(159) „Es“ wächst

2. Noch einmal zur Geschichte des Kapitalismus: Entstehungszeit, Aspekte des Funktionierens, Zeit der Auflösung / Sechster Teil - Retractationes

Wir haben gesehen: Der Kapitalismus, wie lang er auch brauchte, sich zu sammeln, begann doch erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu existieren. Von da an wirkte seine wichtigste Existenzbedingung, die bewusste Anwendung der Naturwissenschaft im Produktionsprozess. Es ist aber noch nicht hinreichend deutlich geworden, warum gerade sie so wichtig war. Das Kapital, davon sind wir immer ausgegangen, ist eine Bewegung ins Unendliche. Warum ist es die Anwendung der Naturwissenschaft, von der diese Bewegung am meisten gefördert wird, ja ohne die es sie gar nicht geben könnte?

In den beiden Teilfragen stecken Annahmen, die ich nochmals offenlegen will. Zur ersten ist zu sagen, dass die unendliche Bewegung natürlich von  a l l e n  d r e i  Bestandteilen des Kapitals, also nicht nur der Naturwissenschaft, sondern auch vom Markt als einer Ökonomie des Geldes und vom Staat gefördert wurde. Staaten lieben es ihre Macht zu steigern, sie führen gern Kriege, um zu expandieren; wir haben das ausführlich erörtert. Von der unendlichen Zählbarkeit des Geldes war verschiedentlich die Rede. Beide hätten es aber allein nicht gebracht. Dass unbedingt noch die Naturwissenschaft hinzukommen musste, ist zunächst eine Beobachtung: Erst mit ihrer ökonomischen Anwendung kommt es zur Industrialisierung und damit zur Unendlichkeits-Wirtschaft Kapitalismus. In der zweiten Teilfrage steckt die Annahme, der kapitalistische Expansionsdrang sei  e i n z i g a r t i g . Sie wird erstaunen, wenn ich selbst einräume, was jede(r) weiß, eben dass auch Staaten und auch das Geld zur Expansion tendieren.

Wir wollen uns der Beantwortung nähern, indem wir eine dritte Frage aufwerfen: Was geschieht eigentlich mit der Produktionsweise, wenn sie angewandte Naturwissenschaft wird?

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Erwägen wir zuerst die heute verbreiteten Antworten. Einflussreich ist weiterhin die Theorie der Kondratjew-Wellen. Auch Immanuel Wallerstein bezieht sie in seine Theoriebildung mit ein. In ihrer Sicht wird eine technische Basisinnovation zum Startschuss einer flächendeckenden europäischen Industrialisierung und kommt es danach in regelmäßigen Abständen zu weiteren Basisinnovationen; es ist ein endloser Prozess. Als erste Periode wird die „Frühmechanisierung“ zwischen 1780 und 1840 benannt. Die Dampfmaschine wird erfunden, aber noch nicht im großen Maßstab genutzt. Dies geschieht erst in der zweiten Periode, 1840 bis 1890, als Dampfschiffe und mit Kohle betriebene Eisenbahnen gebaut werden. Hier also erst ereignet sich die „industrielle Revolution“ und beginnt der unendliche Weg. Denn als der Impuls zur zweiten Periode verbraucht war, wussten die Kapitalisten schon, worauf sie warteten, nämlich auf die nächste Basisinnovation, und sie kommt auch nach Jahren der ökonomischen Krise. So haben wir 1890 bis 1940 eine Periode der Chemie und Elektrotechnik, und es geht weiter: 1940 bis 1990 zunehmende Automatisierung, seit 1990 Informations- und Kommunikations-Technik. Ja, man überlegt jetzt schon, was die anschließende sechste Periode dominieren wird: Biotechnologie? Nanotechnologie? Künstliche Intelligenz? Regenerative Energien? Internet der Dinge? (vgl. den Wikipedia-Eintrag) Man ist jedenfalls sicher, dass es eine sechste und dann siebente, achte Periode geben wird – denn das „Wachstum“ geht ja immer weiter.

