(75) Was ist „der Markt“?

5. Karl Polanyis Beitrag zur Theorie des Marktes / Vierter Teil – Vor der Erörterung von Proportionswahlen: Zugehörige neue, nicht mehr kapitalistische ökonomische Institutionen

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Wir haben uns der Welt der Waren über die Frage genähert, wie sie ins Blickfeld „nachfragender“ Individuen geraten. Das geschieht in der Anderen Gesellschaft nicht bloß so, dass die Individuen nehmen müssen, was die Konsummärkte anbieten, und man ihnen einredet, so seien sie schon frei, denn das Angebot reagiere auf Moden und weise in sich eine Varianz auf. Vielmehr ist dafür gesorgt, dass die Nachfrage sich überhaupt einmal artikulieren kann,  u n a b h ä n g i g  vom Angebot. Im Großen durch ökonomische Wahlen, die über generelle Produktwege der Gesellschaft entscheiden und so auch darüber, welche Welt sich den Sinnen der Individuen darbietet. Im Kleinen dadurch, dass der Unterschied zwischen tatsächlich angebotenen Waren(gruppen) und anderen, vielleicht besseren und schöneren, deren Angebot auch möglich gewesen wäre, sichtbar gemacht und öffentlich kommuniziert wird.

Das war der subjektive Zugang zum Thema, dem nun der objektive folgen muss. Die Ware-Geld-Beziehung, die der Endkonsument zum Konsumgut unterhält, ist ja nur eine von vielen, die zusammen das ausmachen, was man den Markt nennt. Unsere Frage ist, wie die Individuen  d e n  M a r k t  beherrschen können – und nicht bloß einzelne Waren -, statt dass er sie beherrscht. Wir können die Frage nur beantworten, wenn wir wissen, was das zu Beherrschende überhaupt ist.

In unserer bisherigen Argumentation konnte sie gar nicht auftauchen. Denn wir haben uns an Marx gehalten. In Marx‘ Theorie wird einerseits das Kapital sichtbar, dessen Logik er ausführlich nachzeichnet, weil er den kapitalistischen Charakter des Marktes unterstellt, und andererseits die Ware-Geld-Beziehung. Der Markt selbst bleibt zwischen den beiden Extremen ein blinder Fleck. Die Elemente des Marktes wie Angebot und Nachfrage, Preisbildung, Konkurrenz und so weiter kommen zwar alle vor, aber man begreift sie nicht als solche, sondern rechnet sie jener Beziehung und jenem Charakter zu. Der Markt scheint vernachlässigt werden zu können, weil es ja stimmt, dass er ohne die Ware-Geld-Beziehung nicht wäre, und diese das Kapital angeblich schon impliziert. Es geht Marx darum, das Kapital und mit ihm die Beziehung, die Beziehung und mit ihr das Kapital zu beseitigen: Wenn das gelänge, wäre die Mitte, eben der Markt, gleich mitbeseitigt. Warum also sich mit ihm beschäftigen? Für uns stellt sich die Sache aber anders dar. Wir halten den  n i c h t k a p i t a l i s t i s c h e n  Markt für denkbar, fragen nach seiner Einrichtung  a l s  Markt und wollen dann natürlich begreifen, inwiefern er die Umwandlung des heute vorhandenen Marktes wäre.

Einen Begriff vom vorhandenen Markt als Zusammenspiel verschiedenartiger Ware-Geld-Beziehungen gewinnen wir bei Karl Polanyi. Er ist kein formloser Haufen: Er bildet ein System. In dessen Zentrum steht die „selbstregulierende“ Preisbildung nach Angebot und Nachfrage. Es gibt Teilmärkte in ihm, aber sie sind alle miteinander verbunden. Das gilt auch fürs Verhältnis von Binnenmarkt und Weltmarkt. Dadurch, dass auch Arbeitskraft, Boden und Geld für Waren angesehen werden, wird er total und kreist nur noch in sich selbst. Dass er sich überhaupt in Bewegung setzen kann, rührt daher, dass zwei Triebkräfte ständig in ihn einfließen: der Hunger, der die Arbeiter zur Arbeit treibt, und das Gewinnstreben der Kapitalisten. Spätestens hier wird klar, das Ganze ist – nicht metaphorisch, sondern in allem Ernst – eine  M a s c h i n e . Die wie ein Thermostat funktioniert. Wenn sich ein „Ungleichgewicht“, hier zwischen Angebot und Nachfrage, ergibt, springt sie an und steht erst beim Erreichen des „Gleichgewichts“ wieder still. Sie tut das nur, wenn „Strom“ zugeführt wird, Gewinnstreben und Hunger. Man hat die Maschine mit einem Körperkreislauf, in dem Blut „zirkuliert“, verglichen – dies Wort immerhin verwendet auch Marx -, aber auch der Körper galt als eine Art Maschine.

