(151) Subsumtives und metaphorisches Wählen

1. Proportionwahlen und präsentative Demokratie / Sechster Teil - Retractationes

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Ich komme zu den Überlagerungen des „subsumtiven Wählens“ durch andere Diskurse und beginne wiederum beim alten Rom. Die Überlagerungsfakten als solche wurden schon genannt, das heißt behauptet, aber worin soll ihr Zusammenhang mit dem metaphorischen statt subsumtiven Diskurs liegen? Gehen wir das Genannte durch: Zunächst sahen wir, dass ältere Strukturen in der Bestimmung der Wahlkörperschaften wie auch im Einfluss der Patrone auf plebejische Wähler in ihrer Eigenschaft als Klientel noch nachwirkten. Das Verfassungsprinzip der vorstaatlichen und überhaupt „vorsubsumtiven“ Gesellschaften war aber die Familie oder besser gesagt die Verwandtschaft, weshalb zu ihrem Verständnis die Bücher des Ethnologen Claude Lévi-Strauss über die „Strukturen der Verwandtschaft“ grundlegend sind; er hat gezeigt, dass es sich um  m e t a p h o r i s c h e  Strukturen handelte. Und zwar machen sich die Metaphern letztendlich immer am (diskursiven) Mann-Frau-Unterschied fest, weshalb der Ethnologe als Grundgesetz aller Mythen – die als Überbau der Kulte der Verwandtschaftswelt anzusehen sind – die Homologie „männlich verhält sich zu weiblich wie Himmel zu Erde oder umgekehrt“ postulieren kann.

Dass dies selbst schon eine metaphorische Verhüllung sein könnte, hinter der sich die krassere Homologie „männlich zu weiblich wie lebendig zu tot oder umgekehrt“ verbirgt, ist eine Vermutung, die sich weiter unten als wichtig erweisen wird. Auf jeden Fall ist schon die Gegenüberstellung von Himmel und Erde als solche todesschwanger, weil mit dem Krieg konnotiert, bei Lévi-Strauss einem Krieg zwischen Himmlischen und Irdischen um den Besitz der Frauen. Im griechischen Mythos, den er nicht untersucht, geht der Krieg der Gaia gegen Uranos um die hinreichende Trennung der Geschlechter. Man kann sich auch fragen, ob auch noch Homers Ilias jenen Krieg zum Thema hat, indem sie ihn nur säkularisiert und verschiebt: von „Himmel gegen Erde“ zu „West gegen Ost“ (aber auch vom Krieg um Helena zum Krieg um den Leichnam des Patroklos). Die Mythen machen uns jedenfalls nicht weis, dass der Himmel die Erde nur „still küsst“ wie bei Eichendorff und Schumann. Einmal aber weist Lévi-Strauss direkt darauf hin, dass in einer Gesellschaft von Lebenden die Toten nur durch Personen verkörpert werden könnten, die unvollkommen in den sozialen Körper eingefügt seien, und Carlo Ginzburg, der das zitiert, fügt seinerseits hinzu: „Dieses Prinzip wird durch den Bestattungsritus Doghi, wie ihn die Chewsuren des Kaukasus begehen, perfekt veranschaulicht: in ihm sind Frauen und Tote stillschweigend einander angeglichen“ (Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 1990, S. 293). Nicht nur Ausländer erregen als „Fremde“ Furcht.

Mit dem geschlechtlich konnotierten Dualismus dürfte der politische der altrömischen Verfassung zusammenhängen. Zwei Konsuln, Konsuln und Tribunen, senatus populusque und jedesmal mit dem Recht der Seiten, das Veto gegeneinander einzulegen: Das sieht sehr danach aus, als sei es an der Zweisamkeit der Hälften in vorstaatlichen Dörfern orientiert, die ihrerseits auf die Polarität der Geschlechter gegründet ist. Besonders auch deshalb sieht es so aus, weil die römischen Duale, abgesehen allenfalls von dem der Konsuln, immer ein formell nur geringes, faktisch aber umso wirksameres Ungleichgewicht aufweisen. Das Volk und deren Vertreter, die Tribunen, waren immer faktisch schwächer als die im Senat konzentrierte herrschende Klasse. Ein solches Ungleichgewicht hat auch das von Lévi-Strauss beschriebene duale oder „Hälftensystem“ bestimmt und da sogar dessen Selbstbeschreibung: Die „Schwarzen“ und „Weißen“ etwa, als die sich die Einwohner eines vorstaatlichen Dorfs unterschieden, schrieben sich zu, dass die einen ihre Sache zuende führten, während die andern „das Recht hatten, vorher aufzugeben“, oder es gab „Obere“ und „Untere“, was nicht subsumtiv gemeint war, wohl aber so, dass die einen für Krieg und Polizei, die andern für Frieden und Vermittlung zuständig waren – vertraute, noch bis vor kurzem wirksame Geschlechtsrollen. Ob selbst die römischen Konsuln von solchen Zuschreibungen vielleicht nicht ganz frei waren, ist sicher noch nie untersucht worden, die Untersuchung wäre aber nicht uninteressant, zumal sich Einzelfälle wie der „Cunctator“ (Zögerer) unter den beiden Konsuln, die Hannibal in Italien militärisch bekämpften – sein Kollege wollte unbedingt angreifen und verlor – der Erinnerung sofort aufdrängen.

