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Nach dem Vergleich der Kapitalbegriffe von Marx und Keynes in den beiden letzten Folgen will ich heute zum Verhältnis von Marx und Max Weber etwas sagen. Das ist aus mehreren Gründen sinnvoll; einer, der allein schon hinreicht, sind die bedeutenden Spuren, die Weber gerade in der bundesdeutschen Marxrezeption seit den 1960er Jahren hinterlassen hat. Das beginnt bei Schülern des Philosophen Theodor W. Adorno, dessen Denken man als „Webermarxismus“ hat bezeichnen können, und setzt sich noch bei jemandem wie Elmar Altvater fort, worauf ich nachher zu sprechen komme. Natürlich ist das Verhältnis von Marx und Weber längst erörtert worden, ich verweise besonders auf die sehr sorgfältige Studie von Bader/Berger/Ganßmann/Knesebeck, Einführung in die Gesellschaftstheorie. Gesellschaft, Wirtschaft und Staat bei Marx und Weber, Frankfurt/M. New York 1976. Hier ist bereits herausgearbeitet worden, dass Weber „den Kapitalismus“ eher negativ, „das Kapital“ hingegen eher positiv bewertet. Diese Paradoxie gilt es zu interpretieren.
Weber versteht unter „Kapitalismus“ das einseitige und damit schlimm problematische Allgemeinwerden von etwas, das an seinem elementaren Ausgangspunkt, dem „Kapital“, einfach nur in besonderer Weise „rational“ ist. Wir werden gleich sehen, wie das funktionieren soll; den Effekt können wir vorausahnen: Kritiker des „Kapitals“, aber auch des „Kapitalismus“ werden sich verstrickt finden in den aussichtslosen Versuch, eine „Rationalität“ anzugreifen, und in die Schmach, ihrerseits „irrational“ zu wirken.
In einem solchen Diskurs kann gewählt werden,
ob man sich über das Schlimme am „Kapitalismus“ beklagt, aber folgenlos beklagt, weil „Kapitalismus“ ja auf der „rationalen“ Grundlage des „Kapitals“ ruht und es tautologischerweise keinen Sinn macht, Rationalität anzugreifen (das ist Max Webers Haltung),
oder ob man umgekehrt schlussfolgert, dass wenn der Kapitalismus auf Rationalität zurückgeführt werden kann, diese dann selbst das Schlimme sein muss, wenn sie nicht bestenfalls einer unauflöslichen, wehrlos machenden „Dialektik“ des Schlimmen und Guten unterliegt (das ist Adornos Haltung).
Werden wir uns, in den Diskurs verstrickt, für Adorno gegen Weber entscheiden? Oder für Weber gegen Adorno? Auf solche „strategischen Wahlen“, die keine sind, laufen laut Michel Foucault Diskurse immer hinaus, in ihnen fassen sie sich zusammen, ihre Ausweglosigkeit ist genau der Grund, weshalb Diskurse so stabil sind, wie wir sie erleben. Wir haben indessen eine Wahl über die „strategische Wahl“ hinaus, nämlich uns vom Diskurs selber, so sehr er auch bindet – aber ein „stahlhartes Gehäuse“ ist er denn doch nicht -, zu verabschieden.
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Webers Kapital ist in der Tat eine durch und durch rationale Angelegenheit. „Kapital“, definiert er (Wirtschaft und Gesellschaft, Köln Berlin 1964, S. 64), „heißt die zum Zwecke der Bilanzierung bei Kapitalrechnung festgestellte Geldschätzungssumme der für die Zwecke des Unternehmens verfügbaren Erwerbsmittel.“ Das Kapital ist also um der Kapitalrechnung willen da, diese aber „ist die Schätzung und Kontrolle von Erwerbschancen und -erfolgen durch Vergleichung des Geldschätzungsbetrages einerseits der sämtlichen Erwerbsgüter (in Natur oder Geld) bei Beginn und andererseits der (noch vorhandenen und neu beschafften) Erwerbsgüter bei Abschluss des einzelnen Erwerbsunternehmens oder, im Fall eines kontinuierlichen Erwerbsbetriebes: einer Rechnungsperiode, durch Anfangs- bzw. Abschluss-Bilanz.“ In der Abschlussbilanz wird ein „Mehr- bzw. Minderbetrag der Schätzungssumme gegenüber derjenigen der Anfangsbilanz“ ermittelt, man nennt ihn Gewinn oder Verlust und um ihn geht es, denn Kapital ist „Wirtschaft zum Erwerb“, „zur Erzielung eigenen Gewinns“.
