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Wie die Andere Gesellschaft undenkbar ist ohne Parlamentarismus – Thema meiner Blog-Notizen 4 bis 6 -, so ist sie auch undenkbar ohne Rechtsstaatlichkeit. Um mich diesem letzten Thema meiner „Exposition“ zu nähern, gehe ich vom Begriff der Menschenrechte aus.
Rechtsstaatlichkeit bedeutet ja nicht einfach, dass ein Staat Recht kodifiziert und mehr oder weniger einhält, denn sonst wären alle Staaten, die es je gegeben hat, Rechtsstaaten gewesen. Nein, ein Rechtsstaat setzt „freie Individuen“ voraus: Sie zu schützen, also „die Freiheit“ zu schützen, dazu ist er da. Das heißt, er beugt Übergriffen anderer aufs einzelne Individuum vor und hindert umgekehrt dieses an Übergriffen auf andere. Wenn das gelingt, ist schon viel erreicht, nämlich ein „Landfrieden“. Aber erst wenn der Staat selber so eingerichtet ist, dass auch er nicht, unter welchen Vorwänden immer, auf individuelle Freiheiten übergreifen kann, ist der Rechtsstaat vollendet.
Typisch rechtsstaatliche Verfahren wie den Mehrinstanzenweg oder das Recht auf einen Verteidiger, auch Grundsätze wie die Unschuldsvermutung will ich hier nicht erörtern. Denn sie setzen immer schon die Freiheit des Individuums als zu bewahrende Zweckursache voraus, während mich die Frage interessiert, bis zu welchem Grad solche Freiheit überhaupt zugestanden wird. Das ist der Grund, weshalb ich mit „Menschenrechten“ einsteige. Bis vor ein paar Jahrzehnten wurde zum Beispiel Homosexualität nicht zugestanden, da galt es als rechtsstaatlich, wenn ein Verdächtigter verurteilt wurde, nachdem seine zunächst korrekterweise vermutete „Unschuld“ (will sagen Heterosexualität) den Beweisen nicht standhielt.
Die „naturrechtliche“ Dimension der Menschenrechte – ob Menschen „von Natur“, weil sie eben Menschen sind, Rechte haben, und zwar solche der freien Individualität -, lasse ich ebenso beiseite. Denn Menschenrechte sind jedenfalls auch eine historische Tatsache. So mag es genügen, von den sie betreffenden „Deklarationen“ auszugehen, etwa der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776, wo wir gleich im ersten Satz lesen, „dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind“. Hierauf basiert jede „bürgerliche“ Verfassung.
Was ist „Freiheit“? Die pursuit of happiness, eine Umschreibung des Rechts, Eigentum zu erwerben (so Hannah Arendt, Über die Revolution, München Zürich 1974, S. 162 f.), erscheint als ihre Verausgabung. Erwerbsstreben ist also als individuelle Freiheit zugestanden. Aber führt es nicht regelmäßig zu Übergriffen in das Eigentum und damit in die Freiheit anderer? Ist nicht die ganze „bürgerliche“ Geschichte eine Geschichte der Enteignungen?
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Woran das liegt, kann niemand erklären, der nicht die Konfusion des Begriffs der „Menschen“ aufzulösen versucht. Sind das freie Individuen? Gewiss. Aber heißt das, sie sind als Private frei? Wie verhalten sich – und zwar in einer „bürgerlichen“ Gesellschaft – das Private, das Individuelle und die Solidarität zueinander?
Das war die Hauptfrage aller Folgen meiner „Exposition“. Im Kontext dieser 12. Notiz führt sie zum Phänomen des militärischen Menschenrechts-Interventionismus. Es folgte der französischen Revolution auf dem Fuße: Napoleon, der sich in einem großen „bürgerlichen“ Rechtsbuch verewigt hat, dem Code Napoléon, war der erste große Menschenrechts-Interventionist. Er hat ganz Europa besetzt, um es zu befreien, was sehr solidarisch war, und um Abgaben einzutreiben, was dem französischen Privatinteresse diente.
