Die „extramentale Bedeutungsentstehung“. Beilage zu Sohn-Rethel

Dritter Teil - Wenn Geld, dann Kapital? Eine ökonomische Schlüsselfrage / Beilagen

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Ich habe Alfred Sohn-Rethel, eine Lektüre meiner Studentenjahre, ähnlich von Neuem entdeckt, wie einst erstmals der Planet Neptun entdeckt wurde: Die Bahn eines andern Planeten, des Uranus, war rätselhaft, fast ließ er an der Wahrheit der Newtonischen Physik zweifeln; dann stellte sich heraus, dass da neben Sonne, Erde, Jupiter und so fort noch ein weiterer Himmelskörper im Spiel war und seine Gravitationskraft entfaltete, eben der Neptun, von dessen Existenz man bis dahin gar nichts geahnt hatte; dadurch fand das Seltsame der Uranusbewegung seine Erklärung (vgl. Ursula Schmidt, Wie wissenschaftliche Revolutionen zustandekommen, Würzburg 2010, S. 128 ff.). Die Bedeutung Sohn-Rethels für die Neue Marxlektüre ist groß genug, dass er in Ingo Elbes Forschungsbericht (Marx im Westen, Berlin 2008; vgl. meine Rezension in der 51. Notiz) unbedingt ein eigenes Kapitel verdient hätte. Er wird stattdessen in ein paar kargen Fußnoten buchstäblich versteckt. Deshalb habe auch ich ihn bisher übersehen. An der Stelle des Kapitels, das bei mir lapidar „Adorno“ heißt (42. bis 45. Notiz) – Adorno ist ein Vater der Neuen Marxlektüre, den Elbe einräumt -, hätte besser eins über „Adorno und Sohn-Rethel“ gestanden. (Alle bisherigen Notizen können von der 0. Notiz aus direkt angeklickt werden.)

So karg Elbes Fußnoten sind, sind sie doch sprechend. Wir erinnern uns: Er hat eine Kontroverse innerhalb der Neuen Marxlektüre herausgearbeitet, zwischen den Adorno-Schülern Backhaus und Reichelt auf der einen, besonders Dieter Wolf auf der anderen Seite. Im Streit der Parteien ging und geht es um die „Realabstraktion“: die These, dass Abstraktionen nicht erst im Denken vorkämen, sondern schon der Warentausch als bewusstloses Handeln Abstraktes vollbringe. Das ist Wolfs Position. Adorno und seine Schüler verwenden den Begriff Realabstraktion zwar auch, betonen aber, dass im Warentausch ein „Gedachtes“ walte. (Vgl. 46. bis 50. Notiz) Elbe, der Wolf zustimmt, bringt dessen Position im laufenden Text seines Buches mit systemtheoretischen Annahmen in Verbindung (vgl. 48. Notiz), die Fußnoten jedoch, die ich übersehen hatte, sprechen eine andere Sprache. Nachdem er Wolf zu referieren begonnen hat: „Formanalyse hat nach Wolf nun den Charakter der kognitiven Freilegung von extramentaler Bedeutungsentstehung und Abstraktionsvorgängen“, fügt er im Kleingedruckten an: „Vgl. zur Wertabstraktion bereits Sohn-Rethel 1973“, und es folgen ein paar Zitate, aus denen man ersieht, dass in der Tat nicht Wolf, sondern Sohn-Rethel die „extramentale Bedeutungsentstehung“ erfunden hat.

Wenigstens ein Zitat kann Elbe beibringen und stellt es ans Ende, das ihm Gelegenheit gibt, sich von Sohn-Rethel zu distanzieren. Er kommentiert: „Hier scheint wieder die Realabstraktion“ – „wieder“, als habe Sohn-Rethel 1973 ein Ziel, das Wolf 2003 sozusagen längst erreicht hatte, zwar zunächst adaptiert, sei dann aber in den alten Trott zurückgefallen – „Hier scheint wieder die Realabstraktion, deren Ursache nur in kognitiv vermittelten Handlungen von Menschen auf Menschen über Dinge auf Dinge gesehen werden kann, in das Unbewußte der Menschen verlegt zu werden.“ (S. 303 f.; vgl. auch S. 451) Elbe will sagen, sie dürfe nicht einmal ins Unbewusste verlegt werden und ins bloß „vermittelnde“ Kognitive schon gar nicht. „Nur“ so „kann“ das gesehen werden – die These ist über jeden Zweifel erhaben.

