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In den folgenden Notizen werde ich einige Beiträge erörtern, die sich einer so genannten Neuen Marxlektüre zurechnen, weil in ihr die Aussage „Wenn Geld, dann Kapital“ bejaht wird, die ich meinerseits bestreite. Wie in der letzten Notiz schon angekündigt, werfe ich zuerst auf die Tradierung einer bestimmten Aussage Adornos einen Blick, nämlich dass im Tauschwert „ein bloß Gedachtes“ stecke (Soziologie und empirische Forschung, in Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt/M. 2003, S. 209). Wir werden sehen, eben diese Aussage wird von einem Teil der Beiträge zur Neuen Marxlektüre zurückgewiesen, so dass sich hieraus deren Spaltung in zwei Stränge ergibt, von der in der 42. Notiz die Rede war. Bevor ich die Beiträge erörtere, befasse ich mich hier zunächst mit einer Vorfrage und lege im Anschluss daran den eigenen Ansatz offen.
Die Vorfrage ist, wie es zur Neuen Marxlektüre, nimmt man sie einmal als soziologisches Phänomen, überhaupt hat kommen können. Manches spricht dafür, in ihr eine Parallelerscheinung zur Gründung der „K-Gruppen“ nach dem Zerfall der 68er Studentenbewegung zu sehen. Damals fragten sich die Studenten, woran es lag, dass die erhoffte revolutionäre Situation nicht eintreten wollte. Die einen meinten, sie müssten Praktiken der Weimarer KPD wiederbeleben oder auch sich einfach den vorhandenen realsozialistischen Parteien DKP und SEW anschließen, weil es einer Avantgarde bedürfe, um die Massen mit Materialien zur Bewusstseinsschulung zu versorgen. Neben dieser optimistischen Variante gab es die existenzialistische der RAF, die wohl vor allem ein Zeichen setzen wollte, und die akademische, die sich, hervorgegangen aus der Adorno-Schule, schwarz pessimistisch gab.
Die Haltung der Pessimisten charakterisiert Manfred Lauermann 1973 so: „Auf unserer ungemein abstrakten Ebene der Analyse kamen wir zur Einsicht: Wenn das Überleben des Kapitalismus, den wir romantisch einen ‚Späten‘ nannten, nicht von der Wahrheit seines Seins abhängig [sc. ist], dann kann er nur durch das falsche Bewusstsein der Beteiligten getragen sein. Damit war das Gerüst der Erkenntnistheorie gerichtet.“ (Krahl oder Was hieß da schon Politik?, in Heinrich Brinkmann u.a., Sinnlichkeit und Abstraktion, Wiesbaden 1973, S. 227) Damit war, mehr noch, das Gerüst der „Formanalyse“ des Ware-Geld-Verhältnisses gerichtet, das von da an die Neue Marxlektüre bestimmen sollte. Denn nun galt es zu erweisen, dass die Massen dem Geldfetisch erlagen und es deshalb zwecklos war, sie revolutionär aufrütteln zu wollen.
Lauermanns Sätze sind rückblickend und polemisch. Er spielt auf seinen aus DDR-Büchern gewonnenen „Materialismus“ an, mit dessen Hilfe er dem Pessimismus entrann: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, nicht umgekehrt, also müssen die früheren Freunde auf dem Irrweg sein, wenn sie das falsche Bewusstsein überbetonen. Die Polemik ging freilich ins Leere, da auch diejenigen, die von nun an den Geldfetisch analysierten, aufs Sein des Kapitalismus setzten: Sie lehrten abwarten, bis es von selbst in die Krise geraten würde, worauf dann, als „Reflex“, die Veränderung des Bewusstseins folgen würde. Vor Eintritt der Krise jedoch würde der Geldfetisch uneingeschränkt herrschen. In älteren Begriffen gesprochen, waren sie die Attentisten, die dem Voluntarismus der K-Gruppen entgegentraten.
