Ich habe in der vorigen Notiz skizziert, wie eine dem Postulat der Offenlegung aller Daten folgende Konkurrenz-Ökonomie funktionieren würde. Nachdem wir die Anschauung haben, erörtere ich jetzt erst die eigentlich vorgeschaltete Frage, „was für und was gegen das Postulat sprechen könnte“. Zuerst will ich daran erinnern, dass es heute schon einige Offenlegungspflichten gibt und weitere bereits in der Diskussion sind, ja in die Wege geleitet werden. Dann begründe ich, weshalb eine Reihe aktueller Vorgänge für noch radikalere Offenlegungsschritte sprechen. Drittens und viertens geht es um zwei Hauptprobleme, die sich der radikalen Offenlegung in den Weg zu stellen scheinen: Werden Unternehmen, die im Wirtschaftsraum der Anderen Gesellschaft allen alles bekannt geben müssen, dadurch in ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit benachteiligt? Denn was in diesem Binnenraum allen bekannt wird, wird der ganzen Welt bekannt. Und weiter, gefährdet die Offenlegungspflicht, da sie auch für die Presse und überhaupt alle Medien gelten würde, deren Freiheit und Vielfalt?
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Die Publizitätspflicht für Kapitalgesellschaften und Personenhandelsgesellschaften gibt es seit eh und je. Sie sind verpflichtet, den kaufmännischen Jahresabschluss im Elektronischen Bundesanzeiger zu veröffentlichen. Auf börsennotierte Unternehmen schaut man genauer, sie können zur vierteljährlichen Veröffentlichung von Geschäftsberichten verpflichtet werden. Ganz ohne Aufschub sind Tatsachen bekannt zu machen, von denen zu erwarten ist, dass sie den Aktienkurs erheblich beeinflussen (Ad-hoc-Publizität). Das schweizerische Recht kennt darüber hinaus die Pflicht zur Offenlegung von Vermögensbeteiligungen an börsennotierten Unternehmen (dadurch können Strategien feindlicher Übernahme frühzeitig erkannt werden).
Stärkere Pflichten sind generell den Banken auferlegt. Die Basler Rahmenvereinbarung von 2004 (Basel II) schreibt den europäischen Kreditinstituten vor, über Kreditvergabe, Kapitalstruktur, Kreditrisiko, Zinsveränderungsrisiko, operationelles und Marktrisiko sowie über Verbriefungen und Beteiligungsinstrumente Offenlegungsberichte auf der hauseigenen Internetplattform zu veröffentlichen. Hierbei gilt allerdings der Vertraulichkeitsgrundsatz, das heißt die Berichte müssen so abgefasst sein, dass eine Rückverfolgung auf Einzelkunden und deren Transaktionen unmöglich ist. Empfohlen wird die halbjährliche, für große, international tätige Institute die vierteljährliche Offenlegung. Seit der Bankenkrise ist damit zu rechnen, dass noch kürzere Intervalle durchgesetzt werden, auch in Deutschland, wo bisher in der Regel nur jährlich veröffentlicht werden muss.
Diese Krise hat die USA veranlasst, von anderen Staaten den Austausch von Steuerdaten zu verlangen. Ausländische Banken sollen Auskunft über Vermögen und Einkünfte amerikanischer Staatsbürger geben. Von diesen wird erwartet, dass sie von selbst über ihre Konten im Ausland und das dort lagernde Vermögen informieren. Umgekehrt sollen die US-Banken über die Zinseinkünfte ausländischer Kunden Auskunft geben. Das entsprechende Gesetz Fatca (Foreign Account Tax Compliance Act) ist, wie man sich denken kann, international umstritten, doch da die USA eine starke Kraft sind, ist seine Durchsetzung in vielleicht etwas modifizierter Form nicht unwahrscheinlich und auch schon im Gange. Im Übrigen war bereits auf der G 20-Konferenz 2009 vom Ende des Bankgeheimnisses die Rede gewesen.