Das Vetorecht der altrömischen Dualseiten gegeneinander, das uns im Rückblick so besonders merkwürdig erscheint, dürfte sehr viel verständlicher werden, wenn man es nicht negativ sondern positiv fasst: Es muss gar nicht als Möglichkeit, den politischen Prozess zu blockieren, verstanden werden, wie es uns heute naheliegt unter völlig veränderten Verhältnissen, indem wir an Wechselblockaden wie zwischen Bundesregierung und Bundesrat denken; es kann auch, wenigstens der Herkunft nach, als Spur der Konsensverfassung vorstaatlicher Gesellschaften betrachtet werden. Dass in diesen ein „Zwang“ zum Konsens wirkte, wird in Egon Flaigs nützlichem Buch (Die Mehrheitsentscheidung, a.a.O.) mit Recht hervorgehoben. Man darf Flaigs Exempeln und Interpretationen aber hinzufügen, dass auch der Konsens auf die Strukturen der Verwandtschaft verweist: Dass die Lebenden von den Toten nicht bekriegt wurden, war ein Grundanliegen, das vermittelt über die Metaphorik des Mann-Frau-Verhältnisses auf die ganze Gesellschaftsverfassung einwirkte. Die Alternative zum Krieg, den die Lebenden verlieren würden, weil nur sie vom Tod bedroht waren, war aber einzig der Konsens mit den Toten. Der konnte dadurch hergestellt werden, dass man eine Beerdigung durch Wettspiele feierte, die unbedingt unentschieden ausgehen mussten; Lévi-Strauss berichtet von einem Ballspiel zweier Mannschaften, deren eine die Toten repräsentierte, das aus diesem Grund etliche Tage dauerte. Bei Flaig lesen wir, dass auch der Wille, im Ratschlag den Konsens herbeizuführen, extrem lange Beratungen zur Folge haben konnte. Das ist denn auch der wichtigste Zug: „Metaphorisches Wählen“ ist Konsenswählen (was natürlich nicht heißt, dass auch die Umkehrung immer gilt).

Oben-unten-Verhältnisse im Sinn des subsumtiven Diskurses gab es noch nicht, vielmehr standen Oben und Unten, wir sahen es schon, genauso im etwas ungleichen Gleichgewicht wie alle andern Duale auch. Auch wo ein Ältestenrat entschied – der römische „Senat“ war trotz der Bezeichnung keiner mehr, vielmehr, wie gesagt, eine Körperschaft gewesener Magistrate aus der herrschenden Klasse -, bedeutete das nur, dass das Mitreden auf ein bestimmtes Alter beschränkt war, in welches jeder Mann einmal kam. Am Ältestenrat, der über den vom ihm gewählten Häuptlingen stand – manchmal einem Kriegs- und einem Friedenshäuptling nebeneinander – nahmen so gesehen alle Männer teil, und es gab keine Trennung des Fragenaufwerfens vom Beantworten in ihm. Die Unterscheidung aber von Ältesten und Nichtältesten war eine Art, und wohl von allem, was bekannt geworden ist, noch die beste, mit dem Kompetenzgefälle in einer Gesellschaft fertig zu werden. Alle Männer wirkten beim Fragenaufwerfen mit, dies aber erst im Alter; unter der Bedingung, dass es traditionale Gesellschaften waren, in denen niemand, kein Mann jedenfalls, Neuerungen anstrebte, kann tatsächlich gesagt werden, dass vorher die Fähigkeit zu sehr gefehlt hätte.