Es gibt andere Themen, zu denen Sohn-Rethel Bedenkenswertes mitzuteilen hat und die hier doch unerörtert bleiben müssen, so dass ich fürchte, durch meine Erörterung ein schiefes Bild von ihm zu zeichnen. Seine Hauptschrift Geistige und körperliche Arbeit, aus der ich zitieren werde (englisch 1951, revidierte und ergänzte Ausgabe Frankfurt/M. 1972), ist bestimmt eine lohnende Lektüre und noch heute in Vielem aktuell. Doch kann ich von all dem, was da vorgetragen wird, neben der Realabstraktion nur noch den Beitrag zur Theorie des Realen Sozialismus antippen, weil diese beiden Themen miteinander zusammenhängen. Wenn Sohn-Rethel die realsozialistische Gesellschaft erörtert, stellt er nicht die Bürokratie, sondern die Technokratie in den Vordergrund. Und zwar führt er sie darauf zurück, dass Marx und all seine Nachfolger dem  W a h r h e i t s c h a r a k t e r  d e r  N a t u r w i s s e n s c h a f t  nicht gewachsen waren. Der werde bei Marx einfach vorausgesetzt, ohne dass ein Gedanke auf die damit verbundene Trennung von Hand- und Kopfarbeit falle. Wo man aus der zeitlos scheinenden Wahrheit der Naturwissenschaft heraus wirke, bewege man sich in dieser Trennung; wo man sich in dieser Trennung bewege, könne von einem Ende der Klassenherrschaft keine Rede sein. Das habe sich im Realen Sozialismus wieder gezeigt.

Die Naturwissenschaft fuße auf wahren Abstraktionen, solchen der Logik, der Mathematik. Sohn-Rethel meint nun, wenn man sie materialistisch ableite statt nur als wahr voraussetze, könne man der Technokratie, die sich ihm als Herrschaft von Wahrheitsexperten darstellt, etwas entgegensetzen. Eben dieser materialistische Ableitungsversuch führt zur Begriff der Realabstraktion.

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Wenn das Sein das Bewusstsein bestimme, argumentiert er, müsse angenommen werden, dass dem Denken in Abstraktionen eine bewusstlose Realabstraktion – ein Abstraktionsvollzug der außerbewußten Wirklichkeit selber – schon vorausgegangen sei. Aus der könne sie dann materialistisch abgeleitet werden. Diese Aussage wird Sohn-Rethels Aussagen zum Warentausch zugrunde liegen: Beim Warentausch sollen jene „Handlungen von Menschen auf Menschen über Dinge auf Dinge“ stattfinden, denen noch Elbe den „extramentalen“ und doch abstrakten Charakter zuschreiben wird. In der Aussage selber ist aber vom Warentausch noch gar keine Rede, sie hat mit ihm überhaupt nichts zu tun. Sie ist rein philosophisch und scheint mir höchst fragwürdig zu sein.

Dass das Sein das Bewusstsein „bestimmt“ und nicht umgekehrt, ist zwar sicher pauschal richtig. Der Satz wird aber absurd und lachhaft, wenn man verkennt, dass das Bewusstsein seinerseits ein Sein ist (es heißt ja schon so). Es ist ein besonderes Sein, das sich von allem anderen Sein unterscheidet. Wenn man allem Sein die Verschiedenheit zugesteht, selbst dem Apfel und dem Ei, warum nicht auch dem Bewusstsein? Daraus folgt doch, dass der gute Satz „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ nicht so gemeint sein kann, dass die Charakteristik des Bewusstseins auf etwas im übergreifenden Sein müsse zurückgeführt werden können, das wieder genau dieselbe Charakteristik wäre. Denn dann hätte das Bewusstsein kein eigenes Sein. Damit aber überhaupt kein Sein, denn Sein kommt nur als eigenes Sein vor. Und dann könnte es vom Sein auch nicht bestimmt werden, denn Sein kann nur Sein bestimmen.

