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Mit zwei Strängen der Neuen Marxlektüre wollten wir uns vertraut machen; den einen, Adorno noch nahe stehenden mit Backhaus und Reichelt als Hauptvertretern habe ich in der vorigen Notiz erörtert, heute stelle ich den anderen vor und ziehe exemplarisch eine Abhandlung von Dieter Wolf zu Rate, die den Titel Kritische Theorie und Kritik der politischen Ökonomie trägt. Sie ist ursprünglich in den Wissenschaftlichen Mitteilungen des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition erschienen (Heft 3: Zur Konfusion des Wertbegriffs, Hamburg 2004; MEGA = Marx-Engels Gesamtausgabe) und kann jetzt, da diese Quelle vergriffen ist, auf Wolfs Homepage nachgelesen werden. Wenn ich sie im folgenden zitiere, beziehe ich mich auf die Seitenzahlen der online-Veröffentlichung. Kritische Theorie und Kritik der politischen Ökonomie: Der Titel spricht aus, dass Wolf sich gegen die Schüler Adornos wendet, eben gegen die „Kritische Theorie“, welchen Ausdruck er mit dem Untertitel des Marxschen Hauptwerks konfrontiert, denn er will Marx von Adorno deutlich unterscheiden. Und zwar bestreitet er hauptsächlich, dass im Tauschwert ein „Gedachtes“ walte, jenen auf Adorno zurückgehenden Satz, den ich meinerseits unterschrieben habe. Wie wir sahen, begreift Reichelt ihn als Hinweis auf eine ökonomische und auch soziologische „Geltungs“-Problematik.
Und was ist Wolfs Gegenposition? Bei ihm geht der Tauschwert allem Denken voran, wie ein Stück physische Natur: „Wie die Schwere verschiedenen Dingen als ihnen gemeinsames Drittes zukommt, so kommt den verschiedenen Arbeitsprodukten die ihnen gemeinsame Eigenschaft zu, ein Arbeitsprodukt überhaupt zu sein“ – worin sie also gleich sind und deshalb getauscht werden können -, „auch wenn im Unterschied zur Schwere der gemeinsame Charakter, ein Arbeitsprodukt zu sein, auf der vom Menschen vollzogenen Umgestaltung der Naturstoffe beruht“; er sagt „auch wenn“, um zu betonen, dass dennoch und aller Menschenherkunft des Umgestaltens zum Trotz die „Eigenschaft, Arbeitsprodukt überhaupt zu sein“, auf menschliche G e d a n k e n so wenig zurückgehe wie die Schwere. „So wenig die Schwere im Kopf eines Menschen existiert, so wenig existiert das Arbeitsprodukt als das allen verschiedenen Arbeitsprodukten gemeinsame Dritte im Kopf der Menschen.“ (a.a.O., S. 193)
Ich will nicht verhehlen und sage es ohne Umschweife von vornherein, dass ich diese Position für absolut absurd halte. Nicht nur die Arbeitsprodukte in ihrer Verschiedenheit, sondern auch jenes „Arbeitsprodukt überhaupt“, das uns hier auch schon beschäftigt hat, also der Warenwert, der von aller Verschiedenheit abstrahiert, damit er, was ihn ja ausmacht, gegen einen Warenwert gleicher Größe vertauscht werden kann, auch er ist eine g e s e l l s c h a f t l i c h e Sache, keine physikalische wie die Schwere, was Wolf auch gar nicht bestreitet. Gesellschaftliche Sachen existieren aber – nicht nur, aber immer auch – im Kopf der Menschen. W i e das geschieht, ist nicht in einem Satz zu beantworten. Es kann gesellschaftliche Sachen geben, die Jahrhunderte, ja Jahrtausende lang aus dem Kopf heraus sind, weil die Gedanken, die bei ihrer Entstehung und Instituierung im Spiel waren, vergessen wurden; sie sind immer noch da, aber Gewohnheit und wirkliche oder scheinbare Alternativlosigkeit beim Gebrauch der Sachen haben es erst unnötig und dann fast unmöglich gemacht, sie noch zu bemerken. Denen, die sie gebrauchen, kommt es nun so vor, als seien sie Naturdinge. Das zu glauben, ist aber Fetischismus, und der Fetischismus besteht genau im Vergessen und Übersehen der gesellschaftlichen Herkunft, die immer auch unter anderem eine gedankliche ist.