Das sind klare Worte, die im übrigen wenig überraschen. Die Logik des Verhältnisses von Anfangsbilanz, Abschlussbilanz und Gewinn macht sich zwar etwas komplexer, als es mit der Marxschen Formel G-W-G‘ ausgedrückt werden könnte, die ja auch nur deutlich machen will, dass der Gewinn aus zwei Tauschakten hervorgeht, aber im Grundzug ist es dieselbe Logik. Sofort sehen wir freilich, dass Weber dann einen anderen Kapitalbegriff hat als Marx, denn bei Marx ist das Kapital nicht durch G-W-G‘ definiert, sondern dadurch, dass diese Bewegung unendlich oft wiederholt wird und infolgedessen der Gewinn immer mehr wächst, idealiter bis zum Erreichen „des“ Reichtums als solchem. Für Weber hingegen, wie wir gehört haben, ist der Fall denkbar, dass ein Erwerbsbetrieb gar nicht beansprucht, kontinuierlich zu existieren, und selbst wenn er das tut, bleibt noch die Frage offen, ob sich dann Gewinn anhäuft oder es nur darum geht, durch positive Bilanz den Wert des Betriebsvermögens je und je zu erhalten, vielleicht auch noch einen kleinen Reservefonds für unvorhersehbare Notfälle und Sondersituationen zu füllen.
Das alles macht ein Unternehmen so wenig kapitalistisch im Marxschen Sinn, dass dieser dieselbe Rationalität sogar auch für den Kommunismus in Anspruch nehmen kann. Es tut nichts zur Sache, dass Marx sich keinen Kommunismus mit konkurrierenden Unternehmern vorstellt, denn davon, ob es sich bei dem Vermögen, das man verliert oder mit dem man etwas gewinnt, um privates Betriebsvermögen oder volkswirtschaftliches Gesamtvermögen handelt, ist die Rationalität einer Gewinn- und Verlustrechnung ganz unabhängig. Ja, es ist allerdings rational, ein Vermögen nicht zu verschleudern, wenn man es einmal hat, sondern vielmehr zu erhalten; und um sicher zu sein, dass man auch wirklich nichts verliert, wird man lieber den Bilanzabschluss mit etwas Gewinn anstreben, als dass man die unwahrscheinliche Punktlandung versucht, die genau die Höhe der Schätzungssumme der Anfangsbilanz träfe. Ob „man“ ein Einzelner ist oder eine Gesellschaft, gleichviel! Auch der Versuch einer Gesellschaft, die eigene Ökonomie insgesamt zu planen, kann sich nur der formalen Methoden bedienen, die diese Rationalität im engeren Sinn ausmachen.