Wie so viele bedeutende Autoren zwingt Polanyi seine Leser dazu, Gedanken, die nicht ganz ausgeführt sind, allererst zuende zu denken. Was man lesen kann, ist nur, „dass in dem Augenblick, in dem komplizierte Maschinen und Produktionsstätten im Rahmen einer kommerziellen Gesellschaft eingesetzt werden, zwangsläufig die Idee von einem selbstregulierenden Markt entstehen musste“ (The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978 [Org.ausg. 1944], S. 68). Es scheint dann, als sei nur von einer pragmatischen Zwangsläufigkeit die Rede: Komplizierte Maschinen sind teuer; wer das Risiko eingeht, sie zu kaufen, möchte sich des Warenabsatzes sowie der Zufuhr von Rohstoffen und Arbeitskräften sicher sein; deshalb ist den Betreibern daran gelegen, dass Geld, Arbeit, Grund und Boden immer vorhanden, immer käuflich sein sollen (S. 110 f.). Wann ist Arbeit immer vorhanden? Dann, wenn es viele Menschen gibt, die Hunger haben und ihn nur durch die Annahme von Arbeitsplätzen stillen können. Der „selbstregulierende Markt“ ist fertig.

Aber Polanyi sagt auch, so ein Marktsystem könne nicht nach und nach von selbst entstehen, es müsse vielmehr bewusst eingeführt werden. Er zeigt ausführlich, wie jedenfalls der letzte, entscheidende Schritt zu ihm hin als geplante, politisch durchgesetzte Reform auch tatsächlich getan wurde. Dann aber kann diese Reform nicht allein aus pragmatischen Interessen erklärt werden. Ihr muss tatsächlich eine „Idee“ zugrunde gelegen haben. Peter Townsend, ein zeitgenössischer Autor, um nur ihn zu nehmen, stellt denn auch dar, die Zahl der arbeitenden Menschen werde durch die Menge der vorhandenen Nahrungsmittel begrenzt, wie auf einer Insel die Zahl der Hunde durch die Zahl der Ziegen. Und in diesem Zusammenhang: Der Hunger treibe sie zur Arbeit. Das soll ein Argument dafür sein, dass „die Natur“ es schon richten werde; keine Regierung werde gebraucht, um Hunde und Ziegen, Arbeiter und Lebensmittel ins Verhältnis zu setzen. (S. 161) Wir haben also den Fresszyklus, der ein selbstregulierender Kreislauf ist, und die „natürliche“ Triebzufuhr von außen: Das ist eine Maschine. Townsend nennt es nicht so, aber ein Maschinen d i s k u r s  liegt jedenfalls zugrunde, der aus vielerlei Quellen rekonstruiert werden könnte.