Wachstum ist der heutige gängige Name. So sehr hat er sich überall durchgesetzt, dass inzwischen sogar die Industrialisierung selber vorwiegend als Wachstumsbeginn definiert wird. Das wird deutlich in der Zusammenstellung von Erklärungsansätzen bei Jürgen Osterhammel: „Dauerhaftes, ‚exponentielles‘ Wachstum“ ist Industrialisierung für Walt W. Rostow (1960), „ein vom Wechselspiel zwischen technologischer Innovation und wachsender Nachfrage getriebener Prozess wirtschaftlichen Wachstums, der in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s von der Nachahmung des Pionierlandes Großbritannien auf dem Kontinent zu einem gesamteuropäischen Entwicklungsmodell führte“, für David S. Landes (1969). Osterhammel selbst fasst zusammen, man könne sie „zunächst formal bestimmen als ein über mehrere Jahrzehnte stetig anhaltendes Wachstum der realen Erzeugung (output) pro Kopf innerhalb einer Volkswirtschaft von mehr als 1,5 Prozent pro Jahr. Dieses Wachstum erfolgt auf der Grundlage eines neuen Energieregimes, das fossile Energiequellen für die materielle Produktion einschließt und bekannte Energiespender besser nutzt.“ (Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 913 f., 916)

Wir werden später herauszufinden versuchen, worin die britische „Pionier“leistung eigentlich genau bestand. An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass die Definitionen jedenfalls auch ein Schlaglicht auf die Wachstumskritik des Schweizer Ökonomen Hans Christoph Binswanger zurückwerfen, die ich in der 96. Notiz gestreift habe. Binswanger, der als ökologischer Ökonom gilt, weil er ein Ende des Wachstums fordert, meint dann doch, dass eine Ökonomie, die nicht um wenigstens 1,8 Prozent jährlich wächst, unmöglich sei. Dieser Zwang scheint identisch zu sein mit dem Charakter von Industrialisierung und damit von Kapitallogik, die ins Unendliche strebt.

Auf einer grundsätzlicheren Ebene will ich auch fragen, was von diesem Ausdruck „Wachstum“ zu halten ist. Mir fällt auf, dass man ihn heute in einer Adam Smith-Übersetzung findet, wo im englischen Original vielmehr von Akkumulation die Rede ist. Herauszufinden, wann die Rede vom Wachstum begonnen hat, ist mir noch nicht gelungen. Ich zögere deshalb, aber nur deshalb, sie ideologisch zu nennen. Denn merkwürdig ist sie schon. Was unterscheidet Akkumulation von Wachstum? Es gibt zwei Unterschiede: Akkumulation heißt auf Deutsch Anhäufung und das ist eine sehr konkrete Vorstellung; sie wirft erstens die Frage auf, wer den Haufen vergrößert, welches sein Material ist und auf wessen Kosten die Vergrößerung geht. Wachstum ist demgegenüber eine Pauschale, die alles verhüllt. „Es“ wächst. Man fragt nur, woran es gemessen werden kann. Zweitens kann die Tätigkeit des Anhäufens immer weiter getrieben werden, das geschieht aber nicht von selbst, sondern weil es gewollt wird oder werden muss. So eignet sich der Ausdruck, die ins Unendliche strebende Kapitallogik zu beschreiben. Wachstum ist dagegen eine der Natur entlehnte Metapher, die auf eine Unendlichkeitslogik zu beziehen sich verbieten sollte. Denn dort, in der Natur, wächst nichts ins Unendliche.

Vielleicht ist die Rede vom Wachstum aufgekommen, als sich, lange nach Marx, auch die bürgerliche Theorie für den expansiven wirtschaftlichen Prozess statt bloß für Gleichgewichtsmodelle zu interessieren begann. Zugleich mag es mit der Mathematisierung der ökonomischen Theorie zusammenhängen, dass man nun mit „Wachstumsraten“ rechnete. Ich zweifle indes, dass selbst in der Mathematik dieser Ausdruck immer verwendet wurde, und wundere mich jedenfalls, weshalb Mathematiker nicht nüchtern von Steigerungs- oder Vergrößerungsraten sprechen. Warum greift ausgerechnet die Mathematik auf eine metaphorische Sprechweise zurück? Wie man es dreht und wendet: Wachstum im Wortsinn geschieht natürlicherweise ohne menschliches Zutun – und strebt nie ins Unendliche -, während in der Mathematik nichts „wächst“, was nicht von Mathematikern gesteigert werden will. Ebenso läuft nichts in der Wirtschaft, die wir haben, ohne Kapitalisten. Das bedeutet, dass „Wachstum“ die Kapitallogik durch ihr Gegenteil bezeichnet, ähnlich wie der griechische Mythos Erinnyen zu „Eumeniden“ macht, Wohlmeinenden, damit man an sie glauben kann, ohne verrückt zu werden. (Vgl. auch die 18. Notiz.)