Eigentlich hatte er doch dieselbe Rechtfertigung, die noch heute die Menschenrechts-Interventionisten in Anspruch nehmen. Einen Saddam oder ein Taliban-Regime darf man angreifen, weil der eine einen Gaskrieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung führte, die anderen einen besonders rigiden Gottesstaat schufen und dabei die Frauen in unerträglicher Weise erniedrigten. Nun, ganz sicher weiß man nicht, ob das schon Gründe sind, die einen Angriffskrieg rechtfertigen, man fügt daher stets noch Gründe hinzu. So soll Saddam Atomwaffen versteckt haben, und die Taliban waren nicht bereit, die Terrorausbildungslager zu schließen, jedenfalls nicht ohne Verhandlungen, zu denen wiederum die USA nicht bereit waren. Wie dem aber auch sei: Im Grunde möchte man erreichen, dass unsere Gesellschaften nach und nach akzeptieren, dass die „Menschenrechtsverletzung“ als solche schon einen Interventionsgrund darstellt.
Wie hier solidarische mit privaten Motiven vermengt sind, ist gar nicht zu übersehen. Es wird ja ausgesprochen in veröffentlichten Dokumenten: Man behält sich die Möglichkeit militärischer Eingriffe vor, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen zu beklagen und zudem noch eigene Interessen berührt sind, besonders solche der Energieversorgung. Die erste Bedingung zeigt, dass man solidarisch ist. Sie zeigt es vor allem der eigenen Bevölkerung, damit sie nicht etwa meint, die militärische Intervention sei ein (Völker-) Rechtsbruch. Die zweite Bedingung bringt nackte Privatheit ins Spiel. Weil beide Bedingungen zusammenwirken, greift man beim Genozid in Ruanda nicht ein, denn dort sind keine Sonderinteressen interventionsfähiger Mächte betroffen, während man, um in den Kosovo-Konflikt eingreifen zu können, einen Genozid erfindet, den es dort nicht gegeben hat. Was den Irak und Afghanistan angeht, so „vergisst“ man, dass man im einen Fall selbst die Gaswaffen geliefert, im andern selbst den Taliban die Machtübernahme ermöglicht hat.
Lässt sich diese Vermengung auflösen? Denn was auch immer an Privatem hereinspielt, es bleibt ja trotzdem wahr, dass die Frauen in Afghanistan oder die mit Saddams Gas angegriffenen Kurden unsere Solidarität brauchen.
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Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir das Problem einmal von der anderen Seite betrachten: Wie war denn unter dem Taliban-Regime das Verhältnis von Privatem und Solidarischem geregelt? Privatheit war schlechterdings verboten. Natürlich gab es individuelle Freiheiten, ich nehme an, dass sogar die Frauen welche hatten, sie werden ihre Burkas selbst gestaltet haben und dergleichen mehr. Man kann über solche Freiheitsreste nur mit Bitterkeit sprechen. Aber mich interessiert hier der Befund, dass in den Augen der Taliban genau ein solches Verhältnis von Individualität und Solidarität gegeben war, wie ich es in früheren Notizen gefordert habe: Die von ihnen bemühten religiösen und patriarchalischen Gemeinschaftswerte ließen Individualität zu, nur musste sie mit dem verträglich sein, was sie unter Solidarität verstanden.
Nun könnte ich sagen: Ja, aber der von ihnen zugestandene Individualitätsraum war lächerlich klein, und ihre Werte, ihr Solidaritätsverständnis waren noch lächerlicher, und vor allem waren es eben nicht die Individuen selber, die darüber entschieden, wie weit der Individualitätsraum sich erstrecken durfte. Mit solchen Klarstellungen würde ich den springenden Punkt nicht treffen. Denn man kann sich eine Gesellschaft sehr gut vorstellen, die sich mit mehr Recht auf den Willen der Individuen beruft und deren Solidaritätsverständnis ernst zu nehmen ist, die aber mit den Taliban darin übereinstimmt, dass sie individuelle Freiheit als ein Gut ansieht, das von solidarischem Verhalten untrennbar ist. Die Sowjetunion war eine solche Gesellschaft. Ihre Ökonomie sollte solidarisch funktionieren, und man kann sagen, sie h ä t t e funktioniert, wären die beteiligten Individuen ausnahmslos solidarisch gewesen. Dass die Einzelnen sich die größte Mühe geben, damit es allen zugute kommt und auf diesem Umweg ihnen selbst, so vernünftig sollten sie sein.