Da Bewusstsein und übergreifendes Sein Verschiedenes sind, kann die Bestimmung des einen durch das andere nur als eine Art Kausal- oder, besser noch, Antwort-Frage- oder Frage-Antwort-Beziehung gedacht werden. Nehmen wir mit Sohn-Rethel an, das Bewusstsein sei durch Prozesse der „Abstraktion“ charakterisiert. Dann muss man materialistisch fragen, wie solche Abstraktion aus dem Verschiedenen, also aus der  N i c h t -Abstraktion des sonstigen Seins kausal oder fragend-antwortend oder auf beide Weise hervorgehen kann. Das führt dann auch zu einem Ergebnis. Wie in früheren Notizen breit erörtert (Nr. 31 und 32), würde ich das Sein der „Abstraktion“ als das verselbständigte Sein der Möglichkeit auffassen. Es ist in ein übergreifendes Sein gebettet, das Wirklichkeit und Möglichkeit nicht scheidet, und steht ihm auch gegenüber. Wie das anthropologische Faktum „Vermöglichung“ generell aus der möglich-wirklichen Ungeschiedenheit außervitaler Naturtatsachen hervorgeht, ist ungeklärt. Das können wir beiseite lassen, denn Sohn-Rethel hat Spezielleres im Auge, die naturwissenschaftlich einschlägigen „Abstraktionen“ der Logik und Mathematik. Von diesen würde ich behaupten, dass sie aus der Erfahrung des Unmöglichen hervorgegangen sind. Logik, wie sie im Einklang mit dem Stand der Mathematik von Gottlob Frege dargestellt ist, ist die Lehre von dem, was nicht gedanklich verknüpft werden kann.

Damit habe ich nur eine Hypothese aufgestellt. Das ist kein Mangel. Es ist ein Mangel des Sohn-Rethelschen Denkens, dass ihm das Gefühl für die Kontingenz seiner Thesen offenbar abgeht. Er stellt einen Satz auf, etwa es müsse der Gedankenabstraktion Realabstraktion zugrunde liegen, und meint dann, anders könne es gar nicht sein. Seine Stärke ist die Brillanz des Operierens mit solchen fixen Gedanken, deshalb liest man ihn gern. Doch die These, es könne Abstraktionen geben, die keine des Denkens sind, ist ziemlich gewagt. Sohn-Rethel trägt kein Bedenken, sie vorzutragen: „Und wir erkennen der Marxschen Warenanalyse zu Beginn des Kapital und schon in der Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 einzigartige Bedeutung fürs materialistische Denken zu aus dem Grunde, dass hier von einer Abstraktion in einem anderen Sinn als dem der Denkabstraktion die Rede ist.“ (a.a.O., S. 40)

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Ich habe das Wort „Abstraktion“ mehrmals in Gänsefüße gesetzt, weil ich finde, dass es unklar ist. Diese Unklarheit rächt sich. Sohn-Rethel sieht bei Marx alle möglichen „Abstraktionen“ behandelt: die Warenform, den quantifizierten Tauschwert, die Arbeit, das Geld, den Reichtum, ja den Menschen als Privateigentümer (S. 41). Da bedeutet das Wort Abstraktion schon allerlei, was man auch auseinanderhalten könnte: Zählen, Gleichung, Isoliertheit… Im Bewusstsein, für das es stehen soll, kommt eben Vieles zum Zug. Deshalb erlaubt der bisher nachgezeichnete Stand noch gar keine Prognose, was nun das Abstrakte der „Realabstraktion“ sein wird. Es ist die Unveränderlichkeit. Sohn-Rethel behauptet, dass während des Warentauschvorgangs „Zeit und Raum […] abstrakt [werden]“ (S. 83). Zwar sei das nicht der Grund, weshalb man Waren tausche, aber das komme dabei heraus. Es geschehe bewusstlos und biete sich dem Begriff auch nachträglich nicht „unmittelbar“ dar (S. 50). Mittelbar aber doch, denn auf einer bestimmten Stufe des Warentauschs entstünden die Denkabstraktionen der Naturwissenschaft.