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Wie wir sahen, ist der Kapitalismus von allen Produktionsweisen verschieden, die sich ihrer Natureinbettung nicht schämen, sie nicht als Fessel empfinden. Wir haben deshalb Wallersteins europäisches Weltsystem ab dem 16. Jahrhundert nicht als beginnenden Kapitalismus gelten lassen, denn es basierte auf einer vorindustriellen Agrokultur und diese kann sich von Naturbedingungen nicht emanzipieren. Ausgerechnet aber die Produktionsweise, der es weitgehend gelingt, die industrialisierte ab dem 19. Jahrhundert, wird durch den Wachstumsbegriff in besondere Naturnähe gerückt. Bei Marx ist zu lesen, dass der Kapitalismus sich den Anschein des Natürlichen gibt, um zu verhüllen, dass er nicht ewig ist, sondern einen Anfang und ein Ende hat wie alles. Auch diese Sicht war noch seltsam. Denn wo wäre das Vorbild des Nicht-Ewigen, wenn nicht gerade in der Natur? Es ist zwar wahr, dass der Kapitalismus sich als etwas Natürliches darstellt. Was er damit aber verhüllt, ist vielmehr das Unnatürliche seines Anspruchs auf Unendlichkeit, den man früher nur Gott zuzuschreiben gewagt hat, und nur in diesem Sinn „der Natur“, sofern diese nämlich als mit Gott gleichgesetzte Gesamtheit, Deus sive natura, aufgefasst worden ist.

Verhüllt wird aber auch, dass Natur und Kapitalismus darin, dass der letztere  k ü n s t l i c h  zu sein versucht, den extremsten Gegensatz bilden. Das ist es, was im Folgenden erörtert werden soll. Es sind Kehrseiten voneinander: Um seinen Anspruch auf Unendlichkeit zu realisieren, muss das Kapital sich so umfassend wie möglich in ein Kunstgebilde, einen Kreislauf aus allein künstlichen Elementen, kurz in eine Maschine verwandeln. Naturschranken, die das permanente Grenzüberschreiten unmöglich machen, gibt es dann nicht mehr oder sind aufs Minimalste zurückgedrängt. Im Übrigen schafft der industrialisierte Kapitalismus nicht nur viele Maschinen, sondern ist selbst im Ganzen eine Maschinerie. Er umgibt sich zudem mit Maschinen im wörtlichen und übertragenen Sinn.

Was Marx von der Maschine im Wortsinn sagt: dass sie „am vollständigsten ihrem Begriffe [entspräche]“, wenn sie „ein perpetuum mobile [wäre]“ (Grundrisse, Berlin 1953, S. 652), charakterisiert den Kapitalismus im Ganzen. Wikipedia stellt das Perpetuum mobile als ein „hypothetisches Gerät“ vor, „das – einmal in Gang gesetzt – ohne weitere Energiezufuhr ewig in Bewegung bleibt und dabei […] möglicherweise auch noch Arbeit verrichtet“. Es ist freilich ein unmögliches Gerät, denn wenn es „Nutzenergie bereitstellen soll, ohne dass von außen Energie zugeführt wird, widerspricht das dem Energieerhaltungssatz“. Die Überlegung führt trotzdem zum springenden Punkt. Energie, und zwar fortlaufend zugeführte, ist die einzige Naturbedingung, an die jeder Kreislauf und so auch der industriell-kapitalistische, sei er sonst noch so künstlich, immer gefesselt bleibt. Deshalb unterstreicht Marx, dass dem Kapital, so sehr ihm die Einverleibung alles Möglichen gelingen mag, eins immer  v o n  a u ß e n  entgegentritt, die Arbeit. Man kann das seine Achillesferse nennen. Arbeit oder besser die Arbeitskraft, die sich verausgabt, ist eine Form von Energie. Nur solange diese oder eine andere geeignete Energieform unbeschränkt zur Verfügung steht, gelingt es dem Kapitalismus, sich in seiner Imagination zu halten.