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Wären sie es gewesen, hätte ihre Ökonomie auch ohne Geld funktioniert, alle Widerlegungen durch westliche Ökonomen wären dann Makulatur.
Um die Notwendigkeit von Geld und „Preissignal“ darzulegen, argumentieren diese Ökonomen folgendermaßen: Bei schlechter Wirtschaftsführung eines Betriebs werden Waren produziert, die nur noch zu einem die Kosten nicht deckenden Preis verkauft werden können; so zeigt der Preis, zu dem verkauft werden muss, an, was das „richtige“ Wirtschaftsverhalten wäre. Er zeigt es aber nur dann an, wenn er sich als „Gleichgewichtspreis“ frei herausbilden kann in einem Hin und Her wie bei einer Auktion. Dies setzt natürlich die Existenz von Geld voraus, und es darf sich kein planender Staat an die Stelle der „Auktion“ setzen.
Der polnische kommunistische Ökonom Oskar Lange hat seinerzeit gekontert, eine „Auktion“ sei auch bei zentraler Wirtschaftsplanung ohne Geld möglich. Der Plan der Zentrale stimme vielleicht mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht überein, aber das stelle sich ja dann heraus, indem es zu einem Überhang produzierter Güter sei’s im ganzen Planbereich, sei’s bei einzelnen Betrieben komme. Solche Ungleichgewichte würden sofort korrigiert; wenn auch die Korrektur nicht genüge, gehe sie schrittweise immer weiter gerade wie beim Auktionsmodell, nur eben ohne Geld, Geld brauche man dazu nicht. (Vgl. Zur ökonomischen Theorie des Sozialismus, in: Oskar Lange, Ökonomisch-theoretische Studien, Frankfurt/M. Köln 1977)
Das könnte funktionieren unter der Voraussetzung, dass sowohl die Zentrale als auch der einzelne Betrieb Fehlkalkulationen immer zugibt, ja von sich aus nach ihnen sucht, obwohl dann weder Prämie noch Presselob winken. Fehler zuzugeben, bräuchte ja wirklich nicht schlimm zu sein, weil es eben zuletzt auch denen nützt, die sie gemacht haben. Aber so ist die Welt nicht eingerichtet. Jedes Individuum sagt sich, dass wenn es sich selbst immer nur solidarisch verhielte, es doch die anderen nicht täten, jedenfalls nicht alle anderen. Indem es sich vor der Unsolidarität der anderen schützt, wird es selbst unsolidarisch. Es gibt Fehler nicht zu, weil es richtig erwartet, dass andere, zum Beispiel jene Zentrale, blöd reagieren würden. Kurzum, es verhält sich nicht „individuell und solidarisch“, sondern privat.
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Ein Rechtsstaat darf solche Privatheit nicht verdammen, sondern muss sie garantieren. Ein Staat, der sie um der Solidarität willen verdammt, ist nicht Rechtsstaat, sondern Gottesstaat, sei’s ausdrücklich oder in säkularisierter Form. Es muss aber der Kirche vorbehalten bleiben, meinetwegen auch einem humanistischen Verband, die Solidarität der Individuen zu fördern und zu verlangen. Immanuel Kant hat es scharf formuliert: Ein guter Staat funktioniert selbst in einer Gesellschaft von Teufeln. Das heißt, er muss mit ihnen rechnen, mag man auch wünschen, dass er die Existenz von Engeln ermöglicht, ja erleichtert. Ein staatliches Recht aber, das mit Engeln und Teufeln gleichermaßen rechnet – oder um weniger dramatisch zu sprechen: das mit Engeln rechnet, die mit Teufeln rechnen und deshalb selber ein bisschen teuflisch werden, während es richtige Teufel nicht oder kaum gibt; die kleinen Teufeleien freilich summieren sich und die Quantität der Summen kann in schlimme Qualität umschlagen -, ein solches staatliches Recht ist genau ein Privatrecht. Und das ist es, worauf ich hinauswollte.
