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Nachdem wir den ökonomischen Status der Individuen in der Anderen Gesellschaft erörtert haben – solcher, die einen von der Gesellschaft erteilten ökonomischen Auftrag ausführen, und solcher ohne aktuelle ökonomische Kennzeichnung -, gehen wir jetzt zur Betrachtung der Warenwelt über. Wir fragen zuerst nach dem Verhältnis der Individuen zur Warenmenge, dann nach dem Verhältnis der Waren untereinander, Aspekten der Konkurrenz und Kooperation. Das ist ein weites Feld, und wir können es nicht einmal sogleich betreten. Vielmehr muss ich mit einigen allgemeinen Erwägungen beginnen und davor noch an meinen Ansatz erinnern. Dass manche, wie oft ich auch erinnere, ihn weiterhin nicht zur Kenntnis nehmen werden, liegt in der Natur der Sache.
Der Ansatz besagt, es könne Ware-Geld-Beziehungen geben, die in keiner Weise kapitalistisch sind, so etwas wie Kapital nicht mehr implizieren, weder logisch noch historisch auf es hinauslaufen. Ich frage (hier noch) nicht, wie das Kapital entfernt werden kann; ich frage, wie die gesellschaftliche Ökonomie aussieht, nachdem es entfernt wurde. Oder inwiefern das eine Ökonomie ist, in der es fehlt. In einer solchen Ökonomie fehlt zwar das Kapital, aber es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb auch die Ware-Geld-Beziehung fehlen sollte. Im Gegenteil wäre deren Beseitigung unvernünftig. Als Grundlage des Ansatzes wurde der Nachweis, dass Ware-Geld und Kapital einander nicht implizieren, bereits in großer Breite geführt (im Dritten Teil, 33. bis 55. Notiz).
Wenn ich sage, manche werden dennoch den Ansatz nicht zur Kenntnis nehmen, dann weil das ein typischer Mechanismus „wissenschaftlicher Revolutionen“ ist. Die hier zur Debatte stehende Revolution ist die begriffliche Trennung von Ware-Geld und Kapital. Von vielen längst vorangetrieben, ist es nicht „meine“ Revolution, ich habe aber an ihr teil und darf mich auf sie berufen. Um welchen Mechanismus geht es? Er wird Petitio principii oder circulus in demonstrando genannt: ein Scheinbeweis, bei dem die Behauptung, die durch Aussagen angeblich begründet wird, in diesen als wahr schon vorausgesetzt ist. Man findet den Scheinbeweis auch außerhalb wissenschaftlicher Revolutionen, nirgends aber ist er so verständlich und verzeihlich wie dort. Der Jupiter kann keine Monde haben, weil diese die kristallenen Himmelssphären durchstoßen müssten, was unmöglich ist, sagen die Gegner der Revolution. Aber die Sphärentheorie wird von den Befürwortern gerade bestritten, mit Hinweis eben auf die Jupitermonde. Deshalb ist es ein Scheinbeweis.
Die Gegner dürften nur sagen: Deine Jupitermonde kann es unter der Bedingung geben, dass es keine Sphären gibt, aber davon hast du uns nicht überzeugt. Und dann müssten sie angeben, was genau sie nicht überzeugt hat. (Der „Hinweis“ ist ein Problem für sich, da Beobachtungen von Beobachtungstheorien geleitet sind, die ihrerseits falsch sein können.)
Die Andere Gesellschaft – sagen die Gegner – kann, weil sie als nachkapitalistische definiert ist, keine Ware-Geld-Beziehung kennen, denn „Warenform“ und „Geldform“ sind kapitalistisch (sind es bereits geworden oder werden es notwendigerweise). Ich bestreite aber gerade, dass Ware und Geld per se kapitalistisch sind. Es ist ein Scheinbeweis.
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Wer sich für die Dilemmata von Marxisten nicht so brennend interessiert, mag diesen Abschnitt überspringen.