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Es sind auch Fälle überliefert, wo unabhängig vom Alter der ganze Stamm berät und entscheidet, wie weit sie aber verallgemeinerbar sind, wird in Flaigs Darstellung nicht durchsichtig. Den Fall, den er exemplarisch berichtet, eine Stammesversammlung der Thembu in Südafrika, hat Nelson Mandela überliefert und selbst noch erlebt. Haben da schon moderne Vorstellungen eingewirkt? Ich führe ihn aber deshalb an, weil seine sehr unterschiedliche Bewertung durch Mandela und Flaig den Unterschied der Diskurse illustriert. Für Mandela stellt es sich so dar, dass er fast traumhaft demokratische Verhältnisse erlebte: „Es sprach jeder, der sprechen wollte. Das war Demokratie in ihrer reinsten Form. […] Die Leute sprachen, ohne unterbrochen zu werden; und die Treffen dauerten viele Stunden. Grundlage der Selbstregierung war, dass alle Männer ihre Meinungen offen vortragen konnten und in ihrem Wert als Bürger alle gleich waren. (Frauen wurden bedauerlicherweise als Bürger zweiter Klasse eingestuft.)“ (zitiert S. 46 f.) Flaig indes bewertet anders: Dass es Stunden dauert, weil jedenfalls der Konsens erreicht werden muss, und im ungünstigsten Fall Tage dauern kann, erscheint ihm als von der Mehrheitsregel erübrigte Zeitverschwendung. Als “entscheidende[s] Merkmal der Demokratie“ gilt auch ihm „die politische Gleichheit aller Partizipanten“, die aber sieht er nur im gleichberechtigten „Abstimmen“ für gegeben an.

Dafür, dass Abstimmende, die nur Fragen beantworten, aber nicht selber stellen, weil sie eben nicht gleichberechtigt mitberaten, auch dadurch nicht gleichberechtigt werden, dass sie eine Mehrheit herbeiführen können, fehlt ihm der Blick. Dafür unterstellen er und die von ihm zitierten Autoren, dass die archaische Konsensherbeiführung weiter nichts als Druck auf Minderheiten sei, sich der Einheit nicht zu entziehen. Das wird auch so sein, nur sollte man bedenken, dass fürs „metaphorische Wählen“ auch Mehrheit und Minderheit weiter nichts als ein Dual sind, das den Unterschied von Leben und Tod repräsentiert: Niemand konnte wollen, dass es bestehen blieb, weil dann ein tödlicher Ausgang zu erwarten wäre, erst nur auf der symbolischen Ebene, dann aber auch real.

Ich wies schon darauf hin, dass im Zentrum des Flaigschen Buchs die attische Demokratie steht, die er einschließlich aller fatalen Volksentscheide verteidigt, wobei ihn der davon untrennbare Kriegskontext – untrennbar, weil der Händlerstaat seine Bürger als Soldaten brauchte und ihnen das demokratische Zugeständnis machen musste – nicht im Mindesten stört. „Unter jeder Verfassung hätte ähnliches passieren können“, ist sein Kommentar dazu, dass die Volksversammlung den demokratischen Aristokraten Alkibiades zum Mitstrategen der sizilianischen Expedition wählte, die unter seiner Führung erfolgreich ausgegangen wäre, um ihn dann von der Überfahrt weg unter Anklage zu stellen und zurückzurufen (S. 250). Alkibiades hatte das geahnt und wollte die unbegründete Anklage vorher durchstehen, was seine Gegner aber zu verhindern wussten. Diese Gegner waren nichtdemokratische Aristokraten, und wohl mit Recht sieht Gustav Droysen, der große Historiker des 19. Jahrhunderts, eine gegen die Demokratie überhaupt gerichtete Intrige darin. Die Hoffnung der Gegner war, dass der Sturz des Alkibiades die Niederlage im Krieg und darüber vermittelt den Sturz der Volksherrschaft zur Folge haben würde. Jedenfalls der erste Teil des mutmaßlichen Programms wurde auch erreicht. Denn statt sich zurückrufen zu lassen, ging Alkibiades zum Feind über, zu Sparta, und lehrte ihn Athen zu besiegen, während die sizilianische Expedition ohne seine Führung zur Niederlage mit katastrophalen Verlusten wurde, von der sich Athen nie mehr erholte. Wie so ein Fall – und es ist nicht der einzige – in beliebigen Verfassungen sich soll abspielen können, ist mir schleierhaft. Es war aber immer das Volk selber, das sich, stolz auf sein „Abstimmen“, zu den Absurditäten überreden ließ.