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Marx wäre wohl auf seine Unterscheidung von Arbeit und Arbeitskraft gar nicht gekommen, wäre nicht ganz kurz vorher – 1841 durch Julius Robert Mayer, 1847 durch Hermann von Helmholtz – dieser neuartige Energiebegriff postuliert worden, in dessen Licht die Arbeitskraft nur mehr eine Energieart unter vielen war. Anson Rabinbach hat das als Erster plausibel gemacht (The Human Motor. Energy, Fatigue, and the origins of Modernity, Berkeley Los Angeles 1992). „Karl Marx stand mit seinem Begriff der Arbeitskraft bereits seit der Mitte des Jahrhunderts unter dem Einfluss des Helmholtzianismus“, lesen wir nun auch bei Osterhammel, bei dem sich auch übergreifend zeigt, dass Industrialisierung „[i]n einem ihrer wichtigsten Aspekte […] ein Wechsel im Energieregime [war]“ (a.a.O., S. 930). Dies hat die bekannte ökologische oder vielmehr antiökologische Seite: Ausbeutung natürlicher Ressourcen, zunächst vor allem der Kohle, später vor allem des Öls, die man behandelte, als stünden sie unendlich zur Verfügung. Elmar Altvater untersucht es in seinen Büchern. Wären die Ressourcen unendlich vorhanden, also nicht knapp, würden sie nichts kosten; nur ihre Hervorbringung aus der Erde, Produktion im Wortsinn, durch Arbeit würde kosten. Dass sie in Wahrheit endlich und eine veritable Naturschranke sind, hat man sich erst in den letzten Jahrzehnten eingestanden.

Zu den Formen von Energie zählt also die Arbeitskraft. Als ihre natürliche Bedingung erscheint zunächst der Mensch, dem man sie nicht herausoperieren kann; wird sie verausgabt, stellt sich seine physische und psychische Belastbarkeit als weitere Naturgrenze heraus. Man hat sie schon aufs Radikalste ausgetestet, bevor der Kapitalismus aufkam, besonders geschah es in der Peripherie des Weltsystems. Sklaven und unfreie Arbeiter waren das Untersuchungsobjekt. Im Kapitalismus selber gibt es die umgekehrte Bewegung, dass Naturschranken durch Zumutungsgrenzen kulturell ergänzt werden, in den Zentren mehr, in der Peripherie weniger. Freilich wissen wir auch, dass Arbeit „Kraft mal Weg“ ist, weiter nichts, und so wird zwar Arbeitskraft gebraucht, sie zu leisten, aber nicht unbedingt menschliche. Genauer gesprochen kann sich zwar keine Ökonomie von der Bedingung menschlicher Arbeitskraft ganz lösen, erstens weil die Maschinenkraft doch letztlich gesteuert werden muss – würde dies absolut fortfallen, wäre es der Fortfall des Menschen überhaupt – und zweitens weil mit der menschlichen Arbeitskraft auch jeglicher Mehrwert entfiele. Denn Maschinen müssen bezahlt, nur Menschen können ausgebeutet werden. Aber wenn sich der Kapitalismus von dieser Naturbedingung, dass menschliche Arbeitskraft mit dem menschlichen Körper und Geist verwachsen ist, nicht lösen kann, versucht er doch immerzu, sie auf ein Minimum zu reduzieren.

Die Tendenz zum Perpetuum mobile geht aber noch viel weiter. So wird versucht, alles, was zum Leben gehört, zu kommodifizieren, und auch das bedeutet, in einen vollkommen künstlichen Kreislauf zu spannen. In diesem Prozess wird nicht nur die Arbeitskraft zur Ware, sondern ebenso alles bebaubare Land und auch das Geld – das sind die drei Güter, von denen wir bei Polanyi lesen, dass man sie nicht in Waren hätte verwandeln dürfen, es aber doch getan hat. So kommt zur technischen Option, automatische Maschinen zu bauen, der maschinelle Charakter der Märkte noch hinzu. Indem alles marktförmig wurde, was Märkte sonst von außen bedingt hat, ist  d i e  M a r k t m a s c h i n e , wie ich sie nannte, zum „selbstregulierenden“ Mechanismus geworden.

Hier behält, nebenbei gesagt, Polanyi gegen Wallerstein recht. Laut Wallerstein, der sich zu Polanyi gar nicht äußert, hätte schon im 16. Jahrhundert ein selbstregulierendes Weltsystem bestanden. Aber dieses System war noch kein kapitalistisches. Es war ein Weltmarkt, der sich überall noch an Naturbedingungen band und deshalb nicht, wie es der Begriff der Kapitallogik fordert, ins Unendliche expandieren konnte.