Ich finde bei Marx starke Argumente für meinen Ansatz. „Waren zu produzieren“, schreibt er, „unterscheidet sie [die kapitalistische Produktionsweise] nicht von andern Produktionsweisen; wohl aber dies, dass Ware zu sein, der beherrschende und bestimmende Charakter ihres Produkts ist.“ (MEW 25, S. 886) An anderer Stelle heißt es, in einer Gesellschaft, worin alle Arbeit nicht anders mit sich zusammenhängt als so, dass die einzelnen Arbeitsprodukte privat gegeneinander ausgetauscht werden, setze sich die V e r t e i l u n g dieser Arbeit auf diese Produkte, das heißt ihr Einsatz in verschiedenen Branchen und Sparten, in der (blinden, vernunftlosen) Form eben des Tauschwerts der Produkte durch (MEW 32, S. 552 f.). Zusammengenommen: Wenn das Produkt vorwiegend Ware und wenn Warentausch das Prinzip ist, nach dem verschiedene Arbeiten koordiniert werden – etwa die Erstellung von Wohnhäusern, Autostraßen und Arbeitsstätten, oder von Maschinen und den mit ihrer Hilfe erstellten Konsumgütern -, dann wird die Proportion der Volkswirtschaft vom Tauschwert hervorgebracht. Vom blinden Selbstlauf seiner Verwertung. Die „Selbstverwertung“ ist aber nichts anderes als das Kapital.
In der Anderen Gesellschaft wird das Produkt, statt vorwiegend Ware zu sein, vorwiegend gewählt. Will sagen, hier werden nicht nur Waren, die der Markt bietet, ausgewählt – das auch, das schon heute -, sondern der Markt selber wird gewählt. Die Proportion der Güter, die angeboten werden, ist dann nicht vom Tauschwert hervorgebracht, sondern von den ökonomischen Wahlen. Das einzelne Produkt ist Ware nur in zweiter Linie, in erster ist es Auftragsarbeit gemäß dem Wahlergebnis. Dieses hat natürlich nicht Ware für Ware bestimmt, wohl aber Spielräume definiert – eine Proportion gewollter Güter -, die von keiner Warenart oder -menge in Frage gestellt werden dürfen. Die so wählende Gesellschaft ist nach Marx‘ Definition keine kapitalistische mehr, „obwohl“ Waren in ihr getauscht werden. Denn sie hat aufgehört, sich der Selbstverwertung zu unterwerfen, hat vielmehr Selbstbestimmung als oberstes Prinzip gesetzt.
Man kann dasselbe von der Arbeit her zeigen. Arbeit im Kapitalismus ist nach Marxscher Terminologie „konkret“, indem sie Gebrauchswerte, und „abstrakt“, indem sie Tauschwerte schafft. Das heißt aber nicht, dass mit „konkreter und abstrakter Arbeit“ umgekehrt der Kapitalismus definiert werden könnte, denn nur diejenige „abstrakte Arbeit“, die i n s U n e n d l i c h e Tauschwerte schafft, wäre kapitalistisch zu nennen, weil das Kapital die Strategie ist, den u n e n d l i c h e n M e h r w e r t zu erlangen (MEW 42, S. 253; MEW 23, S. 166). Wenn nun die Tauschverhältnisse aus dem Resultat einer ökonomischen Wahl hervorgehen, ist es damit, dass Tauschwerte ins Unendliche geschaffen werden, vorbei. Die Arbeit ist dann, wie man sagen könnte, nicht mehr „unendlich abstrakt“, sondern „endlich abstrakt“. Dass sie „endlich abstrakt“ ist, hat den einfachen Grund, dass in der ökonomischen Wahl Tauschwerte nur indirekt, direkt aber Proportionen von Gebrauchswerten gewählt worden sind. Man kann deshalb auch sagen, in der Anderen Gesellschaft sei die abstrakte Arbeit der konkreten untergeordnet, wovon der Umstand, dass wir es mit endlicher statt unendlicher abstrakter Arbeit zu tun haben, eben die Folge sei.
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Wie sich die Andere Gesellschaft als nichtkapitalistische ökonomisch aufstellen kann, ist keineswegs in irgendeinen Nebel gehüllt, durch den hindurchschauen zu wollen eine Albernheit wäre. Nein, man sieht genau, was auf uns zukommen kann. Es gibt nur eine kleine Anzahl von Möglichkeiten:
1. Die Quellen des Reichtums sprudeln so gewaltig, dass man das Schlaraffenland hat. Alles, was die Leute wollen, ist im Übermaß da, und alles wird einfach verteilt. Über diese Möglichkeit mag ich nicht weiter nachdenken.