Die Behauptung ist so gemeint: Die Ware, die gerade getauscht wird, darf nicht gleichzeitig schon in Gebrauch genommen werden. „Was hier den Raum und die Zeit ‚ausfüllt‘, ist das Nichtgeschehen von Gebrauch im Bereich des Austauschs, die Leere an Gebrauch“ (S. 50). Währenddessen darf sich ihr Gebrauchswert aber auch nicht vermindern. Es wird also unterstellt, dass er sich so lange nicht ändert, seine Zeitlichkeit praktisch ruht. Sohn-Rethel meint, das ginge gar nicht anders, weil klar sein müsse, worauf genau – auf welches  d e f i n i e r t e  Objekt – sich die Tauschverhandlungen und -vorgänge bezögen. Dies Quidproquo werde von der Handlung des Tauschens bewusstlos inszeniert und komme dann nachträglich in der Form zum Bewusstsein, dass man sich auf etwas wie „Abstraktion“ gestoßen sehe. (S. 56) Die werde aber nicht dem Warentausch, sondern dem eigenen Kopf zugeschrieben. Jedenfalls sei sie nun da, und eine Naturwissenschaft könne sich an ihr abarbeiten.

Das ist Sohn-Rethels Einführung der Realabstraktion, an der ich, bevor ich sie kritisiere, zwei Dinge eher lobend hervorheben will. Erstens, es ist eine schneidend klare Argumentation. Wenn wir der These Jahrzehnte später bei Wolf wiederbegegnen, vermissen wir diese Klarheit. Wie gesagt, Wolf könnte den Kernsatz Sohn-Rethels ohne weiteres unterschreiben: „nicht die Menschen […], sondern ihre Handlungen tun es“ (S. 51 f.); aber bei Wolf, anders als bei Sohn-Rethel, ist eigentlich gar keine Begründung zu sehen. Denn die Paraphrasierung von Marx-Sätzen reicht nicht aus. Mit dem, was er sonst noch anführt, verhält er sich als Flüchtling, indem er auf eine Meta-Ebene ausweicht. Dort stellt er die Frage, wie „Handlung und Struktur“ sich zueinander verhalten. All das macht ihn freilich viel weniger angreifbar, als Sohn-Rethel es infolge seiner deutlichen Worte ist.

Zweitens, Sohn-Rethel räumt offen ein, dass er sich von Marx entfernt. Zwar behauptet er, schon Marx sei auf die Realabstraktion gestoßen. Er beruft sich auf ihn, ich habe es oben zitiert. Doch fährt er fort, die Reichweite dieser Marxschen Entdeckung betreffe „die überlieferte Philosophie eigentlich viel direkter als die politische Ökonomie“: „Hätte sich die Frage für Marx in diesem Umfang gestellt, so hätte er erkennen müssen, dass seine Konzeption der Warenabstraktion im Kapital entweder unhaltbar ist (nämlich eine bloße Metapher und ein Trugbild von Abstraktion) oder aber unvollständig.“ (S. 43) Der Gestus des bloßen Marx-Philologen und genialen Hermeneutikers liegt ihm ganz fern.

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Es stimmt nicht, dass die Unveränderlichkeit des Gebrauchswerts während der Tauschhandlung unterstellt werden müsse und tatsächlich unterstellt werde. So viel ist zwar richtig: Die Veränderlichkeit des Gebrauchswerts stellt ein veritables Tauschproblem dar. Dass es sich „dem Begriff nicht darbietet“, ist aber nicht nachvollziehbar.  E t w a s  in diesem Vorgang ist der Veränderlichkeit enthoben, aber was genau?

Sehr wohl bietet es sich dem Begriff dar, dass der Käse schimmelt, während er in der Auslage liegt. Und keineswegs sind tauschende Menschen gezwungen, das zu leugnen. Denn die Tauschlogik wird davon überhaupt nicht gestört. Der Käse wird nicht trotzdem verkauft, sondern aus dem Verkehr gezogen. Wenn ich ein Buch kaufe, das während der Tauschzeit beschädigt wurde, handle ich eine Wertminderung aus. Schon in ältester Zeit wussten alle, die am Tausch etwa eines Rindes beteiligt waren, dass das Rind sich währenddessen immerzu änderte, nämlich seinem Tod näher rückte. Die einzige Abstraktion, die sie vollziehen mussten, um der Tauschlogik Genüge zu tun, war die, dass sie die Leistungskraft des Rindes vor und nach dem Tausch abschätzten. Sie waren bereits so intelligent, dass sie wussten, die Leistungsminderung sage eines Tauschtags falle nicht ins Gewicht. Hätte sich das Rind an diesem Tag ein Bein gebrochen, wäre der Tausch aber nicht zustande gekommen. Kurzum, es kann keine Rede davon sein, weder dass irgendwer die Unveränderlichkeit des Rinds unterstellt hätte noch dass eine solche Unterstellung funktional für die Tauschlogik gewesen wäre (so schon Jost Halfmann, Alfred Sohn-Rethels Theorie der Denkformen, in Richard Faber/Eva-Maria Ziege [Hg.], Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften vor 1945, Würzburg 2007, S. 123-136, hier S. 129).

