(73) Euphemistische Werbung und das Angsterregende

4. Wie Waren den Käufern unmittelbar begegnen / Vierter Teil – Vor der Erörterung von Proportionswahlen: Zugehörige neue, nicht mehr kapitalistische ökonomische Institutionen

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Von Werbung in der Anderen Gesellschaft soll nun die Rede sein. Der bisherige Gedankengang muss nur fortgesetzt werden. Ich habe Schönheit und verfehlte oder, in der Warenwelt, vorgetäuschte Schönheit zu unterscheiden versucht und Instanzen postuliert, die den Unterscheidungssinn stärken, indem sie mögliche Alternativen zur vorfindlichen Warenästhetik propagieren. Man muss dann ja weiterfragen, wie sie das machen; inwiefern sie es anders machen als die Unternehmen. Das ist die Frage der Werbung. Ich will zunächst Werbung, wie sie  h e u t e  begegnet, allgemein charakterisieren. Ihre Struktur zu erfassen, ist nicht allzu schwer, da verdienstvolle Leute das Material, das man kennen muss, seit langem immer wieder zusammengetragen, geordnet und dem Publikum zugänglich gemacht haben. Es gibt seit 1964 das Jahrbuch der Werbung. Die Jahrgänge seit 2006 kann man im Internet durchblättern. Für mich war der Jahrgang 1988 besonders instruktiv, weil hier neben privater auch öffentliche, von der Regierung in Auftrag gegebene Werbung schwerpunktmäßig behandelt wurde.

Dies geschah vor dem Hintergrund, dass damals nicht nur zwei erfolgreiche öffentliche Werbekampagnen gelaufen beziehungsweise angelaufen waren, darunter seit 1985 „Gib AIDS keine Chance“, sondern auch eine breite kritische Debatte über private Werbung entstanden war, die bis in die Regierung Helmut Kohl hineinwirkte oder sogar von ihr ausging, ich weiß es nicht mehr. So forderte Rita Süssmuth, CDU, nicht nur, die Zigarettenindustrie möge auf einen Teil ihres Werbevolumens verzichten, sondern kritisierte auch an  a l l e r  privaten Werbung das  F r a u e n b i l d . Sie war Familien- und Gesundheitsministerin. Der damalige Umweltminister Töpfer äußerte, die Autoindustrie solle „offensivere Werbung mit Umweltargumenten“ machen, was wohl ebenfalls kritisch gemeint war. Im Gegenzug warnte Graf Lambsdorff, FDP, wer die Werbung angreife, greife die Freiheit an, und irgendjemand, sicher aus dem Industriellenlager, ich kann es nicht mehr spezifizieren, stellte polemisch einen Zusammenhang zwischen öffentlicher Werbung und der NS-Werbung für „Kraft durch Freude“ her. Andere, die ihren Ton zügelten, erklärten säuselnd, es sei falsch, der Werbung „gesellschaftspolitische Lösungen aufzubürden“. Tatsächlich sah die Regierungsseite öffentliche Werbung als Kommunikation über gesellschaftliche Aufgaben. Man sprach von Social Advertizing (der Ausdruck wird heute anders verwendet).

Wie früher dargestellt, treten in der Anderen Gesellschaft Unternehmenswerbung und Werbung durch unabhängige Künstler-Instanzen auf allen Gebieten gegeneinander an und kommunizieren miteinander. Da liegt es doch nahe zu fragen, ob im längst praktizierten Social Advertizing Elemente angetroffen werden, die auf die Praxis jener Instanzen, die ebenfalls öffentlich, wenn auch regierungsunabhängig sind, schon vorausweisen. Sofort sieht man, es ist tatsächlich der Fall. Denn der bloße Umstand, dass private und öffentliche Werbung nebeneinanderstehen, regt zum Vergleich an und der Vergleich deckt auf, wie private Werbung strukturiert ist. Genau der Effekt also, den wir von jenen Instanzen der Anderen Gesellschaft erwarten: dass sie, wenn sie ein mögliches Angebot propagieren, die Kraft zur Beurteilung der Dinge schärfen, die wirklich auf dem Ladentisch liegen, tritt hier und heute wenigstens in einer Grundfrage schon ein. Noch hilft uns zwar niemand, einzelne Waren schärfer zu sehen; die öffentliche Werbung nimmt keinen Bezug auf sie. Aber was im Ganzen die Methode ist, Waren so zu propagieren, dass wir fasziniert sind, können wir durch den bloßen Vergleich bereits erkennen.