Eine andere Entwicklung hat mit der Krise gar nichts zu tun: Das Europaparlament will Unternehmen mit mehr als 30 Mitarbeitern zur Offenlegung der Gehälter zwingen. Damit soll erreicht werden, dass Frauen und Männer für gleiche Arbeit gleichen Lohn erhalten. Man verweist darauf, dass die bloße Zusammenstellung der Daten in Ländern, die schon offengelegt haben, zu einer Angleichung der Gehälter geführt hat.
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Einige aktuelle Entwicklungen legen die Notwendigkeit noch weiterer Offenlegungen nahe. Die erste Erinnerung mag auf die Berliner Wasserverträge fallen, wo der Zusammenhang von Geheimhaltung und fragwürdigem Inhalt evident ist. Hier konnte man sehen, dass die schönste Offenlegung ins Leere liefe, würde sie nur die Informierung staatlicher Behörden zum Ziel haben. Man muss aber vor allem das Umgekehrte hervorheben: dass staatliche Behörden selbst nicht genug informiert werden, bei weitem nicht genug, um auch nur die notwendigsten wirtschaftsbezogenen Gesetzentwürfe erstellen zu können. Was ich an gesetzlicher Informationspflicht aufgezählt habe, hilft ihnen wenig. Sie bitten also die Unternehmen um Auskunft, und es ist nur natürlich, dass solche zum einen selektiv gegeben wird, zum andern die Frage der Gegenleistung im Raum steht. Wer wird sich wundern, dass die Korruptionsforschung auf dies Feld der Verhandlung oder des Handels aufmerksam geworden ist (vgl. meinen Artikel Die moderne Landschaftspflege)?
Einen Vorgang gibt es, der wie ein verzerrter Spiegel der Anderen Gesellschaft anmutet und gerade deshalb umfassendste Offenlegungsnotwendigkeiten erkennen lässt. Ich spreche von der „Energiewende“ in Deutschland. Das ist ein Umbau, wie er auch aus allgemeinen ökonomischen Wahlen hervorgehen könnte. Es ist ja gerade der Sinn solcher Wahlen, dass so ein Umbau, wenn die Andere Gesellschaft ihn will, dann auch in die Wege geleitet wird: nicht erst nach 30 Jahren hinhaltenden Widerstands von Unternehmen, die ihn aus Profitinteresse nicht wollen, sondern sofort. Der Umbau indes, von dem wir sprechen und der nun wenigstens endlich beginnt, wenn auch mit stärkster Verzögerung, hat auch weiter mit dem Unwillen und Egoismus der Unternehmen zu kämpfen.
Sie sehen laut einer Befragung die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland und auch die Versorgungssicherheit gefährdet. Während sie durchaus auch konstruktive Vorschläge machen, setzen sie die Kosten des Umbaus hoch an und werden jedenfalls versuchen, sie so weit wie möglich auf die Endverbraucher abzuwälzen. Das ist exemplarisch. Übertreibung und Abwälzung der Kosten wird jeden beliebigen Umbau belasten, es sei denn, man bestreitet den Unternehmen das Recht zur Geheimhaltung der Kostenkalkulation. Man kann hier auch an die Auseinandersetzung um S 21 zurückdenken: Obwohl die Deutsche Bahn dem Staat gehört, konnten Kritiker keinen Einblick in die Kostenkalkulation erlangen und saßen vor allem deshalb am kürzeren Hebel. Ohne solchen Einblick ist keine Demokratie möglich, und es reicht nicht, wenn ein Staat ihn nur sich selbst gewährt.
Die Energiewende zeigt im Übrigen auch, dass unsere Gesellschaft für Umbauten solchen Kalibers gar nicht gerüstet ist. Dabei wird heute, wie es nicht anders sein kann, die Forderung neuer Strukturen der Organisation an den Staat adressiert. In der Tat blockieren sich zahlreiche Behörden gegenseitig. Die Planungsleitlinien von Bund und Ländern sollen vereinheitlicht werden, es ist aber noch ganz unklar, wer welche Zuständigkeiten bekommt oder abgibt und welche Rolle das Bundesumweltministerium spielen soll. Solange das Chaos andauert, blockieren sich vor allem die Investoren: Ökostrom und Netzausbau müssten ja aufeinander abgestimmt sein und die Netzbetreiber müssten wissen, wo neue Netze überhaupt gebraucht werden. Es ist schon lachhaft, dass man versucht hat, einen Einzelnen, den geschassten Umweltminister Röttgen, für die komplexen Schwierigkeiten des Umbaus verantwortlich zu machen.