Wenn wir nun umgekehrt fragen, ob trotz dieses Befunds irgendwo Abstraktionen der Unveränderlichkeit auffindbar sind, dann stoßen wir auf zweierlei: die Abstraktion des Nicht und die Abstraktion der Reziprozität. Während des Tauschs kann der Tauschgegenstand  n i c h t  gebraucht werden, das betont Sohn-Rethel natürlich mit Recht. „Nicht“ ist eine Abstraktion, über deren Herkunft wir nichts wissen. Sie vom Warentausch herzuleiten, wäre ziemlich kühn. Man sieht aber schon an ihr, dass die Frage der Abstraktionsentstehung mit der Frage der Entstehung naturwissenschaftlichen Denkens gar nichts zu tun hat.

Was die Abstraktion der Reziprozität angeht, so ist ihre an Umwälzungen reiche Entwicklung auffällig. Sie vom Warentausch herzuleiten, wird dann plausibel, wenn man die Geschichte des Warentauschs mit dem Opfertausch beginnen lässt. Denn der war bereits reziprok. Er war freilich ein ungleicher Tausch und sollte es auch sein. Auch der von Marcel Mauss beschriebene Potlatsch (vgl. Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1968) war ungleicher Tausch, man kann ihn vielleicht als wechselseitige Opferung begreifen. Dass der Tausch gleich sein soll, ist spätere Entwicklung. Nichts spricht aber für die Annahme, sie sei bewusstlos eingetreten. Sohn-Rethel hebt die Entstehung des Münzgelds hervor. Mit ihm sei etwas von der bewusstlosen Gleichsetzungslogik des Tauschs an die Oberfläche getreten: Nun hätten die Menschen beginnen können, über Gleichsetzung mathematisch und naturwissenschaftlich zu spekulieren. Daran ist alles falsch.

Münzgeld wurde eingeführt, weil die Gleichwertigkeit des Geldes – nicht der sonstigen Waren – auch bei Gewichtsschwankung der edlen Metalle gesichert sein sollte. Das geschah vollkommen bewusst. Es war nicht so, dass die Gleichheit schon vorher im Tausch gelegen und im Münzgeld erst nachträglich ihren Ausdruck gefunden hätte, sondern umgekehrt, der Tausch war  o b j e k t i v  ungleich und alle Maßnahmen, die seine Gleichheit bewirken sollten, auch etwa die längst vorher eingeführte Waage, waren  o b j e k t i v  initiierend. Wenn also Mathematiker und Naturwissenschaftler über Gleichsetzung spekulierten, mochten sie sich zwar auf die tagtägliche Anschauung des Tauschs gestützt haben, doch ging dem die bewusste politische Inauguration der Gleichsetzung immer schon voraus. Sie ging sowohl der Warengleichheit voraus als auch der Gleichheitsspekulation.

Diese aber war in der griechischen Antike keineswegs schon in ihr entscheidendes Stadium getreten, weder was die Waren noch was die Mathematik anging. Denn erst in „x Ware A = y Ware B“ (wie Marx sich ausdrückt) und dem dazugehörigen neuzeitlich mathematischen Denken ist aus Gleichheit  G l e i c h u n g  geworden, was etwas ganz anderes ist. Gleichheit ist eine Relation zwischen zwei oder mehr qualitativ verschiedenen Dingen, die dennoch, wie man sagt, gemeinsame Merkmale haben. Sie ist von Ähnlichkeit nur graduell verschieden, ja eigentlich nur deren Zuspitzung. Zum Beispiel, zwei Tassen Tee machen gleich wach wie eine Tasse Kaffee. Bei einer Gleichung hingegen gibt es nur  e i n  Ding, das  z w e i m a l  a u s g e s p r o c h e n  wird. Zum Beispiel, dieser Apfelhaufen ist einer, setzt sich aber aus sieben Äpfeln links und dreien rechts zusammen, oder wenn man ihn vertikal betrachtet, aus fünf oben und fünf unten.