Das war die Konstellation, die auch bedingte, dass man die Ware-Geld-Beziehung im benachbarten Realen Sozialismus entschieden ablehnte und als Beweis für den osteuropäischen „Revisionismus“ nahm; oder vielleicht war es umgekehrt, man lehnte das realsozialistische Lager ab, in dem es noch Geld gab, wenn auch kein richtiges konvertibles, und deshalb das Geld. So lesen wir bei Hans-Georg Backhaus, einem Promotor der Neuen Marxlektüre, noch 1978 – da gab es schon viele Ansätze zur Rekonstruktion des Geldfetischs, aber in dieser Kritik waren alle einig -: „Die heutigen marxistisch-leninistischen Abhandlungen über die Politische Ökonomie des Kapitalismus verschweigen ausnahmslos, dass nicht bloß die Mehrwertproduktion, sondern die Wertproduktion überhaupt ‚historisch charakterisiert‘ werden sollte – der Begriff einer ’sozialistischen Warenproduktion‘ ist von der Position der Marxschen Wertform-Analyse her gesehen ein Unbegriff.“ (Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie 3, in Ders. u.a. [Hg.], Beiträge zur Marxschen Theorie 11, Frankfurt/M. 1978, S. 16-117, hier S. 59)
Zweierlei will ich hervorheben. Erstens verstand sich der Schluss vom „falschen Bewusstsein“ der Mitmenschen auf dessen Ursache im Waren- und Geldfetisch durchaus nicht von selbst. Gerade von Marx her tat er das nicht. Denn auch wenn man annimmt, es gebe so eine Bewusstseinsbarriere, die höchstens von Einzelnen durchbrochen werden kann, von den Massen aber nur in der Wirtschaftskrise, wäre es doch möglich, sie statt auf den Waren- und Geldfetisch auf den Kapitalfetisch zurückzuführen. Folgt man Marx, wäre es nicht nur möglich, sondern zwingend geboten, denn wir finden seine eindeutigen Sätze: „Da die Warenform die allgemeinste und unentwickeltste Form der bürgerlichen Produktion ist, […] scheint ihr Fetischcharakter noch relativ leicht zu durchschauen.“ Die bürgerlichen Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo haben diesen Fetisch durchschaut, seinetwegen hätte kein Karl Marx auftreten müssen. Nicht aber den Kapitalfetisch (den ich in der 18. Notiz als Wachstumsfetisch beschrieben habe): „Und die moderne Ökonomie, die vornehm auf das Monetarsystem herabgrinst, wird ihr Fetischismus nicht handgreiflich, sobald sie das Kapital behandelt?“ (Das Kapital Erster Band, MEW 23, S. 97) Wir finden die Sätze ausgerechnet in der Goldgrube aller marxistischen Geldfeinde, dem Abschnitt „Der Fetischcharakter der Ware und ihr Geheimnis“.
Das müsste zur Analyse des Kapitalfetischs anspornen, doch in den Beiträgen zur Neuen Marxlektüre spielt das Kapital nur eine Nebenrolle. Für die Einseitigkeit, mit der sich Adornos Schüler am Geldfetisch festbissen, ist sicher der Diskurs des Lehrers verantwortlich. Sie blieben bei Adornos „Tauschgesellschaft“. Verstanden sie ihn indessen richtig? Damit komme ich zum zweiten Hervorhebenswerten. Adorno, wie wir sahen, hielt Waren und Geld eher für schlimme Vorboten des „gerechten Tauschs“, als dass er sie zur ausweglosen Sackgasse stilisiert hätte. Er war gar nicht der große Pessimist, den man aus ihm hat machen wollen. Dass er als solcher angesehen wurde und wird, geht teils auf realsozialistische Propaganda zurück – bekannt ist das Wort vom „Grand Hotel Abgrund“, in dem er wohne (Georg Lukács) -, teils aber auf den Eindruck, den seine Schüler hinterließen.
Ihr Pessimismus, der ihre politische Erfahrung spiegelte, wurde auf Adorno zurückprojiziert, ohne in ihm ein Vorbild zu haben. Denn Adorno ist zu Sätzen fähig wie diesem: „So undurchdringlich der Bann, er ist nur Bann.“ (Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, in Gesammelte Schriften Bd. 8, a.a.O., S. 370) Oder, aus den Minima Moralia, geschrieben 1945: „Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken“ (Zweiter Teil Nr. 61). Oder aus den Drei Studien zu Hegel: „Der Strahl, der in all seinen Momenten das Ganze als das Unwahre offenbart, ist kein anderer als die Utopie, die der ganzen Wahrheit, die noch erst zu verwirklichen wäre.“ (Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt/M. 2003, S. 325) Adorno ist nicht der Antipode zu Bloch, als den man ihn ansieht. Er denkt eher platonisch, Bloch eher aristotelisch, beide aber sind als Marxisten und Nietzscheaner weit entfernt, die Hoffnung zu verraten. Wenn Adorno einmal gegen Bloch einwendet, Hoffnung sei kein Prinzip, so will er nur den Begriff des Prinzips zurückweisen, die Anmaßung von prima philosophia.