Selbst alle staatlichen Behörden zusammen sind hier überfordert. In der Anderen Gesellschaft wird es, wie in früheren Notizen skizziert, einen ökonomischen Rat geben, eine Versammlung, in der sich die von einem Umbau betroffenen Unternehmen, Manager wie Beschäftigte, über das, was zu tun ist und wie die Rollen neu verteilt werden können, unmittelbar austauschen. Es ist, wie ich schrieb, die Stunde ihrer Kooperation. Vor und nach ihrer Konkurrenz schlägt diese Stunde: immer wenn eine ökonomische Wahlperiode abgelaufen ist und eine neue beginnt. Die Politik sorgt hier nur von außen dafür, dass der Umbau so erfolgt, wie die Gesellschaft es von neuem gewählt hat. Daran muss sich der ökonomische Rat halten, während die technische Umsetzung seine Sache ist. Und wenn etwas nicht umsetzbar ist oder nur um den Preis unzumutbarer Kosten, darf er sein Veto einlegen. Das funktioniert aber nur, wenn der Politik und der ganzen Gesellschaft die Kostenkalkulationen zugänglich sind.
Zum Kontext Energiewende gehört auch die Meldung, dass nach der Studie einer Beratungsfirma nur ein Drittel der deutschen Solarunternehmen überlebensfähig ist. Von 232 Unternehmen werden, so heißt es, bis 2017 nur 86 übrigbleiben. Zu solchen sich abzeichnenden Verlusten wäre es nicht gekommen, hätte es, wie in der vorigen Notiz beschrieben, vor aller Konkurrenz eine allgemein zugängliche Vorausinformation über die ökonomische Stärke und Erfolgsaussicht der Unternehmen gegeben. Dann hätten von vornherein nur jene 86 Unternehmen und einige wenige dazu, die sich noch Chancen hätten ausrechnen können, das Wagnis der Konkurrenz auf sich genommen.
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Ich komme zur Erörterung der beiden Probleme, die sich der Offenlegung in den Weg zu stellen scheinen, will aber vorher noch einmal begründen – es kann nicht oft genug wiederholt werden -, weshalb das Offenlegungspostulat jedenfalls g e r e c h t f e r t i g t ist: weil zwar richtig bleibt, dass private Daten privater Personen vertraulich behandelt werden müssen, nicht alles aber, was man „privat“ nennt, es auch wirklich ist. Die „Privatunternehmen“ sind es nicht und Bankeinlagen von „Einzelkunden“, wenn sie eine gewisse Höhe überschreiten, sind es auch nicht. Diese verhalten sich, das ist wahr, privat zur Gesellschaft – „privat“ heißt abgesondert -, aber die Gesellschaft kann sich nicht ihrerseits privat zu ihnen verhalten. Sie kann sich zum Beispiel nicht von den Folgen einer gigantischen Nahrungsmittel- oder Währungsspekulation absondern. Daher ist das Verhältnis zwischen vermögenden Bankkunden und der Gesellschaft als solches nicht im mindesten privat.
Was die Privatunternehmen angeht, so bedürfen sie selber einer Rechtfertigung ihrer Existenz, die nur darin liegen kann, dass sie der Gesellschaft nützen. Zur Optimierung des Nutzens gehört aber, dass sie ihre Daten offenlegen. Es wurde auch schon ausgeführt, dass der Unternehmer nur vor dem Hintergrund seines Unternehmens Unternehmer ist, ähnlich wie jemand, der „Staatsmann“ ist, es nur vor dem Hintergrund des Staates sein kann. Unternehmen wie Staaten sind Institutionen und können als solche keine Intimsphäre haben.