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Ich sagte, der absolute Fortfall menschlicher Arbeitskraft würde den Fortfall des Menschen überhaupt bedeuten: Da ist denn nachzutragen, dass es „Pioniere“, die hierüber nachdenken, durchaus schon gibt. So jenen Ray Kurzweil, Director of Engeneering bei Google, von dem die Rede war. Aber Hannah Arendt macht schon 1958 – nach dem Sputnik, der am 100. Geburtstag Konstantin Ziolkowskis, eines anderen „Pioniers“ der Abschaffung des Menschen, ausgesetzt wurde – darauf aufmerksam, dass nicht etwa nur die Ökonomie vollkommen verkünstlicht wird, sondern der Mensch selber. Soweit er der naturwissenschaftlichen Orientierung folgt, „entfernt“ er sich vom „Reich des Lebendigen“ überhaupt „auf eine künstliche, von ihm selbst errichtete Welt hin“. „Schon seit geraumer Zeit“, so Arendt, „versuchen die Naturwissenschaften, auch das Leben künstlich herzustellen, und sollte ihnen das gelingen, so hätten sie wirklich die Nabelschnur zwischen dem Menschen und der Mutter alles Lebendigen, der Erde, durchschnitten. Das Bestreben, ‚dem Gefängnis der Erde‘ und damit den Bedingungen zu entrinnen, unter denen die Menschen das Leben empfangen haben, ist am Werk in den Versuchen, Leben in der Retorte zu erzeugen oder durch künstliche Befruchtung Übermenschen zu züchten oder Mutationen hervorzubringen, in denen menschliche Gestalt und Funktionen radikal ‚verbessert‘ werden würden, wie es sich vermutlich auch in den Versuchen äußert, die Lebensspanne weit über die Jahrhundertgrenze auszudehnen.“ (Vita activa oder Vom tätigen Leben, München Zürich 1981 [engl. 1958], S. 8 f.)

Man könnte die Frage ergänzen, ob das Bestreben, von dem Arendt spricht, nicht auch in der Ökologiekrise am Werk ist, die ja zur Nebensache wird, wenn man ohnehin dabei ist, sich von der Erde abzunabeln.

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Wir wollen speziell noch das Geld in den Blick nehmen. Das Geld rein für sich genommen hat heute eine Stufe totaler Künstlichkeit erreicht, die es erst wirklich befähigt, das Medium einer den „unendlichen Mehrwert“ anstrebenden Produktionsweise zu sein. Aber dies ist ein Punkt, in dem ich mich im Widerspruch zu vielen, wenn nicht den meisten anderen Marxisten befinde. Ich kann nämlich der Annahme nicht folgen, dass wir uns, als die Golddeckung des Geldes wegfiel, ein „Geld ohne Wert“ eingehandelt haben sollen.

Ist es nicht gerade umgekehrt? Das goldgedeckte Geld, das mit letzten Zuckungen, sprich dem System von Bretton Woods, noch bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hineinreichte, war an eine Naturbedingung gefesselt und widerstrebte eben deshalb seiner kapitalistischen Bestimmung, unendlich vermehrt werden zu können. Geld muss „gelten“ – der Geltung muss „vertraut“ werden können – und das konnte zunächst nicht anders durch die Golddeckung erreicht werden; der Grund war, dass dem Gold schon jahrtausendelang vertraut worden war. Aber das waren Jahrtausende, in denen es keine unendlich „wachsende“ Ökonomie gab. Sobald eine solche angestrebt wird, wird Gold zur Schranke. Es kann heute allenfalls noch den Reichtum Einzelner „decken“, das heißt über Wirtschaftskrisen hinaus aufrechterhalten, und teilt sich die Eigenschaft mit Immobilien, berühmten Gemälden und dergleichen mehr. Längst aber gibt es viel zu viel kapitalistisch akkumulierten Reichtum, als dass Gold noch  g e n e r e l l  zur Deckung geeignet wäre.