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Die Wertproduktion ist „historisch charakterisiert“, sagt Backhaus im obigen Zitat. Ja, aber was heißt das? In nie endenden Debatten haben die Verfechter der Neuen Marxlektüre bestritten, dass die Darstellung der Wertproduktion in Das Kapital, dem Marxschen Hauptwerk, seinerseits als historische zu charakterisieren sei. Marx stelle nicht die Geschichte des Werts dar, sondern nur seine Logik; historisch sei die Darstellung dadurch, dass sie ihr Objekt als eines mit angebbarem Anfang und noch ausstehendem notwendigem Ende begreife. So weit, so gut. Aber es ist nicht klar, was damit hinsichtlich der Ware-Geld-Beziehung gesagt ist. Das, was Marx zufolge anfängt und endet, ist jedenfalls das Kapital; beim Geld räumt er natürlich ein, dass es vor dem Kapital existierte, nur soll Kapitalwerden von vornherein sein „Beruf“ gewesen sein. Wenn das Geld aber somit eine Geschichte hat, die mit dem Kapitalismus nicht erst anfängt, dann ist es auch denkbar, dass sie mit ihm nicht aufhört. Das legt, wie wir sahen, Adorno nahe: Der Geld involvierende Tausch kann aufhören, Täuschung zu sein, kann gerechter Tausch werden.
Diese Aussage stellen wir nun mit der eingangs zitierten zusammen, dass im Tauschwert „ein bloß Gedachtes“ stecke. Denn um Geschichte geht es auch hier. Ich will die Stelle ausführlicher zitieren: „Das Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschheit abrollt, ist das des Tausches. Das aber ist selber keine bloße Unmittelbarkeit sondern begrifflich: der Tauschakt impliziert die Reduktion der gegeneinander zu tauschenden Güter auf ein ihnen Äquivalentes, Abstraktes, keineswegs, nach herkömmlicher Rede, Materielles. Diese[r] vermittelnde[n] Begrifflichkeit […] gehorcht die Gesellschaft selbst“: „Der Tauschwert, gegenüber dem Gebrauchswert ein bloß Gedachtes, herrscht über das menschliche Bedürfnis und an seiner Stelle; der Schein über die Wirklichkeit. Insofern ist die Gesellschaft der Mythos und dessen Aufklärung heute wie je geboten.“ (Gesammelte Schriften Bd. 8, a.a.O., S. 209)
Das „Gedachte“ im Tauschwert ist also eine Spur seiner Historizität, des Abrollens der Fatalität der Menschheit, um mit Adorno selbst zu sprechen. Und in der Tat, materiell kann es nicht genannt werden, dass „Äquivalentes, Abstraktes“ getauscht wird. Nicht jedenfalls „nach herkömmlicher Rede“: Der abstrakt äquivalente Tausch ist ein Tausch, der Gleichungssprache als Medium voraussetzt; unbestreitbar, dass diese Sprache wie jede von der Materialität des Zeichens zehrt, und ebenso unbestreitbar die Einheit von Sprache und Denken. Gleichung ist nicht Natur, sondern Sinn. Wenn wir das sagen, haben wir noch gar nichts darüber ausgesagt, wie das „Gedachte“ in Gleichung und Tauschwert hineingeraten ist. Klar ist nur von vornherein sein geschichtlicher Charakter. Denn wir sehen auf den ersten Blick, dass im Tausch während seiner Geschichte nicht immer dasselbe „Gedachte“ steckte. Bei Aristoteles zum Beispiel wird nicht nach Gleichungen getauscht, die es noch gar nicht gab, sondern nach Proportionen, das heißt im Grunde immer noch metaphorisch. Vorantike Tauschformen, etwa der von Claude Lévi-Strauss erörterte Frauentausch oder der von Marcel Mauss erörterte Potlatsch, zeigen das Metaphorische unvermischt.
Bestimmt haben sich niemals Menschen zu einem Geldkonvent zusammengesetzt, der beschlossen hätte, Ware und Geld nunmehr äquivalent, also in der Gleichungssprache zu tauschen. Aber dennoch war der Übergang zum Gleichungstausch ein historisches Ereignis, das nicht ohne jegliches Mitspielen eines „intellektuellen Faktors“ geschehen sein kann (zu diesem Begriff vgl. 24. und 28. Notiz). Alles spricht dafür, dass die neuzeitlichen Menschen in den Gleichungstausch sozusagen hineingeschlittert sind. Sie haben sich nichts dabei gedacht. Das ändert nichts am „Gedachten“ im Gleichungstausch selber. Man kann es sich so vorstellen, dass im Tauschwert eine Sinndimension mehr unbewusst wiedererkannt werden konnte, mit der man in andern Zusammenhängen ganz bewusst umging, so dass man nichts dabei fand, sich auch unbewusst darauf einzulassen. Die beiden Bereiche, in denen der Sinn bewusst war, können wir nennen. Das ist zum einen das bürgerliche Rechtsbewusstsein, mobiles Eigentum bewahren zu wollen, zum andern das Bewusstsein der mathematischen und theologischen Unendlichkeit. Unendlichkeit wurde als unendliche Angleichung gefasst, die bereits den Kardinal Cusanus zur Entdeckung der Grenzwertrechnung führte; in Angleichung ist aber Gleichung enthalten. Wer mit Willen und Bewußtsein an unendlicher Angleichung teilhat und von ihr fasziniert ist, wird auch gegen Gleichungen, darunter Wertgleichungen, in die er verwickelt ist, nichts einwenden. Besonders wenn er entdeckt, dass sie erstaunlich und wunderbar mitspielen, wo es gilt, Eigentum zu bewahren. Es ist ja die Gleichung, die dafür sorgt, dass man den Wert der Sache behält, die man wegtauscht.
