nicht hervorgehoben. Hervorhebenswert wird es aber, wenn menschliche Arbeitskraft nicht so verausgabt wird, dass es auch unterbleiben könnte, sei’s ganz oder teilweise, sondern verausgabt werden  m u s s ; ja wenn es gar keinen Sinn mehr macht, die Kraft von der Verausgabung überhaupt noch zu unterscheiden, weil niemand mehr eine hat, die er nicht zu hundert Prozent äußern müsste, und es keine Äußerung mehr gibt, die nicht Folge solchen Zwangs wäre. Wir nennen die so verausgabte Arbeit unendliche Arbeit. Mit ihr werden Waren produziert, die [der Erlangung des unendlichen Mehrwerts, kurz die] dem Kapital dienen sollen.“

„Bei der nun folgenden Wertformanalyse“, hätte Marx fortfahren können, „lassen wir die Frage, ob es sich um Werte aus abstrakter Arbeit für den Tausch von Gebrauchswerten oder darüber hinaus um unendliche Arbeit [für den unendlichen Mehrwert] handelt, zunächst noch offen.“

Dann wäre einerseits die Kapitallogik von Anfang an präsent. Andererseits würde nicht der falsche Eindruck entstehen, als sprächen „abstrakte“ Arbeit, Tausch, Ware und Geld per se schon für Kapitallogik. Ich schließe damit das Kapitel und den gesamten Dritten Teil, der unter dem Titel stand: „Wenn Geld, dann Kapital? Eine ökonomische Schlüsselfrage“. Die Antwort ist Nein. Mit ihr gerüstet, überlegen wir jetzt, wie die Ökonomie der Anderen Gesellschaft aussehen könnte.

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Wie im Tagebuch angekündet, will ich zuvor noch über Sohn-Rethel schreiben, das braucht aber niemand zu lesen, der sich nicht speziell dafür interessiert. Es wird nur eine Beilage sein. Gleich nach ihr beginnt mit der 56. Notiz der Vierte Teil.