Indem Wolf das bestreitet, nimmt er selbst eine fetischistische Position ein und macht Marx, den er zu interpretieren beansprucht, zum Fetischisten. Marx, für den die Gottesvorstellung das Muster ist: Ein Wesen, das die Menschen „überm Sternenzelt“ phantasieren, weiß er mit Feuerbach als Produkt des menschlichen Kopfes. Es ist gewiss ein im menschlichen Kopf abgespaltenes Produkt, aber deshalb doch nicht ohne diesen und ganz ohne menschliche Gedanken zustande gekommen. Nach demselben Muster begreift Marx Ware, Geld und Kapital. Gedankliche Dimensionierung zeigen sie so wenig wie das in den Himmel projizierte Gotteswesen. Dennoch s i n d s i e gedanklich dimensioniert. Gerade deshalb können sie ja revolutioniert werden, was nämlich neuerliche Gedanken erfordert, von denen die vorhandenen alten ans Licht gezogen und verneint werden. Und auf Revolutionierung will Marx hinaus. Hätten Ware, Geld und Kapital überhaupt keinen gedanklichen Charakter, sondern wären wie die Schwere, dann könnten sie so wenig verändert werden wie die Schwere. Ich will nicht annehmen, dass es das ist, worauf W o l f hinaus will. Aber es ist die Konsequenz seiner Argumente.
Er schreibt: „Dass die Menschen es sind, die den Austausch der Waren ausführen, schließt nicht aus, dass darin etwas vor sich geht, das nicht durch sie selbst bestimmt ist und das außerhalb der Reichweite ihres Bewusstseins liegt. Was nicht durch sie selbst bestimmt ist, ist durch das gesellschaftliche Verhältnis der Sachen bestimmt“. (S. 194) Wir haben uns also vorzustellen, dass es S a c h e n gibt, die sich zwar als gesellschaftliche von Natursachen unterscheiden, ebenso aber auch von allem, was durch M e n s c h e n „bestimmt“ werden kann. Ohne Zutun von Menschen bestimmen sich solche Sachen irgendwie selbst. Dass Wolf dies allen Ernstes glaubt, ersieht man etwa aus seiner Verwendung eines Marx-Zitats, das an Ort und Stelle den Fetischismus ironisiert, von Wolf aber humorlos zum Beleg seiner Position herangezogen wird: „Ohne Hirn wie sie ist“, so der Marxsche Sarkasmus, „geht die Leinwandwaare anders zu Werke, um auszudrücken, weß Schlags die Arbeit, woraus ihr Werth besteht“, will sagen, die Leinwand drückt ihren Wert zum Beispiel in Geld aus, statt ihn zu denken und direkt auszusprechen, denn beides kann sie ja nicht. Diese Formulierung nimmt Wolf für bare Münze, als ob die Leinwand zwar nicht denken und sprechen, aber doch „sich ausdrücken“, „zu Werke gehen“ könnte, was nicht viel anders als Denken und Sprechen wäre. Als wäre sie ein Subjekt! Dass sie keins ist, steht aber zweifelsfrei fest und verdient keinerlei Debatte.
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Und doch wundere ich mich nicht, dass so eine Debatte heute geführt wird. Ich schiebe hier eine Bemerkung über Ingo Elbe ein, der sich seit einigen Jahren bemüht, der Neuen Marxlektüre den Status einer inzwischen herrschenden Lehre zuzuschreiben und sie so zu kodifizieren; das geschieht in seinem umfassenden Forschungsbericht Max im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008, und auch in seinem Aufsatz Soziale Form und Geschichte. Der Gegenstand des Kapital aus der Perspektive neuerer Marx-Lektüren, der im Heft 2/2010 der repräsentativen Deutschen Zeitschrift für Philosophie erschienen ist. Beide Schriften behandeln den Streit zwischen Backhaus/Reichelt und Wolf um das „Gedachte“ im Tauschwert. Der Aufsatz stellt ihn sogar ins Zentrum, will ihn als Forschungsfront unserer Tage ausweisen, was ich übrigens für verdienstvoll halte. Elbe hat sich ganz eindeutig auf die Seite Wolfs und derer, die ähnlich denken wie er, gestellt. Aber es ist doch nicht so, dass er Wolfs Position evident finden kann. Vielmehr sucht er nach Mitteln, sie irgendwie noch zu stützen, und findet sich wieder bei – Luhmann.