Kurzum, wir dürfen interpretieren: Die Industrielle Revolution hat Maschinen hervorgebracht, darunter die Maschine Markt. Erstgenannte Maschinen wurden buchstäblich produziert, die zweitgenannte war zunächst nur eine „Idee“ – besser ein Diskurs, der den Akteuren  t e i l w e i s e  auch bewusst wurde -, die aber, in Politik umgesetzt, auf die buchstäbliche Produktion zurückwirkte, indem man dazu überging, diese durch einen „selbstregulierenden Markt“ zu vermitteln. Den letzten entscheidenden Schritt dahin kann Polanyi detailliert darstellen. Er bestand eben in der politischen Umsetzung jener Idee. Dazu mussten die, die sie dachten, erst einmal politische Macht erlangen. Im Jahr 1832 hatte die englische Bourgeoisie jene Wahlrechtsreform erkämpft, die sie an die Regierung brachte. Schon im Jahr 1834 konnte die Reform des Armenrechts beschlossen werden, die praktisch darauf hinauslief, dass den Armen keine staatliche beziehungsweise kommunale Unterstützung mehr gewährt werden durfte. Damit war  d e r  K a p i t a l i s m u s  überhaupt erst  e n t s t a n d e n . Polanyi sagt das sehr klar (S. 121). Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, tritt sie in die Existenz, sagt Hegel. Die letzte Existenzbedingung, der Hunger der Arbeiter, hatte vor 1834 gefehlt; nun war er da.

Man ist darauf als Marx-Leser nicht vorbereitet. Dass die Zwangslage der Arbeiter, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen, Existenzbedingung des Kapitalismus sei, ist zwar eins seiner wichtigsten Theoreme. Wie sie aber zustande kam, wird bei ihm nur sehr im Allgemeinen deutlich. Seine Haupterklärung ist, dass Bauern Jahrhunderte zuvor ihres Landes enteignet worden waren; sie waren nun arm und verfügbar, mussten aber die Jahrhunderte noch abwarten, bis das Kapital kam, das sie kaufte. Dass sie erst seit 1834 verfügbar waren, sah Marx nicht. Weil er sich dafür, dass aus der Ware-Geld-Beziehung eine regelrechte Marktmaschine geworden war, nicht interessierte. Und wohl auch, weil er so viel bewusste Politik beim Übergang zum Kapitalismus nicht für möglich gehalten hätte. Damit ist dennoch nicht gesagt, dass Polanyis Hinweis auf die Marktmaschine zur Marxschen Theorie nicht passe. Im Gegenteil, gerade sie wird mit ihm weiterentwickelt. Wir dürfen annehmen, dass Marx ihn dankbar aufgenommen hätte.

Einen Punkt hätte es wohl gegeben, wo ihm die Weiterentwicklung zu weit gegangen wäre. Das ist der, dass man sich fragt, ob er den Markt nicht für zukunftsfähig hätte ansehen müssen, gerade wenn ihm sein Maschinencharakter einsichtig geworden wäre. Denn war es nicht Marx‘ ureigene Rechtfertigung des Kapitalismus, dass dieser die historische Mission hatte, die Entstehung eines Maschinensystems zu organisieren? Dessen sich die Menschen noch würden bedienen können, wenn es keinen Kapitalismus mehr gab? Wie nun, wenn die Marktmaschine zu  d i e s e m  M a s c h i n e n p a r k , der dem Fortschritt zugute kam,  g e h ö r e n  sollte? Ist es etwa wahr, dass sie ähnlich wie, sagen wir, eine Waschmaschine die Mühsal der menschlichen Existenz erleichtert? Nur dass man es ihr in der kapitalistischen Überformung, die sie notwendig erleidet, weil das Kapital es ja war, als deren Bewegungsform sie in die Welt gesetzt wurde, noch nicht recht ansehen kann? Könnte es sein, dass an ihrer Unvollkommenheit, die immer wieder hervorgehoben wird – dass sie ihrem Begriff nicht entspricht, es etwa zur Monopolbildung kommt, unverträglich mit selbstregulierender Preisbildung -, ohne Beseitigung der kapitalistischen Überformung nichts zu ändern ist?

Das sind keine rhetorischen Fragen. Mühsal wird nicht erleichtert, sondern erschwert, wenn so eine Maschine durch den Hunger der Arbeiter angetrieben werden muss. Diese Mechanik weisen wir schon einmal zurück. Das Gewinnstreben können wir höchstens teilweise als Triebkraft akzeptieren, denn seine schrankenlose Wucht ist eben der Kapitalismus, den wir beseitigen wollen. Aber wo nimmt die Marktmaschine den Strom her ohne diese beiden Triebkräfte?