Aber nutzt das nun wirklich, schadet es nicht vielmehr, wenn durch die Offenlegung der Daten im regionalen Raum der Anderen Gesellschaft auch alle übrigen Weltregionen informiert werden? Ohne dass Wirtschaftsspionage betrieben werden muss? Nun, die Wirtschaftsspionage pflegt auf avancierte technische Verfahren gerichtet zu sein, diese bleiben aber auch in der Anderen Gesellschaft bis zur Ausreifung und ersten Anwendung geheim. Danach genießen sie Urheberschutz. Ich habe gesagt, der Schutz erlischt nach dem Ende der Wahlperiode, man könnte es aber so regeln, dass er nur im regionalen Raum der Anderen Gesellschaft erlischt. In den übrigen Regionen nur dann, wenn sie den Schritt zur demokratischen Wirtschaftsordnung auch schon getan haben oder wenigstens in ein symmetrisches internationales Verhandlungssystem eingetreten sind. Das bleibt zu diskutieren. Was die Offenlegung der Kostenkalkulation angeht, so kann sie die internationale Konkurrenzfähigkeit bestimmt nicht schmälern. Es geht ja eine Nötigung von ihr aus, die Preise eher niedrig zu halten, womit man auf allen Märkten der Welt gut ankommt.
Die Medien sind ein Thema für sich, das ins Kapitel über die ökonomischen Wahlen gehört und dort ausführlich behandelt werden wird. Hier nur grundsätzlich: Medien gehören sicher zu den Dingen, von denen die Andere Gesellschaft es ablehnen wird, sie ganz zu kommodifizieren. Sie können so wenig nur nach der Warenlogik funktionieren wie ein Staat nur nach der militärischen Logik. Wie sich die Gewehre nach der Politik zu richten haben und nicht umgekehrt, hat sich das Geld, das die Kosten der Zeitungs- oder sonstigen Medienproduktion deckt, nach der Informationsvielfalt und den argumentativen Prozessen zu richten, für deren Veröffentlichung die Medien da sind, statt dass sich umgekehrt die argumentativen Prozesse und die Informationsvielfalt nach dem Geld richten. Da wird Vieles umzubauen sein. Man könnte sich zum Beispiel für ein schlichtes Verbot entscheiden, Medien durch private Vermögen zu kaufen. Es wäre doch auch denkbar, dass alle Medienkäufer ihr Geld in einen Fonds einzahlen, von wo aus es dann nach gesellschaftlichen Kriterien an die Medien gerecht verteilt wird.
Was die Medien tun, muss von ihren Redaktionen und Redaktionsleitungen, sagen wir kurz: von ihren Redaktionen bestimmt werden können. Natürlich unter der Voraussetzung hoher Qualität der medialen Arbeit, die durchs Zusammenspiel eines guten Ausbildungssystems, der redaktionellen Selbstverwaltung und einer Art Argumentationsgüte-Supervision (nicht -Kontrolle) durch überparteilich zusammensetzte Gremien garantiert wird. Man glaubt doch auch, dass die Qualität der akademischen Arbeit durch das Zusammenspiel von Institutionen garantiert werden kann, warum soll nicht dasselbe bei der medialen Arbeit gelingen. Die entscheidende Frage ist, wie man die gesellschaftliche Argumentationsverteilung demokratisiert, dergestalt dass sozial oder funktionell wichtige Gruppen und auch Einzelpersonen, die „etwas einzubringen haben“, mit ihren Argumentationen und den nur ihnen wichtigen oder zugänglichen Informationen erst einmal überhaupt an die Öffentlichkeit gelangen. Wo solche Gruppen oder Personen mediale Qualität hervorbringen, muss diese sich äußern können, das dafür nötige Geld ist zur Verfügung stellen und erst auf solcher Basis kann sinnvolle mediale Konkurrenz, als Konkurrenz nicht des Geldes, sondern der Argumentation und Information, überhaupt beginnen. So werden neue Medien geschaffen, alte aber nicht etwa beseitigt, vielmehr allenfalls in die Hände ihrer Mitarbeiter gelegt.
Ist dann die Offenlegung der ökonomischen Daten medialer Unternehmen ein Manko? Im Gegenteil, sie hilft der Demokratisierung und garantiert, dass dort nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet wird. Das Manko haben wir heute, wo man nicht selten den Eindruck einer Art Gleichschaltung gewinnt und kaum die Chance hat, zu durchschauen, wie sie zustande kommt.