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Marx betont es ganz unmissverständlich. Weit entfernt, das im Weberschen Sinn Rationale am Kapital zu bestreiten, schreibt er: „Ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit ist erheischt durch die Assekuranz gegen Zufälle, durch die notwendige, der Entwicklung der Bedürfnisse und dem Fortschritt der Bevölkerung entsprechende, progressive Ausdehnung des Reproduktionsprozesses, was vom kapitalistischen Standpunkt aus Akkumulation heißt.“ (MEW 25, S. 827) Denn das Kapital ist „während des Reproduktionsprozesses, stofflich betrachtet, Zufällen und Gefahren ausgesetzt, die es dezimieren können. Demgemäß dient ein Teil des Profits, also des Mehrwerts und daher auch des Mehrprodukts […] als Assekuranzfonds“, Fonds zur Sicherheit und Vorsicht. Marx kann von hier aus unmittelbar in den Kommunismus springen: „Es ist dies auch der einzige Teil des Mehrwerts und Mehrprodukts, also der Mehrarbeit, der außer dem Teil, der zur Akkumulation, also zur Erweiterung des Reproduktionsprozesses dient, auch nach der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise fortexistieren müsste.“ Dies setze voraus, fügt er noch hinzu, „dass der von den unmittelbaren Produzenten regelmäßig verzehrte Teil nicht auf sein jetziges Mindestmaß beschränkt bliebe“. (S. 855)
Es gibt demnach drei Dimensionen, in denen sich die Rationalität des Kapitals von kommunistischer Rationalität in überhaupt gar keiner Weise unterscheidet. Das ist erstens die Strategie, mit Gewinn und nicht etwa mit Verlust abzuschließen, näher die Methode, Gewinn oder Verlust in ihrer genauen Höhe periodenweise rechnend zu ermitteln. Zweitens wird der Gewinn, wenn es ihn gibt, „zur Erweiterung“ eingesetzt, das heißt zur Reinvestition. Und wenn dann, drittens, noch etwas übrig bleibt, wird es zur Sicherheit zurückgelegt. Ein Unterschied zwischen Kapital und Kommunismus liegt darin, dass letzterer den „unmittelbaren Produzenten“ mehr Anteil vom Mehrwert zuspricht als ersteres. Wohlgemerkt auch nur einen Anteil, eben weil Reinvestition und Sicherheitsfonds für nötig gehalten werden, im Kommunismus nicht anders als im Kapitalismus.
Neben dem Unterschied des größeren Konsumanteils der „unmittelbaren Produzenten“ gibt es offenbar zwei weitere. Erstens sind es nicht mehr die Kapitalisten, die über die Art der Reinvestition entscheiden. Zweitens, wenn der Gewinn zur Reinvestition eingesetzt wird, dann doch nicht zur unendlichen Bewegung der Reinvestitionen. Denn solche Unendlichkeit definiert bei Marx das Kapital, während es hier um die Alternative, den Kommunismus geht. Zu welcher Reinvestition also stattdessen? Derjenigen, die nur fallweise und aus guten Gründen geschieht.
Am Rande sei bemerkt, dass wenn dies alles augenscheinlich „rational“ ist, es doch nicht umgekehrt zeigt, was „die“ Rationalität ist. Von einer weiter nichts als rechnenden und in diesem Sinn „formalen“ Rationalität ist hier die Rede (Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 60), es gibt aber neben ihr noch andere Arten, auch andere „formale“ Arten. Im übrigen wäre aber auch die Ratio einer Bilanz unterbestimmt, wenn wir von ihr nur sagen würden, sie sei „formal“ und ein Rechnen. Hierzu wird später noch Einiges auszuführen sein.
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Der Ausdruck „Erwerb“ ist bei Weber ganz unschuldig, er bezeichnet nichts, was speziell der Kapitalist täte, ist doch auch der Arbeiter kontinuierlich auf ihn aus, auf Lohn nämlich. Doch was kann dann am „Kapitalismus“ so schlimm sein? Dass der Erwerb in ihm zum „Selbstzweck“ wird, antwortet Weber (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 35), und zwar zum Selbstzweck der „Betriebe“, die sich von den „Haushalten“ der Individuen und Familien unterscheiden; wie bei Marx das Kapital, werden hier die Betriebe zu einer Art automatischem Subjekt, welches den Erwerb um des Erwerbs willen ansteuert, woraus dann zwangsläufig eine anonyme Strategie des u n e n d l i c h e n Erwerbs entspringt.
An dieser Stelle können wir sagen, wie schon bei Keynes, dass Weber und Marx sich offenbar über dasselbe Phänomen beklagen, verschieden nur in ihrer Terminologie. Was nämlich bei Weber den „Kapitalismus“ vom „Kapital“ unterscheidet, ist bei Marx das Kapital selber. Man mag fragen (mit Bader u.a., a.a.O., S. 276 f.), ob nicht in Webers Unterscheidung die Marxsche wiederkehrt, dass es Einzelkapitale und daneben oder darin ein „Kapital im Allgemeinen“ gibt. Aber so verhält es sich nicht: Bei Marx folgen sowohl das Kapital im Allgemeinen als auch die Einzelkapitale einer Strategie des unendlichen Erwerbs, der Unterschied ist nur, dass ersteres der Ort ist, von dem die Strategie ausgeht, während letztere dazu da sind, sie, wie Marx sagt, zu „exekutieren“. Bei Weber ist mit „dem Kapital“ nur das Einzelkapital gemeint, und er definiert es so, dass es für sich genommen mit der Unendlichkeitslogik überhaupt nichts zu tun hat.