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Wir nehmen die Kampagne „Gib AIDS keine Chance“ als Modell und betrachten sie zunächst in der Form, wie sie damals angelaufen war. Die Regierung hatte sie ganz einfach bei drei Werbeagenturen bestellt, die sonst für private Unternehmen arbeiteten. Zeigt das nun, dass öffentliche Werbung ein Epiphänomen privater Werbung ist, oder zeigt es, dass Werbeagenturen auch anders können, zur Vermengung von Ästhetik und Kapitallogik nicht schon automatisch neigen? Um die Frage zu beantworten, sehen wir zu, wie sie ihre Aufgabe gelöst haben. Fünf Hauptmerkmale springen ins Auge.

Erstens haben sie AIDS „euphemistisch“ dargestellt. Man sieht keine sterbenden Körper, sondern lustige Witze, zum Beispiel eine Brille aus Kondomen. Zweitens, es wird mit Metaphern gearbeitet, nicht nur in solchen Bildern, sondern auch in den Texten. Der Spruch „Gib AIDS keine Chance“ ist insofern eine Metapher, als er für Sex einen sportlichen Wettkampf substituiert. Drittens haben die Plakate deutlich erkennbar die Funktion, zu einer Handlung aufzurufen, eben dazu, sich beim Sex des Kondoms zu bedienen. Auch gegebenenfalls dazu, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Viertens wird der Sex heruntergespielt durch den Kampagnenspruch, der alle Plakate, mit ihren unterschiedlichen Bildmotiven, als Refrain zusammenhält: „Freie Fahrt für Zärtlichkeit“. Auch das ist eine Metapher – zärtliche Hände werden zum Automobil -, aber eben eine sehr verschwiegene, denn wenn es allein um Zärtlichkeit ginge, wären Kondome ganz überflüssig. Der Refrain wurde später geändert, er lautet seit 1993 „Mach’s mit“. Das erörtern wir noch.

Das fünfte Merkmal geht nicht auf die Agenturen zurück, ist dem Erfolg ihrer Arbeit aber typisch vorausgesetzt: Ihre werbliche Kampagne kann nur funktionieren, weil sie auf einer nichtwerblichen und zwar politischen Kampagne aufruht. Die Plakate hätten nämlich nichts bewirkt, wäre das Thema AIDS nicht vorher durch die Medien ins Bewusstsein gerufen worden. Als die Kampagne dann lief, war sie nicht nur Werbekampagne. Ihr Werbungsaspekt sollte auch den Rahmen für Problemgespräche schaffen. Man organisierte solche mit den wichtigsten Zielgruppen, ging überdies in Unternehmen und Zeitungsredaktionen. Die gesprächsführenden Personen waren durch eine vierwöchentliche Schulung qualifiziert worden. Eine ganze „Logistik“ wird also sichtbar.

Es ist nicht schwer zu sehen, dass alle fünf Merkmale direkt oder abgewandelt auch jede private Werbung charakterisieren. Bei den ersten drei Merkmalen gibt es überhaupt keinen Unterschied. Denn auch private Werbung ist euphemistisch. Sie tut ja so, als bestünde die Welt nur aus guter Laune, hübschen Menschen, gesunder Nahrung und prächtigen Landschaften. Und auch sie arbeitet mit Metaphern. Und auch sie ist dazu da, eine Handlung hervorzurufen, nämlich den Kauf. Die Abweichungen beim vierten und fünften Merkmal sind bemerkenswert, heben aber die Ähnlichkeit nicht auf. Dem, was ich „nichtwerbliche Kampagne“ genannt habe, entspricht bei der privaten Werbung die „Mode“ im weitesten Sinn. Mode wird nämlich nicht nur von Unternehmen und Werbeagenturen kreiert, sondern diese reagieren auch auf Impulse, die aus der Gesellschaft kommen. Sie deuten diese Impulse und deuten sie um. Es ist ein Verdienst des in der 71. Notiz erwähnten Buchs von Haug über Warenästhetik, das herausgestellt zu haben. In aller Regel sind es nicht politische Impulse, die umgedeutet werden, doch auch solche kommen vor. Man denke nur an den Höhepunkt der Beatmusik um 1968 herum, der auch ein kommerzieller war, sich in profitorientierter Werbung und entsprechenden Produktdesigns niederschlug, zu dem es aber nur kommen konnte, weil die „68er“ politische Bewegung entstanden war. Und hier kann man nicht einmal von einer Umdeutung der Impulse sprechen.