Wenn am kapitalistischen Menschen kritisiert wird, er sei „privat statt individuell“, kann das also nicht heißen, dass er vielmehr „individuell statt privat“ sein soll. Ich habe in einer früheren Notiz geschrieben, Individualität schaffe sich einen Privatraum, daneben aber habe sie am Raum der Solidarität teil, über deren Art und Umfang sie ihr Mitbestimmungsrecht ausübe. Jetzt füge ich hinzu, dass auch das Umgekehrte gilt: Es geht darum, privat zu sein, u m individuell sein zu können, ja um s o l i d a r i s c h sein zu können. Denn was ist, wenn das Individuum zu dem Schluss kommt, die in seiner Gesellschaft vorhandene Definition von Solidarität sei ungenügend, vielleicht gar in einem höheren Sinn unsolidarisch? Es sei zum Beispiel unsolidarisch, wenn für Frauen nicht dieselben Rechte gelten wie für Männer, oder wenn man ein „Held der Arbeit“ sein muss, weil sich der Solidaritätsmaßstab der zentralen Planungsinstanz anders nicht bewahrheitet? In solchen Fällen muss das Individuum frei kämpfen können, das heißt es muss sich von den Meinungen und Handlungen anderer, ja womöglich aller anderen, absondern: Es muss privat sein dürfen um einer anderen Solidarität willen. Diese Privatheit hat der Rechtsstaat zu schützen, dafür ist er da.
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Es ist richtig, dafür zu kämpfen, dass insofern alle Staaten der Welt Rechtsstaaten werden. Und das bedeutet, wir können den USA nicht vorwerfen, sie versuchten anderen Gesellschaften ein Privatrecht aufzuzwingen, das noch schädlicher sei als die gewiss rückständigen Solidaritätsvorstellungen dieser Gesellschaften. Denn die Rechtsprivatheit als solche ist nicht nur kein Schaden, sie steht auch nicht im Gegensatz zur Solidarität, würde sie vielmehr voranbringen, gerade auch in diesen Gesellschaften.
Freilich, wenn wir darin ein Kriterium gefunden haben, dann ist es ein Kriterium gegen militärische Menschenrechts-Interventionen. Denn die eignen sich nicht zur Widerlegung rückständiger Solidaritäts-Diskurse. Solche Interventionen werden vielmehr die rückständigen Führer stärken, ihre Gefolgschaften zusammenschweißen. Die Opfer dieser Führer und Gefolgschaften werden nun auch noch Opfer der militärischen Intervention, weshalb sie in vielen Fällen die Gefolgschaften sogar noch vermehren. Das war in Preußen so, als Napoleon es besetzte, das ist heute so in Afghanistan. Mit der Frage, warum die militärische Intervention dann trotzdem unternommen wird, muss man sich nicht aufhalten. Sie wird eben gar nicht um der Solidarität willen unternommen, oder diese spielt allenfalls nebenher mit, und das merken die betroffenen Völker.
Wenn sie gegen ihre rückständige Regierung kämpfen, soll man ihnen helfen, aber nicht militärisch. Es gibt andere Mittel. Ich rede hier nicht vom Genozid. Selbst die schlimmste Regierung wäre zu unterstützen, wollte sie einen Genozid militärisch verhindern. Schade, einen solchen Fall von Regierungshandeln hat es meines Wissens noch nie gegeben (nicht einmal im Zweiten Weltkrieg).