In seinem Forschungsbericht ist es noch ein flüchtig auftauchender Gedanke: Wenn man Wolf folge, sei die „Reichtumskonstitution […], wie vielleicht in Anlehnung an systemtheoretisches Vokabular formuliert werden könnte, ein alltäglich sich wiederholender Prozess, bei dem die Individuen als psychische Systeme nur dessen Umwelt darstellen“; er setzt hinzu: „Gegen diese objektive Semantik wurde bislang nur wenig Überzeugendes vorgebracht.“ (Marx im Westen, a.a.O., S. 304) Im Aufsatz hat sich der Gedanke zur Gewissheit verfestigt: „Wolf spricht […] von ‚objektiver Semantik‘. Die elementare Reichtumskonstitution wird von Marx demnach als ein alltäglich sich wiederholender Prozess bestimmt, bei dem die Individuen als >psychische Systeme< nur dessen >Umwelt< darstellen.“ (Soziale Form und Geschichte, a.a.O., S. 234) Das liest sich nun so, als hätte M a r x die Individuen als bloße „Umwelt“ der „Reichtumskonstitution“ dargestellt. Marx mit Luhmann statt Marx mit Adorno!
Das hieße aber, Individuen gehörten gar nicht zur Gesellschaft, denn die besteht bei Luhmann aus „Kommunikation“ und bedient sich zwar der Individuen und ihrer Psyche, ist aber von beiden verschieden. Ich habe daher in einer früheren Notiz angemerkt, wenn das so sei, könne man sich auch eine „Gesellschaft“ o h n e sie beide vorstellen, eine, die rein aus Künstlicher Intelligenz bestünde und zweifellos viel besser funktionieren würde, als wenn wir zappligen Gefühlswesen im Spiel sind. Wir, die wir zudem noch mit G e d a c h t e m stören! Statt das Denken den Maschinen zu überlassen, denn die haben den größeren Kopf! Ich habe ebenfalls schon angemerkt, dass Luhmanns sich vielleicht sogar bewusst in einer solchen Perspektive bewegte. Dabei dachte ich zum Beispiel an eine völlig kontextlose Bemerkung in seiner Einleitung zur Soziologie des Risikos: Er polemisiert da gegen die Risikoangst um künftige Generationen mit dem Argument, solche Angst sei ihrerseits riskant, weil „unklar bleiben muss, inwieweit diese Generationen noch Menschen im uns bekannten Sinne sein werden“ (Berlin New York 1991, S. 5).
Zu Elbe will ich noch anmerken, dass er ausspricht, was bei Wolf, als einer Selbstverständlichkeit, gar nicht mehr der Rede wert ist, nämlich dass Geldfeindschaft im Hintergrund der Interpretationsmühen der Neuen Marxlektüre steht: „Wer den Zusammenhang zwischen Wert und Geld einerseits und Kapital andererseits als bloß kontingenten begreift“, was er und Wolf so wenig tun wie Backhaus und Reichelt, „dem drängt sich ein marktsozialistisches Emanzipationsmodell quasi automatisch auf“ (Marx im Westen, a.a.O., S. 308).
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Ich habe im Vorigen drastisch ausgesprochen, dass ich Wolfs Position für absurd halte. Es hat aber dennoch nachvollziehbare Gründe, weshalb er zu ihr gelangt ist, und diese wollen wir jetzt erörtern. Wir können heute nur beginnen; die Angelegenheit ist wichtig genug, um ihr auch noch die nächste Notiz zu widmen. Diese Debatte ist gewiss ein bitterer Kelch, aber wir müssen ihn bis zur Neige leeren. Und zwar beginne ich mit dem, was Wolf selbst zur Begründung seiner Position anführt. Er beruft sich nicht auf Luhmann; er schreibt:
„Den Menschen sind immer schon Strukturen der ökonomisch gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie leben, vorgegeben, die stets von dem verschieden sind, was sie von diesen Strukturen wissen. Ausgehend von einer Struktur, in der für sie unbewusst die Bedingungen für eine weiterentwickelte Struktur enthalten sind, schaffen sie – die Bedingungen erfüllend, motiviert durch das, was sie von den Strukturen wissen – eine weiterentwickelte Struktur. Für diese gilt wieder […], dass sie von dem verschieden ist, was den Menschen von ihr bewusst gegeben ist. […] Dieser Zusammenhang von Struktur und Handlung bestätigt mit der ihn auszeichnenden N a t u r w ü c h s i g k e i t , dass die […] Bewegungsstruktur der ökonomisch gesellschaftlichen Wirklichkeit in und durch das Handeln der Menschen produziert und reproduziert wird und sich in diesem Handeln für die Menschen unbewusst mit der sie auszeichnenden Eigendynamik durchsetzt.“
Kaum hat er so von „Strukturen“ gesprochen, die „den“ Menschen „stets“ vorgegeben sind, scheint er das grausame Marionettentheater denn doch auf den Kapitalismus einschränken zu wollen, im nächsten Satz schon:
„Dieser Zusammenhang von Struktur und Handlung ist eine Eigentümlichkeit des aus dem kapitalistischen Gesamtprozess bestehenden Gegenstandes, der für die Methode äußerst bedeutsam ist, insofern es einen durchgehenden Zusammenhang von einfacheren und entwickelteren Strukturen gibt, die sich zu der den kapitalistischen Gesamtprozess als Ganzen beherrschenden Bewegungsstruktur zusammenfügen.“ (a.a.O., S. 26 f.)