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Kommen wir nun zur diskursiven Überlagerung unserer, der modernen demokratischen Wahl, die, wie gezeigt, zugleich auch immer noch „subsumtive“ Wahl ist, also Herrschende über Beherrschte setzt. Es ist dieser subsumtive Charakter, von dem ich sage, dass er durch andere Diskurse überlagert ist – wobei wir uns später werden fragen müssen, ob man nicht umgekehrt sagen sollte, dass inzwischen dies Subsumtive, auch wenn es unser Bewusstsein noch bestimmt, zur bloßen Überlagerung eines noch viel mächtigeren Diskurses wurde. Zunächst allerdings geht es weiter um den metaphorischen Diskurs, der nicht wieder mächtig geworden, wohl aber noch vorhanden ist. Und mehr noch, er  s c h e i n t  uns mächtig, obwohl er es nicht ist. Ich spreche von der Einrichtung, dass wir im Glauben, wir brächten entweder „die Linken“ oder „die Rechten“ zur Regierungsmacht, die Wahllokale aufsuchen.

Die Rechts-links-Dichotomie ist ein Dual wie senatus populusque, hat dieselben Eigenschaften und dieselbe Herkunft: eine Machtteilung in zwei gleichgewichtige Faktoren, von denen sich der eine als etwas stärker erweist, was ausreicht, ihm immer die Übermacht zu erhalten – eine Übermacht in der Scheinmacht der bloßen Überlagerung -, welche Konstellation ihr Vorbild noch immer im Verhältnis der Gatten, von Mann und Frau hat. Dass „links“ und „rechts“ schon in vorstaatlichen Gesellschaften zu den Bezeichnungen des annähernden Gleichgewichts zweier Dorfhälften gehörte, habe ich anderswo, Claude Lévi-Strauss folgend, ausführlicher dargestellt (Gender und Parteiensystem. Links-rechts – Das Problem der falschen Fronten, Frankfurt/M. 2015). Es ist eine Dichotomie, die mit jenen andern, die ebenfalls Dolfhälften bezeichnen und oben schon genannt wurden, in einer Metaphernkette steht und von ihr her sich erhellt: Für Krieg ist der mythische Mann zuständig und führt seine Sache zuende, für Frieden die mythische Frau, die auch aufgeben darf. Das sind Zuschreibungen, die auch heute noch, wie es scheint, den „Rechten“ und „Linken“ in Fleisch und Blut sitzen.

Nicht zuletzt dass Wahlen so häufig, und fast immer, wenn Wichtiges zur Wahl steht, ungefähr fifty-fifty ausgehen, ist eine Spur des Gender-Verhältnisses. Zuletzt wieder in den USA: Trump erhielt 47,5 Prozent, Clinton 47,7 Prozent der Stimmen. Nur weil ein US-Präsident mehr von den Bundesstaaten als von den Individuen gewählt wird („winner takes all“-Prinzip), konnte Trump die Wahl gewinnen. Aber schon an den Namen „links“ und „rechts“ kann praktisch alles abgelesen werden. Denn das Erste, was sie bezeichnen, ist das Verhältnis der Körperhälften, die annähernd, aber nur annähernd gleich sind (die rechte Hand ist wie die linke und doch unterscheidet sich der Rechtshänder vom Linkshänder). Außerdem kommt „rechts“ vom Rechten, Richtigen, „links“ von link, das heißt falsch, und hier gehört sogar das Hinken, womit sich der Teufel ausweist, zur Etymologie. Lassen wir uns wirklich von all diesem Unsinn, der ins Archaischste zurückreicht, bestimmen? Man möchte es nicht glauben.