Und wird es denn dafür gebraucht? Eine Geltung, der vertraut werden kann, fällt freilich nicht vom Himmel. Wer nur sagt „Geld ist Vertrauen“, hat gar nichts gesagt. Aber es gibt etwas, dem aus gutem Grund sehr stark vertraut wird, obwohl es kein Atom Natur enthält; das ist die Gleichung. Man kann es schon der Marxschen Wertformanalyse entnehmen, liest man sie nur wenig gegen den Strich: In x Ware A = y Ware B  i s t  die Ware B  G e l d , egal aus welchem Stoff sie besteht. Die Geldgleichung ist hier noch „unentfaltet“, weil nur auf zwei statt alle Waren bezogen. Aber auch ein Geld, das sich mit allen Waren austauscht, ist dem Stoff nach gleichgültig, vorausgesetzt nur, dass er als Geldstoff hingenommen wird. Sei er auch künstlich geworden, derart dass er beliebig generiert werden kann, statt dass man ihn noch aus Bergwerken holt. Und wovon hängt das Hinnehmen ab? Davon, dass es möglich sein muss, dem Geldstoff den gleichen Wert wie der Ware, gegen die er getauscht wird, zuzuerkennen. Er muss als das Gleiche erscheinen.

Mit andern Worten, es hängt vom Diskurs ab. Solange die Geltung von einem besonderen Stoff abhängt, befinden wir uns noch im metaphorischen Diskurs. Es ist bekannt, dass Gold auf die Sonne, Silber auf den Mond verwiesen hat, wobei Sonne und Mond ihrerseits das Mann-Frau-Verhältnis metaphorisierten. Robert Kurz zum Beispiel hat es gewusst, hat aber dennoch den Schluss nicht gezogen, dass ein Geld, von dem man wirklich in allem Ernst sagen kann, es habe sich „verselbständigt“, nicht immer noch an dieser Metaphernkette hängen kann.

Historisch wurde der metaphorische Diskurs vom subsumtiven überlagert: Das Gold wurde geprägt mit staatlichen Hoheitszeichen. In seiner eigentlichen Funktion als Tauschgeld auch zwischen verschiedenen Kulturen, wie früher zwischen Europa und China, war trotzdem noch lange das Metaphorische ausschlaggebend, will sagen es kam aufs Gewicht des Edelmetalls an und nicht auf die Prägung. Erst in der frühkapitalistischen Zeit spielte goldgedecktes Staatsgeld, zunächst das britische dann das US-amerikanische, die Hauptrolle. Hier hatte der subsumtive Diskurs die Führung übernommen, ohne freilich die Nabelschnur zum metaphorischen abschneiden zu können. Wie nun aber, wenn  d e r  A n g l e i c h u n g s d i s k u r s  dominant wird? Das geschieht in der europäischen Neuzeit. Eine neue Mathematik und Naturwissenschaft sind die ersten Früchte oder Verkörperungen, und man vertraut ihnen. Einem Gleichungsgeld vertrauen heißt eigentlich der Naturwissenschaft vertrauen, denn sie ist es, in der sich die Mathematisierung und so die Gleichung bewähren. Jetzt sind Metaphern eigentlich vollkommen sinnlos geworden.

Eine Zeitlang schleppt man sie noch mit, aber doch nur weil es schwer fällt, sich von alten Gewohnheiten zu lösen. Im 19. Jahrhundert wird die Technik, im 20. das Geld von der naturwissenschaftlichen Logik revolutioniert. Wo nun schon alles künstlich wird, kann schließlich auch ein Geld ohne Naturschranken akzeptiert werden. Zu erwarten ist geradezu, dass naturbedingtes Geld  i m m e r  w e n i g e r  v e r m i t t e l b a r  wird, je mehr die kapitalistische „Moderne“ voranschreitet. Wir vertrauen heute nicht mehr Substanzen, sondern Relationen, besser gesagt dieser einen Relation, der Gleichung. Deshalb nehmen wir schon heute jede Wertgleichung hin, die uns seriös erscheint, verliere sie sich auch in kühnsten „Derivaten“. Gedeckt muss sie freilich sein, aber mit welcher „Sicherheit“, hängt nur von den Umständen ab. Niemand verlangt noch Gold oder Silber als allein mögliche Sicherheiten.