Nach meiner Vermutung setzt Gleichungsdenken Unendlichkeitsdenken voraus, das sich erst in der Neuzeit durchsetzte. Die Unendlichkeit umfasst alles und kann als Eines angesehen werden, so dass alle Qualitäten, Verschiedenheiten, Endlichkeiten nur Arten sind, sie und immer wieder sie zu artikulieren. Man bewerkstelligt eine solche Artikulation der Unendlichkeit durch Quantifizierung und eben durch Gleichungen. Es wird dann zum Beispiel unterstellt, dass Arbeit eine einzige menschheitliche Kraft ist, geeignet, die Himmel zu erstürmen: Wird sie mal da, mal dort sichtbar und erscheint sie mal in dieser, mal in jener Kombination und Menge, bleibt sie doch immer dieselbe.

Kann der Weg von der Gleichheit zur Gleichung auf einen vorgängigen Weg des Warentauschs zwischen Antike und Neuzeit zurückgeführt werden? Das dürfte schwer fallen. Sohn-Rethel indes kann nicht einmal diese Frage stellen, da er gar nicht die Verschiedenheit von Gleichheit und Gleichung bemerkt. Mit der Frage, wo der Wahrheitscharakter von so etwas wie Gleichungen herkommt, war er eingestiegen. Mit seinem Versuch, sie anhand der Gleichheit, wie sie in der Antike gedacht wurde, zu beantworten, konnte er nur scheitern.

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Ein Wort noch zur Beziehung zwischen Sohn-Rethel und Adorno. Sie machen sich wechselseitig Referenzen: Sohn-Rethel schreibt, seine Gedankenentwicklung gehe auf Kontakte unter anderm mit Adorno zurück, wie dieser überhaupt „auf seine eigne Weise derselben Wahrheit auf der Spur war“ wie er (S. 10, 12), während Adorno in der Negativen Dialektik schreibt: „Alfred Sohn-Rethel hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass in […] der allgemeinen und notwendigen Tätigkeit des Geistes [.] unabdingbar gesellschaftliche Arbeit sich birgt“ (Frankfurt/M. 1966, S. 176). Mit dieser Wiedergabe ist Sohn-Rethel aber nicht einverstanden: Die „Synthesis“ einer kapitalistischen Gesellschaft geschehe nicht kraft der gesellschaftlichen Arbeit, sondern kraft Warentauschs (Geistige und körperliche Arbeit, a.a.O., S. 90 f.), will sagen, nur er halte sie zusammen, während es zu einem Zusammenhalt durch Arbeit erst im Sozialismus komme. Ich meine, Adornos Formulierung birgt einen noch wichtigeren Gegensatz, oder er deutet sich zumindest an, den Sohn-Rethel nicht benennt. Er deutet sich an in dem Ausdruck „allgemeine und notwendige Tätigkeit des Geistes“.

Wenn Sohn-Rethel die Naturwissenschaft aus dem Warentausch ableitet, wird er nie die Zweideutigkeit los, dass er sie einerseits als Wahrheitsermittlung auffasst, andererseits aber als Produkt von Menschen, Intellektuellen, die in der Trennung von Hand- und Kopfarbeit und damit in der Klassengesellschaft funktionieren. Er selbst wäre der letzte, der abstreiten würde, dass die beiden Befunde Kehrseiten voneinander sein müssen. Nur wie? – wenn doch die Klassengesellschaft das Wahrheitsprädikat nach seiner wie Adornos Ansicht („Das Ganze ist das Unwahre“) durchaus nicht verdient. Das Problem bleibt bei Sohn-Rethel unausgetragen, Adorno jedoch zieht den Schluss, dass wenn die Naturwissenschaft erstens Wahrheit hervorbringt und zweitens vom Warentausch ermöglicht wird, auch an diesem etwas Wahres sein muss. In der hier zitierten Formulierung sagt er das nicht direkt, legt es aber nahe durch die Zuspitzung, dass die von Sohn-Rethel erörterten Geistestätigkeiten „allgemein und notwendig“ seien. Sohn-Rethel selbst, wie gesagt, führt in seiner Interpretation des Adorno-Satzes das „Allgemeine und Notwendige“ auf den Warentausch zurück. Ist dieser dann nicht a u c h allgemein und notwendig? Es scheint, dass man der Konsequenz nur entkäme, wenn man den „Geist“ selber für unnötig erklären wollte.