2. Die Quellen sprudeln etwas weniger, so dass es einer Methode bedarf, damit die Verteilung gerecht ausfällt. Die Ware-Geld-Beziehung wird aber nicht geduldet. Stattdessen verteilt der Staat und tut es so, wie er es gerecht findet. Diese Lösung übersieht, dass der Staat andere Interessen haben kann als die Gesellschaft, und scheidet deshalb aus.
3. Die Ware-Geld-Beziehung wird nicht geduldet, aber man ist demokratisch gesonnen; deshalb soll nicht von oben nach unten verteilt werden, sondern horizontal. Das heißt, A teilt an B aus und ebenso B an A. A und B sind beliebige Individuen oder Gruppen. Oder A teilt an B, B an C und C wieder an A aus. Oder C erst einmal an D, und so nach Belieben komplexer – ganz wie im Markt, den wir kennen, nur eben ohne Ware und Geld.
Das ist die Gesellschaft, die sich die Gruppe Krisis um Robert Kurz wünscht. Die Verteilungsmethode besteht hier darin, dass „[a]n die Stelle der Warenproduktion […] die direkte Diskussion, Absprache und gemeinsame Entscheidung der Gesellschaftsmitglieder über den sinnvollen Einsatz der Ressourcen [tritt]. Die […] gesellschaftlich-institutionelle Identität von Produzenten und Konsumenten wird hergestellt. Die entfremdeten Institutionen von Markt und Staat werden abgelöst durch ein gestaffeltes System von Räten, in denen vom Stadtteil bis zur Weltebene die freien Assoziationen […] über den Fluss der Ressourcen bestimmen.“ Ein „gestaffeltes institutionelles System der Absprache auf allen Ebenen“ wird daher „für jedes Gesellschaftsmitglied zum Bestandteil des Alltags […] (wie heute die abstrakte Arbeit, das Geld, die Konkurrenz)“.
Diese Lösung, selbst wenn sie funktionieren könnte, würde jedes Gesellschaftsmitglied mit so viel Ökonomie im Alltag penetrieren, dass dagegen noch die heute überall eindringende Marktlogik als Idylle erscheint. Sie scheidet daher ebenfalls aus.
4. Damit sind die möglichen Verteilungsmethoden erschöpft, mit einer Ausnahme. Es bleibt nur übrig, sich der Ware-Geld-Beziehung zu bedienen. Man soll sie mit anderen Verteilungsmethoden kombinieren, aber nicht durch sie ersetzen.
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Wie sich die Andere Gesellschaft vom Kapitalismus unterscheidet, ersieht man aus dem grundverschiedenen Verhältnis beider zum Warentausch. Im Kapitalismus wird tendenziell a l l e s dem Tauschzusammenhang einverleibt, „in Wert gesetzt“, wie man sagt. Denn hier sind Waren Kapital und so ins Unendliche strebend wie dieses. In der Anderen Gesellschaft wird g e w ä h l t : nicht nur, von welchen Waren man mehr, von welchen weniger haben will – zum Beispiel mehr Öffentlichen Personennahverkehr als Motorisierten Privatverkehr (oder etwa weniger, wie heute?) -, sondern auch, von welchen Gütern man überhaupt will, dass sie in Wert gesetzt werden, und von welchen nicht. Oder von welchen man will, dass sie es nahezu ganz werden, und von welchen, dass sie es nur teilweise werden. Drei Güter gibt es, bei denen von vornherein klar ist, dass Warenförmigkeit nur allenfalls teilweise zulässig sein kann: Geld, Arbeitskraft, Grund und Boden.
Gewisse Güter nicht oder nur teilweise in Wert zu setzen, kann schon einfach ein Gebot der ökologischen Notwendigkeit sein. Ihm zu folgen, hat die Andere Gesellschaft in ihrer Gründungswahl beschlossen (vgl. 59. Notiz). Sie wird daher die nicht regenerierbaren Energien von der Warenform weitgehend ausnehmen. Aber auch sonst wird sie fragen, ob die etwa in Wert zu setzenden Dinge überhaupt stofflich ersetzbar sind oder ob der Warentausch sie nur mit Geld aufwiegen würde. Das wird immer ein Kriterium ihrer Entscheidung sein. Der Warenmechanismus als solcher ist gegen den Unterschied ja unempfindlich. Nach der Warenlogik ist der Wert der weggetauschten Ware auch dann gewahrt, wenn man nur Geld dafür erhalten hat, das sich zum Ersatz des Warengebrauchswerts nicht mehr einsetzen läßt. Man kann andere Dinge mit ihm kaufen, aber wenn man das gar nicht vorhatte? Den Warenmechanismus so einzusetzen, wäre verrückt. Wir leben derzeit in dieser Verrücktheit.