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Nicht nur den Marxisten fällt es schwer. Ich sehe auch in der aktuellen Debatte über ein Geld, das angeblich „aus dem Nichts“ herrühren soll, ein Sichklammern an längst irrelevant gewordene Geldverhältnisse. Man begegnet da immer wieder einem ganz bestimmten Argument: Wenn eine Bank einen Kredit vergibt, gebe sie damit doch keine Ersparnisse weiter, die bis dahin auf der Passivseite der Bankbilanz verzeichnet waren. Nein, man sehe doch, dass solche Ersparnisse der Bank erhalten blieben. Die Kreditvergabe rücke sie nicht von der Stelle. Der Kredit komme nicht von ihnen, er komme folglich von nichts. Er werde einfach willkürlich hingeschrieben und sei dann da. Dies Argument dreht sich im Kreis der Vorstellung, dass es sich bei den Ersparnissen irgendwie um Naturdinge handle, wie Gold eins gewesen ist. Man weiß zwar, dass sie es nicht sind, weiß es aber nicht so sehr, dass man nicht wenigstens dem Gegner der „Geld aus dem Nichts“-Theorie die Ansicht unterstellen muss. Weil er sonst nicht widerlegt werden könnte. Dem Gegner wird also erwidert, die Ersparnisse würden doch nicht weggegeben, als ob sie Golddinge wären. Dann freilich wären sie aus der Bank verschwunden, weil nunmehr in der Hand des Kreditkunden. Man sehe aber ja, auf der Passivseite der Bankbilanz sei gar nichts verschwunden.

Wer so argumentiert, ist dem metaphorische Diskurs noch untertan. Denn nur im Rahmen der Alternative, dass Kreditgeld entweder von Dingen herrührt oder nicht von Dingen und somit von nichts, wäre die Behauptung, es könne ein Geld „aus dem Nichts“ geben, plausibel zu machen. Dabei gibt es ein Drittes: Wenn unter Bedingungen des Angleichungsdiskurses kreditiert wird, hat dieser  a l l e s  v e r k ü n s t l i c h t  und  n i c h t s  S u b s t a n z i e l l e s  muss noch weggegeben werden. Es bleibt freilich ein Geben und die Gabe muss mit der Bilanzgleichung übereinstimmen. Sie wird  a u s  d e r  G l e i c h u n g  g e n e r i e r t . Da eine Gleichung Bilden dieselbe Sache zweimal Sagen heißt, begreifen wir die Bankbilanz als Niederschrift einer einzigen Wertsumme in Gestalt zweier Wort- oder Zeichenfolgen: Auf der Aktivseite steht, wie sie angelegt ist – etwa als Kredit, der vergeben wurde -, auf der Passivseite sie selbst als das Angelegte. Jedenfalls ist das der Grundzug. In Wahrheit ist das Gleichungssystem, das Aktiva und Passiva verbindet, um Einiges komplizierter. Es gehen Wahrscheinlichkeiten, mit wieviel Rückzahlungsausfall zu rechnen ist, wieviel Bank- in Bargleichungsgeld verwandelt werden muss, und vieles andere ein. Doch bleibt es ein Gleichungssystem, das sich zuletzt in einer einzigen Gleichung zusammenfasst.

Das Angelegte ist nicht weggegeben, es bleibt bei der Bank. Aber umgekehrt ist die Anlage nicht zum Angelegten hinzugekommen, sondern mit ihm identisch. Bei Marx war das immer schon zu lesen: „Das Eigentum des verkauften Gegenstands tritt man immer ab. Aber man gibt nicht den Wert weg.“ (MEW 25, S. 357)

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Hier ist der Ort, auf die Frage der Einzigartigkeit des Kapitalismus zurückzukommen, die, wie ich schon früh behauptet habe, in seiner unendlichen Expansionswut besteht. Meine Argumentation schien mir später nicht hinreichend. Ich glaube, ich habe nur auf die Mahnung des Augustus verwiesen, man dürfe das Römische Reich nicht überdehnen. Damit sollte begründet werden, dass Imperien, denen man noch am ehesten unterstellt, sie würden sich unendlich auszudehnen versuchen, dies gerade nicht tun. Aber es war nur ein empirischer Hinweis und zudem nur ein Einzelfall. Ich war ferner auf die athenischen Expansionsbemühungen eingegangen und hatte knapp bemerkt, Athen sei ja nur eine Händlerpolis gewesen. Eine ganze Gesellschaft zu prägen sei dem schrankenlosen Expansionismus nie gelungen, bevor er in der Neuzeit kapitalistische Staaten kreiert habe.