Interessanter noch als all das ist die Abweichung beim vierten Merkmal: Private Werbung spielt Sex gerade nicht herunter, sondern hält ihn, man kann kaum sagen unterschwellig, präsent. Wir haben fast schon die gesuchte Struktur. Eine Struktur ist das, worin verschiedene Varianten einer Sache, die man durch den Vergleich als dieselbe erkennt, übereinstimmen. Die Gemeinsamkeiten liegen beim ersten, zweiten, dritten und fünften Merkmal auf der Hand. Nur beim vierten müssen wir das Gemeinsame erst noch herausarbeiten. Das ist aber nicht schwer. Es liegt darin, dass private wie öffentliche Werbung sich ans Individuum adressiert. Das Individuum ist es, das sich von privater Werbung zur Handlung des Kaufs aufgerufen findet. Öffentliche Werbung will in aller Regel nicht Kauflust wecken, sondern ruft etwa zur Wahl einer Partei oder zum Ausfüllen eines Volkszählungsbogens auf. Nur gerade bei der Anti-AIDS-Kampagne, die wir hier näher betrachten, geht es ums Individuum, das eine Ware erwerben soll. Dieses Individuum wird nun eben als zärtliches statt als sexuelles angerufen.

Die Struktur ist fertig: Private Werbung ist  e u p h e m i s t i s c h ,  m e t a p h o r i s c h ,  h a n d l u n g s o r i e n t i e r t ,  a d r e s s i e r t  s i c h  a n s  I n d i v i d u u m  u n d  r e a g i e r t  a u f  M o d e . Öffentliche Werbung hat dieselbe Struktur. Woran nichts ändert, dass sie sich ans Individuum nicht sexistisch sondern  a b s t r a k t  adressiert – nicht gänzlich abstrakt bei der Anti-AIDS-Werbung, denn „Zärtlichkeit“ ist konkret, allerdings wird gerade vom Sex abstrahiert, der gefährlich ist; aber wenn man die Wahl- oder Volkszählungswerbung nimmt, da fällt alles unter den Tisch, was den Adressaten konkretisieren könnte – und dass die „Mode“, auf die sie reagiert oder die sie hervorzurufen sucht, nicht ausnahmsweise sondern immer  p o l i t i s c h  ist.

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Das sieht nun so aus, als teile die öffentliche Werbung alle Mängel der privaten und füge noch neue hinzu. Denn wenn es schon schlimm ist, Individuen sexistisch zu zeigen, ist es vielleicht noch schlimmer, sie abstrakt aufzufassen. Doch der Reihe nach. Wir prüfen zuerst das erste Merkmal, den Euphemismus. Bei dem scheint es offensichtlich, dass die öffentliche Werbung in eine schlimme Falle tappt.

Denn Euphemismen, sind sie nicht das Unwahre? So also, denkt man, täuscht das Kapital Schönheit vor, die wir doch als Vorschein des Wahren definiert haben. Aber die Sache ist komplizierter. Es ist zwar richtig, dass die Euphemismen der Privatwerbung in aller Regel verlogen sind. Und es ist immer dieselbe Lüge, wir können sie auf eine einfache Formel bringen: Von allem, was  A n g s t  macht, wird systematisch abgelenkt. Ein Gedicht von Ingeborg Bachmann, das wahrscheinlich noch heute auf dem Lehrplan der Schulen steht, spricht es aus: „sei ohne sorge / heiter und mit musik / am besten in die Traumwäscherei“. Das ist die immer gleiche Botschaft. Am Ende der Chock: „was aber geschieht / wenn Totenstille // eintritt“. Das Gedicht heißt „Reklame“.

Private Reklame ist nicht nur in einem allgemeinen Sinn euphemistisch, sondern ganz speziell darin, dass sie reine, geschlossene, „unzerstückelte“  K ö r p e r b i l d e r  zeigt, die einfach um ihrer Rundheit willen als schön gelten sollen. Sie zeigt nicht nur wohlgerundete Menschen, sondern auch runde  t e c h n i s c h e  Körper, oder perfekt eckige, was aufs Selbe hinausläuft – die Körper beanspruchen Schönheit, einfach weil sie geometrisch normal sind -; die Krankheit menschlicher, die Störanfälligkeit technischer Körper bleibt unsichtbar. Man behandelt den menschlichen Körper wie ein technisches Design, dem technischen Körper gibt man eine glatte menschliche Haut. Heiter und mit Musik. Und so gesund er selber ist, wird er auch in eine gesunde Umwelt gesetzt. Das Auto, dem früher gern ein hübsches Girl auf der Motorhaube saß, ist heute eher in blühenden Mittelgebirgen anzutreffen. Man wird es nicht vor Kathedralen zeigen, die vom Autoverkehr schwarz geworden sind. Also, das ist verlogen. Alles sieht hübsch aus, das Angsterregende wird übertüncht. Gerade als Verdrängtes soll es aber wirken. Denn von der Angst soll man, um besser verdrängen zu können, zum Hübschen flüchten, man soll es kaufen.