Ähnlich wie Weber denkt Elmar Altvater. Er zitiert Webers Kapitaldefinition und schließt sich ihr an (Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, 6. Aufl. Münster 2009, S. 38). Auch wenn er darstellt, wie das Kapital eine unendliche Bewegung nur dadurch sein kann, dass es die natürlichen Ressourcen der Erde ausbeutet und rücksichtslos verbraucht – denn ohne die Materialität dieser Schätze hätte sich jene Unendlichkeit nicht entfalten können – (vgl. S. 72 ff., besonders S. 78), führt er nur aus, verdienstvollerweise, was schon Weber in einem einzigen Satz äußert: dass der Kapitalismus „heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden […], mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“ (Gesammelte Aufsätze, a.a.O., S. 203).
Wie ich schon oft gesagt habe: Es ist selbstverständlich, dass jeder die Terminologie wählt, die ihm am besten scheint. Man muss dann nur mit den Folgen fertig werden. Die Folge bei Altvater ist, dass wenn er das Kapital wie Weber definiert, er es auch so wenig wie Weber grundsätzlich kritisieren kann. Es wird kein Zufall sein, sondern Folge seiner Terminologie, dass er nur den Kapitalismus, „wie wir ihn kennen“, zur Disposition stellt, nicht aber das Kapital, also bei ihm das Webersche Kapital, weil dieses eben nur um den Preis der Irrationalität verneint werden könnte. Wenn er nun das Webersche Kapital loben und beglückwünschen würde für die ihm eigentümliche Rationalität, wäre auch schon etwas gewonnen. Will sagen, die klare Proklamation, dass „dem Kapital“ eine Rationalität eignet, die aufbewahrenswert ist, wäre wünschenswert gewesen. Daran fehlt es wahrscheinlich deshalb, weil Altvater zuletzt nicht Weberianer, sondern Marxist ist und als solcher beim Wort „Kapital“ an etwas denkt, das Angriff statt Verteidigung herausfordert. Was aufbewahrenswert ist, geht ja in den Kommunismus ein, dort aber gibt es kein Kapital, das ist diskursiv klar – und so beginnt hier eine diskursive Endlosschleife.
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Der Webersche Kapitalbegriff im Unterschied zum Marxschen ist wichtig, denn er erinnert an die Herkunft des Ausdrucks „Kapital“, der tatsächlich so, wie Weber, und nicht so, wie Marx ihn fasst, als Wort und bezeichnete Sache das Licht der Welt erblickt hat. Dies hat Konsequenzen für die Frage, wie wir die Entstehungsgeschichte des Kapitals im Marxschen Sinn schreiben. Wir können es nicht mehr auf die Bürgerlichkeit von Städtern seit dem späten Mittelalter zurückführen, da diese Menschen zwar ökonomisch rational im Weberschen Sinn handelten, aber in keine übergreifende Strategie des unendlichen Erwerbs um seiner selbst willen eingepasst waren. Wenn ich mich in der nächsten Notiz mit Herkunftsfaktoren beschäftige, gehe ich einerseits von Braudel aus, dem Historiker der französischen Annales-Schule, schon weil wir hier genauer sehen, welche begrenzte Rolle die Stadtbürger immerhin gespielt haben, nicht weil sie Stadtbürger waren, sondern aus spezifischeren Gründen. Andererseits noch einmal von Weber, der im Calvinismus einen Herkunftsfaktor gesehen hat, einen nur unter mehreren, wie er betonte; er wusste natürlich, dass es nicht nur intellektuelle Faktoren gab (Gesammelte Aufsätze, a.a.O., S. 83). Wir werden gleichwohl sehen, in der Marxschen Perspektive stellt sich auch die Frage der intellektuellen Herkunft noch einmal etwas anders.