Von all dem steht nichts in Das Kapital, ganz einfach weil dies Werk die Frage nicht aufwirft, durch welche historischen Prozesse aus metaphorischem Geld Gleichungsgeld wurde. Doch das ist kein Grund, die Frage zu verbieten. Wird sie gestellt, kann die Folgefrage, welcher intellektuelle Faktor bei der Entstehung von Gleichungsgeld mitwirkte, kaum ausbleiben. Eine Sache, bei deren Entstehung Intellektuelles mitgespielt hat, wird aber anschließend, wenn sie entstanden ist und nur noch funktioniert, dies Intellektuelle oder „Gedachte“ nicht mehr verlieren, jedenfalls wenn es wie hier zu den Existenzbedingungen der Sache gehört. Niemals wird ja der äquivalente Tausch ohne Gleichungssprache und -denken funktionieren. Wohl kann die Herkunft der Sprache vergessen werden, das ändert aber nichts daran, dass die Sprache und ihre Herkunft eine Einheit bilden: Wird sie vergessen, verschwindet sie doch nicht. Und soll dann die Sache durch eine andere abgelöst werden, etwa Gleichungsgeld durch ganz anderes Geld oder etwas ganz Anderes als Geld, dann führt nichts daran vorbei, sich allererst das in ihr „Gedachte“ wieder bewusst zu machen, es zu beurteilen und es abzuwägen gegen neue Gedanken.
Die Vorstellung, eine andere Gesellschaft könne „revolutionär“ aus der Absicht entstehen, mit der vorhandenen zu brechen, wäre ganz verrückt, wenn man nicht annehmen dürfte, dass schon bei der Entstehung der vorhandenen Gesellschaft zwar nicht Absicht, aber ein Absichtsanaloges mitgespielt hat. Das Absichtsanaloge lag in der Bereitschaft, sich gegen den Gleichungstausch, obwohl er neuartig war, nicht zu wehren; man wehrte sich nicht, weil nichts gegen, viel aber für ihn sprach. Es bestand eine merkliche Harmonie zwischen gewissen ganz bewusst aufgenommenen Gedankenwelten und diesem neuartigen Tausch, den man nicht zu begreifen brauchte, um zu sehen, dass er nützlich war. Wenn man das so weit rekonstruiert hat, wird man sagen: Das war w i e e i n e A b s i c h t , und wir wollen sie durch eine andere ersetzen.
Die Wertproduktion ist „historisch charakterisiert“: Wenn man meint, das könne heißen, es werde nichts von ihr bleiben, ist das abstrakt richtig. So k a n n es kommen – das setzt aber voraus, dass dahin heute der Geist weht, der intellektuelle Faktor, und dann noch, dass die entstandene totale Alternative zur Wertproduktion sich als praktikabel erweist. Sonst fällt sie ins Alte zurück und die intellektuelle Anstrengung muss von vorn beginnen. Dass Wertproduktion historisch charakterisiert ist, kann aber auch heißen, dass Ware und Geld reformiert werden, also bleiben, während „nur“ das Kapital abgeschafft wird und sie nicht mehr seine Kehrseite sind. Wenn das so ist, ist sozialistische Warenproduktion nicht schlankweg „ein Unbegriff“. Wie kann Backhaus das behaupten, wenn er doch selbst zu denen gehört, die Adornos Wort vom „Gedachten“ im Tauschwert tradieren? In der nächsten Notiz prüfen wir seine Argumentation, auch die von Helmut Reichelt und, wenn der Platz reicht, auch schon die Einwände der Gegner, die im „Gedachten“ nicht nur keine historische Herkunftsspur und Absprungsmöglichkeit sehen, sondern es ganz ausmerzen wollen.