Im Grunde versucht private Werbung dadurch, dass sie die Angst totschweigt, sie ins Unermessliche zu steigern und eine entsprechend kopflose Reaktion hervorzurufen, den Kauf eben. Angst, von der man wüsste, wäre weniger groß. Mit ihr könnte man besonnen umgehen. Merken wir überhaupt noch, wie uns das inflationäre Grinsen der Reklame-Menschen in Fesseln legt, solche der Faszination und solche der Unterwerfung? Uns selbst ist doch gar nicht immer zum Grinsen zumute. Die Reklame suggeriert aber, das sei unnormal.

Nun muss aber die umgekehrte Rechnung aufgemacht werden. Sollen Werbekampagnen, statt euphemistisch zu sein, den Charakter von Angstkampagnen haben? Das wäre genauso verkehrt. Das  i s t  genauso verkehrt, wenn der Staat auf Zigarettenpackungen „Rauchen kann tödlich sein“ schreibt, der französische Staat sogar ein Raucherbein abbilden lässt. Kleine politische Zirkel, die ihr Geld für Plakate zusammengelegt haben, sind den Irrweg immer wieder gegangen: Wenn sie Kinder mit aufgeschwemmten Bäuchen in Elendsgebieten zeigen, löst das einen Chock aus, auf den man mit schneller Verdrängung und  n i c h t  mit einer solidarischen Handlung reagiert. Die Plakate öffentlicher Werbung, die zeigen, dass Kinder in Elendsgebieten auch gesund sein können, wenn nämlich gespendet wurde (und die Spenden auch ankommen), sind da schon besser. Euphemistisch muss man auch sie nennen, aber der entscheidende Unterschied ist, dass auch das Angsterregende präsent bleibt, wenn nicht im Bild, dann doch durch den Text. Die Motivation zu spenden kommt trotz allem vom Wissen um den Welthunger. Die Anti-AIDS-Kampagne ist noch vorbildlicher. Denn hier stehen die euphemistisch-lustigen Elemente und die Evozierung von AIDS, dieser schrecklichen Krankheit, im schreienden Widerspruch, der gerade das ist, was zur Besonnenheit auffordert, will sagen zum Kondomgebrauch. „Gib AIDS keine Chance“, das ist ja, als wenn man sagt „Lass den Tumor einen guten Mann sein“ oder „Kämpfe fair mit Sportsfreund Alzheimer“.

Das Angsterregende und die Angst selber bewusst zu halten und doch nicht direkt zu zeigen – sondern wie durch einen Schleier hindurch -, ist ein Gesetz der unverfälschten Schönheit. Es ist das, was Nietzsche in seinen Anfängen als „apollinisch“ bezeichnet, als „Tanz über Abgründen“, oder worum es im dritten Akt von Faust II geht, wo Helena, Sinnbild klassischer Schönheit, ihre Angst, wie ein Tier geschlachtet zu werden, in die Worte fasst: „Bedenklich ist es; doch ich sorge weiter nicht, / […] Es möge gut von Menschen oder möge bös / Geachtet sein; die Sterblichen, wir ertragen das. / Schon manchmal hob das schwere Beil der Opfernde / […] Und konnt‘ es nicht vollbringen, denn ihn hinderte / Des nahen Feindes oder Gottes Zwischenkunft.“

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Dieses Merkmal also jedenfalls, dass die öffentliche Werbung euphemistisch ist, spricht  n i c h t  gegen sie. Es kann so, wie die besten heutigen Beispiele es vorführen, von jenen Künstler-Instanzen der Anderen Gesellschaft übernommen werden. Freilich tritt es dann in Kommunikation und Konkurrenz mit den Euphemismen der privaten Werbung, das ist das Neue. Der Unterscheidungssinn der Käufer wird gestärkt, indem „apollinische“ Schönheit mit jener Scheinschönheit konfrontiert wird, die so tut, als gäbe es für Angst keinerlei Gründe. Wie die Künstler das machen, habe ich hier nicht zu phantasieren. Es ist nicht mein Fach. Ich wollte nur zeigen, dass die Verlogenheit von Werbung kein Schicksal ist, das uns unrettbar in die Enge treibt, so dass wir ihm nur entkommen könnten, wenn es möglich wäre, zusammen mit dem Kapital auch die Ware-Geld-Beziehung aufzugeben. Nein, wenn es kein Kapital mehr gibt, kann man der Verlogenheit sehr leicht einen Strich durch die Rechnung machen. In der nächsten Notiz behandle ich das andere wichtige Merkmal von Werbung, die Adressiertheit ans Individuum, das heute in öffentlicher Werbung abstrakt, in privater sexistisch vorgeführt wird.