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Mit Polanyi müsste die Frage auch noch anders gestellt werden. Arbeit stellt sich ihm nicht nur als Leistung dar, die durch Hunger erzwungen wird, sondern auch die Arbeitskraft als etwas, das  k e i n e  W a r e  i s t  und doch behandelt wird, als wäre sie eine. Das habe sie, fährt er fort, mit dem Grund und Boden und dem Geld gemein. Auch dies ist ein Gedanke, den wir selbst erst zuende denken müssen. Das Argument ist, dass man unter einer Ware ein Ding oder eine Leistung verstehe, die zum Zweck des Verkaufs produziert worden sei. Ihm nachgehen heißt auf mannigfache Verwicklungen und Verwirrungen stoßen; es ist nicht überzeugend. Und ohnehin begreifen wir nicht, wie das Geld in die Reihe passt. Aber gerade vom Geld ausgehend können wie den Gedanken plausibel machen, indem wir ihn etwas verändern. Das Problem beim Geld ist, dass der Staat, als Vertretungsorgan der Gesellschaft, es emittiert und eigentlich immer unter Kontrolle halten müsste. Er tut es längst nicht mehr, wenn er es je getan hat. Er emittiert es nicht einmal mehr allein. Das bedeutet, die Gesellschaft verfügt nicht über ihr eigenes Geld. Wo sie es aber täte, wäre das Geld keine Ware.

Dadurch eben steht es in Analogie mit Arbeitskraft und Boden. Auch sie sind dann keine Waren, wenn die Gesellschaft sich auf ihr Recht besinnt, über sie zu verfügen. Und nun sehen wir, es gibt bei ihnen wie beim Geld historische Ausgangspunkte, in denen dies Recht gegolten hat. Boden wurde ursprünglich verteilt – also gleichsam emittiert -, bevor eine Entwicklung einsetzen konnte, in der er nach und nach in veräußerlichen Privatbesitz, in Waren zerfiel. Die Gesellschaft, das  g e s e l l s c h a f t l i c h e  Individuum ist natürlich auch der „Herausgeber“ der Arbeitskraft. Das sind Gründe, weshalb Arbeitskraft, Boden und Geld zunächst einmal keine Waren sind. Wir werden aber nicht wie Polanyi sagen, sie seien es eigentlich noch heute nicht, würden nur fälschlich so behandelt. Nur das Ziel, zumindest Arbeitskraft und Boden aus der Warenförmigkeit wieder  h e r a u s z u h o l e n  – Geldfragen erörtern wir hier noch nicht -, machen wir uns zu eigen. Mindestens teilweise muss es geschehen, soll die Marktmaschine aufhören, kapitalistisch zu sein. Dann aber stellt sich von neuem die Frage, ob sie nach all den Reduktionen überhaupt noch funktionsfähig wäre.

Für heute muss es genügen, die Fragen aufgeworfen zu haben. Ich will nur noch mit Polanyi betonen, dass es zwar immer Märkte gegeben hat, einen Markt aber wie seit 1834, als er in England entstand und von andern europäischen Ländern rasch aufgegriffen wurde, noch nie. Was wir heute „Marktwirtschaft“ nennen, ist wirklich mit dem Kapitalismus dasselbe. Als diese Form hat sich der Kapitalismus selbst erfunden. Eindrucksvoll durchaus. Passend zur Stunde, in der sie ans Licht kam, ist „Marktwirtschaft“ das Paradox einer  z w a n g s h a f t e n  Assoziation  f r e i e r  Individuen. Die Unternehmer wenigstens, die sich als deren Maschinenelemente von der Preisbewegung regulieren lassen, sind frei und gezwungen zugleich. Die Arbeiter, die den Blasebalg treten, sind nur gezwungen. An diesem insgesamt nicht akzeptablen Dispositiv besticht immerhin schon einmal, dass es der Versuch ist, eine Gesellschaft zu integrieren, die sich immer mehr individualisiert. Es ist nicht annehmbar, aber vielleicht kann es dahin  u m g e b a u t  werden, dass es annehmbar  w i r d ? Maschinen sind keine Götter, man darf sie erfinden, wie man will. Das sei für heute das Schlusswort.