Eine Erklärung für den Widerspruch, dass wir in der Moderne archaisch wählen, fällt aber marxistisch nicht schwer. Die Familie sei „Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft“, so Friedrich Engels, und weiter: Der Gatte verhält sich zur Gattin wie der Kapitalist zum Arbeiter. Die kapitalistische Ideologie spielt das Familiare in den Vordergrund, um sich hinter einem Gegensatz zu verstecken, der weniger brisant erscheint als der sozialökonomische Antagonismus. Als Engels schrieb, war die Rechts-links-Codierung in den Parlamenten noch gar nicht zur Reife entwickelt. Ein paar Jahrzehnte später war es in Italien so weit: Die Bourgeoisie, schrieb Antonio Gramsci, unterstützt abwechselnd mal die linke, mal die rechte Seite des Parlaments und spielt sie so oder so, nach dem Motto „divide et impera“, gegeneinander aus; sorgt dafür, dass die Parlamentshälften sich um alles Mögliche streiten, nie aber die Bourgeoisie angreifen. Und mit der einzig „antagonistischen Partei“, sprich der kommunistischen, arbeitet sie niemals zusammen. Sie mag seinerzeit in Italien wirklich so absichtsvoll agiert haben, doch ist die Absicht nicht entscheidend, da das Parteiensystem, wenn es einmal voll ausgebildet ist, von selbst so funktioniert. Dies eben deshalb, weil die Einsichten von Engels und von Gramsci zusammengehören: Dass es überhaupt im Parlament zwei Hälften und nur genau zwei Hälften gibt, eine rechte und eine linke, ist eine Folge davon, dass sich das Familiare darin spiegelt; man muss sie gar nicht von außen gegeneinander ausspielen, denn das tun sie schon selbst, wie sich auch gewöhnliche Gatten gern zanken; zugleich ist solcher Zank unernst genug, den wahren Antagonismus zu verschleiern.

Wir haben es mit einer dreifachen Metaphorisierung zu tun: Auf das Kapitalverhältnis bildet das Rechts-links- wie auch das Mann-Frau-Verhältnis eine Metapher und beide metaphorisieren sich noch wechselseitig. Dies führt zu einem Wählen, das ziemlich determiniert ist, so formell „frei“ es auch daherkommt. Selbst wenn es den Unterschied von Deliberation und bloßer Abstimmung nicht gäbe, der das subsumtive Wählen schon für sich genommen unfrei macht, liegt allein in der metaphorischen Hälftenwahl eine Zwangshaftigkeit, die dadurch nicht kleiner ist, dass sie gar nicht bewusst wird. Was veranlasst 30 Millionen Wahlberechtigte, sich gegen andere 30 Millionen zu positionieren? Zum Kapital verhalten sich beide Hälften „subaltern“, wie Gramsci betonte. In den USA ist das noch offensichtlicher als in Deutschland, aber ist es nicht auch in Deutschland offensichtlich? Marx hatte sich vorgestellt, ein kleines Häuflein Kapitalisten würden sich einst der Masse der Ausgebeuteten gegenübersehen und ihr natürlich unterliegen; das Parlament, schrieb er auch, könnte der Hebel sein; doch die Masse spaltet sich stattdessen.

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Die Rechts-links-Opposition ist kein bewusst eingesetztes Instrument der Kapitalisten: Wenn das nicht ohnehin klar wäre, könnte man es auch daraus ersehen, dass sie mit der Zeit immer weniger  i m  I n t e r e s s e  der Kapitalisten funktioniert. Denn fortschreitend hört sie auf, als Gegensatz zu erscheinen, und mutiert vielmehr zum Nebeneinander der Seiten einer Gleichung. Aus links gegen rechts wird links = rechts. Wenn links = rechts, sind die Seiten immer noch verschieden, wie 7 + 5 von 12; die linke Seite muss sich erst noch zusammenzählen, während die rechte von Beginn an bei sich selber ist. Ungeachtet dessen sind sie kein Gegensatz, sondern das Gleiche. Wenn sie aber das Gleiche sind, verhüllen sie den Antagonismus des Kapitals nicht mehr. Diese Entwicklung kann nicht verhindert werden, weil sich hier der eigene Diskurs des Kapitals zur Geltung bringt – der Angleichungsdiskurs. Mit diesem Diskurs steht und fällt die kapitalistische Ökonomie und deshalb die ganze kapitalistische Gesellschaft. In der sind auch andere Diskurse wirksam, er aber hat die Dominanz.