Meine Behauptung lässt sich aufrechterhalten. Zwar scheint ihr die Tatsache zu widersprechen, dass fast alle Imperien den Anspruch, ihnen stünde die Herrschaft über alles, die ganze Welt zu, immer erhoben haben. Doch wenn imperiale Herrscher sich als „König der Könige“ oder ähnlich titulierten, war das nur Ideologie. Man kann nachlesen, zu welchen Verrenkungen es führte. Zum Beispiel hat China „Tribute“ von Nachbarstaaten gefordert und von diesen auch erhalten, die in Wahrheit nur Handelsgüter waren und gegen andere Handelsgüter ausgetauscht wurden. Der Nachbarstaat wollte das Imperium nicht herausfordern, China aber war froh, den angeblichen Tribut nicht erzwingen zu müssen. Denn es wäre ihm nicht gelungen. Und das ist der springende Punkt: Imperien  k ö n n e n  nicht alles, mögen sie es auch beanspruchen. Eine Ausdehnung über gewisse Grenzen hinaus ist ihnen nicht möglich. Ob das alle imperialen Herrscher erfassen oder nur ein Augustus, gleichviel. Faktisch verhalten sie sich danach.

Zwar sind sie beleidigt, wenn jemand sich ihrer Selbstlüge nicht beugt. Europäische Händler wurden von China, solange es die Kraft hatte, sich zu wehren, nur deshalb marginalisiert, weil sie sich weigerten, Chinas Hoheit über Europa anzuerkennen. Sonst hätten sie das Landesinnere betreten dürfen. Dasselbe China strebte aber nicht danach, die ostafrikanische Küste zu besetzen, obwohl ihm das sogar gelungen wäre. Eine erfolgreiche Expedition hatte die Möglichkeit schon erkundet. Weitere Expeditionen wurden geradezu verboten, mit der Begründung, dass Afrika einem ja sowieso gehöre.

Auch das mongolische Reich ist kein anderer Fall gewesen. Mit seinen Herden drang es immer weiter vor, aber nicht weiter, als Weide vorhanden war. Vor den europäischen Wäldern kehrte man um. Auch China wollten die Mongolen, als sie es besiegt hatten, zu Weideland machen, ließen sich freilich bald überzeugen, dass es besser war, die Früchte der chinesischen Kultur zu genießen. Sie wurden dadurch selbst zu Chinesen und schützten nun ihrerseits die Reichsgrenzen. Es ist unmöglich, die kapitalistische Expansion mit der mongolischen gleichzustellen oder auch nur eine Ähnlichkeit zu entdecken.

Wie wir sahen, war das für Wallerstein ein Thema, und er hat den Grund der Unmöglichkeit benannt: Imperiale Herrschaft ist die Methode, ein Reich von einem Zentrum her zu kontrollieren; die Möglichkeit solcher Kontrolle hat Grenzen. Deshalb musste sich die kapitalistische Expansion als unbegrenzte einen anderen politischen Überbau zulegen. Dieser bestand in einer Mehrzahl von Staaten. Statt einander beseitigen zu wollen, strebten sie nur danach, dass einer von ihnen die „Hegemonie“ habe. Wir können hier noch nachtragen, dass auch diese vom Kapitalismus benötigte Staatenvielfalt dem Gesetz der Verkünstlichung gehorcht. Denn man kann den Unterschied von Staaten und Imperien auch so ausdrücken, dass Imperien, um auf alle von ihnen benötigten Ressourcen zugreifen zu können, buchstäblich ihren Fuß auf alle Ländereien setzen müssen, die solche Ressourcen enthalten. Von dieser gleich doppelten Naturschranke sind kapitalistische Staaten weitgehend befreit. Den Fuß ihrer Soldaten müssen sie nur selten bemühen, den von Statthaltern gar nicht und auf den Anspruch, über Territorien zu herrschen, können sie ganz verzichten. Wie wir sahen, setzen sie nur die Geltung von Regeln durch, einer Konstruktionszeichnung gewissermaßen. Wenn die Regeln gelten, verhalten sich alle Staaten danach. Das bedeutet, auch die Staaten – ohnehin einzeln mit Grund „Apparate“ genannt – bilden zusammengenommen eine Maschinerie. Wie die Marktmaschine, von der wir das auch gesagt haben, funktioniert sie wie ein Thermostat: Fällt in einem Staat die Befolgung der Regeln unter eine kritische Grenze, wird der Hegemon aktiv und schickt seine Soldaten. So kommt es nicht zur Erkaltung des ganzen Systems.

So funktioniert die Maschine,  w e n n  sie funktioniert. Natürlich spricht nichts dafür, dass sie es ewig tun wird.