Kehren wir zum Thema zurück, der „Realabstraktion“. Dieser Begriff wird von Adorno und seinen Schülern nicht abgewiesen, wohl aber umdefiniert. Das Resultat der Umdefinition haben wir erörtert, als wir den Forschungen von Hans-Georg Backhaus folgten. Dieser Adorno-Schüler orientiert sich an Adornos Formulierung, der Wert sei ein Gedachtes, das sich als Ding darstelle. Ein Gedachtes unbekannter Art, denn, so wird Adorno zitiert, Begriffe hätten sonst einen logischen Umfang, stellten sich als „Merkmalseinheit irgendwelcher Einzelelemente“ dar, das sei aber beim Wert nicht der Fall. Backhaus selbst überlegt dann, von welcher Art das merkwürdige Gedachte nur sein könne, weshalb mir, als ich darüber schrieb (in der 47. Notiz), die leicht spöttische Überschrift „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ einfiel. Meine eigene Auffassung hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon vorgetragen: Das Gedachte im Wert ist die Gleichung – die gedankliche und sprechmögliche Operation, dasselbe zweimal verschieden zu artikulieren -, oder umgekehrt, die Gleichung ist ein Gedachtes, sie ist kein bewusstlos sich ergebender Effekt. Sie konnte gedacht werden, weil vorher das Unendliche gedacht wurde: Gleichung setzt An-Gleichung, also mindestens Grenzwertrechnung voraus, die derselbe Kardinal Cusanus entdeckte, der als Erster seinen Gott unendlich sein ließ. Außerdem war sie nützlich als Garantie des bürgerlich erwünschten Eigentumserhalts beim Tauschen. Auch das wurde natürlich gedacht.

Die Auffassung solcher Kollegen wie Dieter Wolf – im Wert sei  k e i n  Gedachtes, sondern völlig bewusstlos breche er aus der Tauschhandlung hervor -, ist nicht nur, wie es sich darstellen mag, eine Reaktion auf die Lehre der Adorno-Schüler Backhaus und Reichelt, was dann so aussähe, als sei Wolfs Position besonders avantgardistisch. Eher ist das Umgekehrte wahr. Es war Adorno, der, was die Frage der Realabstraktion betrifft, auf Sohn-Rethel und damit avant la lettre auf Wolfs Position reagierte. Ich habe weiter oben zitiert, dass Sohn-Rethel Adorno zwar seine Referenz erweist, sich aber auch von ihm abgrenzt. Umgekehrt hat sich auch Adorno von Sohn-Rethel abgegrenzt. Das wussten und wissen die Adorno-Schüler genau. Einzelheiten findet man online bei Ralf Kliche, Entzauberung einer Chimäre – Formanalyse und abstraktes Denken bei Alfred Sohn-Rethel, 1. Kapitel: „Sohn-Rethel und die Kritische Theorie“, und auch der mehrfach zitierte Aufsatz von Reichelt: Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien (in Fetscher/Schmidt, Emanzipation als Versöhnung, Frankfurt/M. 2002), spricht es an (S. 142).

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Es ist mir nicht gelungen, Hinweise auf Adornos Dialektik-Konzeption im Dritten Teil meiner Notizen unterzubringen, was ich eigentlich vorhatte. Da fügt es sich gut, dass ein neues Adorno-Buch zum Thema erschienen ist: Einführung in die Dialektik, Band 2 der Nachgelassenen Schriften, Suhrkamp, Berlin 2010. Es ist eine Vorlesung von 1958. Sobald ich sie gelesen habe, werde ich eine weitere Beilage produzieren und die Vorlesung dort einbeziehen.