Ausgehend also davon, dass die Wirklichkeit etwas anderes ist als das, was man von ihr weiß, wird behauptet, die Veränderung der Wirklichkeit durch Menschen exekutiere nur, was in jener schon angelegt sei. Genauer: Im Gegebenen sind B e d i n g u n g e n für die Weiterentwicklung des Gegebenen mitgesetzt, und diese werden vom Handeln der Menschen erfüllt. Soweit die Menschen mit Bewusstsein handeln, wird dieses nur zur „Motivation“ gebraucht; sie sehen sich „motiviert“, das zu tun, was sie tun müssen. In dieser abstrakten Gestalt ist Wolfs Ansatz wohl schlicht unsinnig zu nennen. Denn wenn auch die Menschen nicht alles von der Wirklichkeit wissen, warum soll es unmöglich sein, dass sie genau eben jene Bedingungen erkennen und dann auch die Wahl haben, sie zu billigen oder abzulehnen, durch andere Bedingungen zu ersetzen? Ist es nicht klar, dass gerade Marx beansprucht, dies geleistet zu haben? Wolfs Ansatz kann nicht als soziologische Verallgemeinerung der Marxschen Lehre gelten.
Es ist, als sollte behauptet werden, dass Menschen jede ideelle oder auch praktische Frage, vor die sie sich gestellt sehen, und wenn es die wäre, was früher war: Huhn oder Ei, nur zustimmend subsumtiv beantworten können, eine der vorgegebenen Antworten auswählend. Tatsächlich können sie Fragen aber als falsch gestellt zurückweisen. Gewiss nicht alle Fragen; manche sind zu undurchschaubar, als dass es leicht fiele, ihre Konfusion aufzudecken. Aber es so auszuschließen, wie Wolf versucht, und den Ausschluss zum absoluten Generalansatz zu machen, geht nicht an. Da ist auch das Zauberwort „Struktur“ keine Rettung, es erklärt gar nichts.
Wir wollen indes nicht verkennen, dass Wolf einen bestimmten Sachverhalt im Auge hat, der im Marxschen Hauptwerk vorkommt und den er falsch verallgemeinert. Und zwar meint er, Marx habe dargestellt, wie die Menschen, als sie handelnd Geld schufen, damit nur eine vor allem Handeln gegebene „Struktur“ realisierten, die in der Wertgleichung x Ware A = y Ware B besteht und durch eigene rein sachliche, rein „logische“ Dynamik auf das hinausläuft, was Marx die „allgemeine Äquivalentform“ nennt. Diese Äquivalentform und das Geld sind in gewisser Weise das Gleiche, sagt Wolf, aber das Erste sei „Struktur“ und das Zweite Handlung, und die Handlung sei von der „Struktur“ erzwungen. Ich halte das zwar nicht für richtig, aber es ist diskutabel und führt, wie ich meine, zur eigentlichen Begründung nicht nur der Wolfschen Position, sondern des Dilemmas, in dem sich beide streitende Parteien befinden.
Konkret heißt das, wir werden wir in der nächsten Notiz auf das stoßen, worüber schon Marx stolperte, nämlich auf die scheinbare Verrücktheit der Gleichung. Die Gleichung tritt hier in der quälenden Form auf, dass Äquivalentform und Geld so sehr das Gleiche sind, wie sie sich strikt unterscheiden. Sie unterscheiden sich nämlich als das „Logische“ (die Äquivalentform ist rein „logisch“ abgeleitet) vom „Historischen“ (das Geld als Ergebnis menschlicher Handlung kann nur historisch sein); die darf man nicht zur „logisch-historischen Methode“ vermischen, so lehrt es der früheste Artikel im Symbolon der Neuen Marxlektüre überhaupt. Wie können sie dann aber eine Gleichung bilden?