Selbst wenn das Kapital den metaphorischen Rechts-links-Gegensatz absichtsvoll eingesetzt hätte, könnte es doch den eigenen Trieb nicht zurückhalten, der nun eben angleicht statt zu metaphorisieren. Wie das geschieht, war gerade in Deutschland mustergültig zu beobachten, und ich möchte hier einfach aus einer früheren Veröffentlichung zitieren. Nehmen wir die Soziale Marktwirtschaft:

„Am Anfang setzt Ludwig Erhard der SPD eine Grenze, indem er auf den Realen Sozialismus mit  J a ,  a b e r  n i c h t  s o !  reagiert (Sozialismus ja, aber ohne Staatskommando). Die SPD antwortet mit  J a ,  a b e r  a u c h  d a s !  (Soziale Marktwirtschaft ja, aber auch Planelemente). Auf die neue SPD-Position wendet die CDU ihre Formel erneut an (Finanzplanung ja, aber ohne Staatsverschuldung). Das Ergebnis wird von der SPD genauso behandelt (Ende der keynesianischen Staatsintervention ja, aber auch den Arbeitslosen helfen, nun durch ‚Teilen in der Klasse‘). Und so weiter. Der Spielraum wird von  J a ,  a b e r !  zu   J a ,  a b e r !  immer enger, doch die Formeln können unendlich appliziert werden. Das ist die Mathematik der Angleichung: Wenn x die sozialdemokratische, y die christdemokratische Position bedeutet, kommt es zu der Kette

x1 ja, aber nicht so   = y1 <=>
y1 ja, aber auch das = x2 <=>
x2 ja, aber nicht so  = y2 <=>
…                                      <=>
xn                                      =   yn.

So geht An-Gleichung in Gleichung über. Das ist inzwischen geschehen. Der gegenwärtige sozialdemokratische Regierungschef {Gerhard Schröder} meint, dass Wirtschaftspolitik nicht rechts oder links, sondern nur modern oder unmodern sein könne, und verhält sich insofern danach, als er die gleiche Politik macht wie sein christdemokratischer Amtsvorgänger. Die Gleichung wird durch […] Metaphernketten […] nicht mehr unterbrochen. Helmut Kohl und Oskar Lafontaine waren die letzten, die sie noch fortspannen. Lafontaine wollte noch ‚etwas herausholen‘“

– mit dieser Wendung, die in der politischen Sprache geläufig ist, spiele ich darauf an, dass auch der archaische „Trickster“, Schamane zum Beispiel, zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten hin- und herpendelt, um etwa Regen in der Dürre „herauszuholen“, der dort zurückgehalten wird -,

„aber Gerhard Schröder zwang ihn mit den Worten, dieses Land könne ‚nicht gegen die Wirtschaft regiert werden‘, zum Rücktritt. Kohl musste als Parteichef zurücktreten, als seine Spendenaffäre ruchbar geworden war. Sie war in seinen Augen kein Verbrechen, hatte er das Geld doch nur zum Kampf gegen die PDS einsetzen wollen, damit diese schlecht getarnten Teufel nicht im östlichen Totenreich erstarken und dann in den Westen einbrechen konnten. Kohls Generalsekretär Hintze hatte diese Wesen, die so taten, als ob sie nicht tot wären, immer wieder entlarvt: Trugen sie nicht ‚rote Socken‘, liefen sie nicht, anders gesagt, mit zwei nackten Füßen im Feuer umher?“ (Gender und Parteiensystem, a.a.O., S. 280 ff., der erste Teil seinerseits zitert aus Verf., Probleme und Perspektiven der Berliner Republik, Münster 1999, S. 29)

– wie das Totenreich eine aus Mythen und Märchen wohlbekannte Metapher, die nun in der kalten Morgenröte der Angleichung verdämmert. Denn während richtig Toten beide Füße verbrannt waren, behielt der Trickster einen unbeschädigten Fuß, zahlte aber mit dem beschädigten für seine Totenbesuche, das heißt er hinkte – ein Thema bei Ginzburg, a.a.O. -, was, wie gesagt, in die Etymologie des Linksseins einging.

Auch das Mann-Frau-Verhältnis ist zunehmend weniger in mythisch-metaphorischer Weise ausgelebt worden und das allein könnte als Faktor, weshalb es zur Nivellierung des sich darauf stützenden Gegensatzes der Parteiblöcke kommen muss, angeführt werden; aber wenn man fragt,  w a r u m  dies Verhältnis um so viel nüchterner geworden ist, wird man wiederum auf die von der kapitalistischen Ökonomie ausgehende Angleichungstendenz verwiesen.