Wenn heute über Auswege aus der ökologischen Krise debattiert wird, hören wir den Vorschlag oft, der Warenverbrauch müsse begrenzt werden. Er wird allerdings in der Regel ans Individuum gerichtet, das seine Lebensmittel kauft. Dies Individuum soll maßhalten, sich einschränken. Sicher muss es das wirklich, wenn denn, wie die Experten sagen, der CO2-Ausstoß der Industrieländer bis 2050 um neun Zehntel gesenkt werden muss. Aber wenn eingewandt wird, der Wachstumszwang des Kapitals sei das eigentliche Problem, an welchem individuelles Maßhalten nichts ändere, ist das ebenfalls wahr. Das Dilemma löst sich erst in der Anderen Gesellschaft auf. Dort beansprucht Konsumkritik nicht mehr, den Wachstumszwang aushebeln zu können. Sie ist vielmehr an dessen Stelle getreten. Auch läuft sie nicht mehr auf Verzicht hinaus, sondern strebt an, von problematischen Dingen weniger, von guten unproblematischen mehr zu bekommen.
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Man kann fragen, was eigentlich im Leben wichtig ist, und wird nicht gerade antworten, Waren seien es. Über das Verhältnis von „Leben“ und Warenkauf will ich in der nächsten Notiz nachdenken. Hier sei aber noch, zur Einstimmung, an die Zeit Goethes und der Romantik erinnert, wo man Warentausch oft als mit gutem Leben ganz unverträglich dargestellt findet. In diese Zeit wurde Marx hineingeboren und las ihre Literatur. Das kalte Herz von Hauff, Peter Schlemihl von Chamisso. In Goethes Faust II, erster Akt, finden wir dicht hintereinander die beiden Hauptmotive der Abwehr: Waren erscheinen erstens als unecht („Mögt ihr Stück für Stück bewitzeln, / Doch das Ganze zieht euch an“), zweitens lässt die Austauschbarkeit von allem gegen alles an Prostitution denken („Heute sind die Narren los / Liebchen öffne deinen Schoß“). Indessen was ist „echt“? Das Nackte, das Ursprüngliche? Wenn „Echtheit“ so gemeint ist, wird man ihr Bekleidung, ja ästhetische Umgestaltung nicht selten vorziehen. (Letzteres wird sich von kapitalistischer Warenästhetik unterscheiden, darüber reden wir noch.) Dass aber alles austauschbar ist, bedeutet nicht, dass alles ausgetauscht wird. Möglichkeit ist nicht Wirklichkeit.
Der Zwang, alles wirklich werden zu lassen, was möglich ist, ist Ausdruck der Unendlichkeitslogik des Kapitals. Ich habe das im Umkreis der 26. Notiz erörtert. Das Kapital überträgt diesen Zwang auf den Warentausch. Die Narren sind los, der Golf von Mexiko wird geöffnet und eine Ölkatastrophe bricht herein. Wenn es Kapital mit seinem Zwang aber gar nicht mehr gibt, ist allseitiger Austausch nur noch die Möglichkeit, bestimmte Waren zu wählen und andere nicht. Diese Möglichkeit ist zudem nicht unbegrenzt, denn es können nur Waren gewählt werden, die zur vorher von der Gesellschaft gewählten Gesamtwarenpalette gehören.
Die Frage bleibt, ob der oder jener das für ihn Falsche wählt. Wenn er es tut, ist es dem Warentausch anzulasten? Den Tausch abschaffen, damit niemand das Falsche wählt? Nein, alle müssen das Gute wählen können. Das ist unser Prinzip. Der gelenkte Warentausch der Anderen Gesellschaft kommt ihm entgegen.