(150) Subsumtives Wählen in Rom, Athen und der Bundesrepublik

1. Proportionwahlen und präsentative Demokratie / Sechster Teil - Retractationes

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Die zuletzt bemerkte Grundstruktur der Trennung von Frage- und Antwortgenesis – eine kleine Minderheit stellt Fragen, die große Mehrheit nimmt nur antwortend teil – zieht sich durch eine Unmenge historischer Ausgestaltungen. Die deutsche parlamentarische Bundesrepublik fällt darunter, aber ebenso schon die antike römische Republik. Dass in Rom geherrscht wurde – über die Sklaven und Frauen sowieso, aber auch über die männlichen Bürger -, ist klar und war auch den Zeitgenossen nicht verborgen. Es drückte sich ja in der allgegenwärtigen Formel aus: senatus populusque. Der Senat wog so viel wie das Volk und stand an erster Stelle. Er herrschte. Das Volk herrschte auch, aber anders und weniger. Die Herrschaft des Senats bestand genau darin, dass in diesem Gremium und nur dort die Fragestellung jeder Wahl erwogen wurde. Am Beginn einer Senatssitzung wurde sie von einem der beiden Konsuln vorgegeben – die Konsuln hatten das alleinige Recht, dem Senat zu präsidieren – und während dann alle Senatoren nacheinander ihr Votum abgaben, konnte es geschehen, dass einer die Frage des Konsuls verschob und am Ende über die verschobene Frage abgestimmt wurde.

Ich will das veranschaulichen. Bei einer Befragung 63 v. Chr., wo es um die Bedrohung der römischen Ordnung durch Catilina ging (vgl. Plutarch, Große Griechen und Römer Bd. 5, München 1980, S. 107 ff.), hatte wie immer der Redner, der als Würdigster galt und die Debatte deshalb eröffnete, besonders viel Einfluss. Er forderte die Todesstrafe für Catilina und dessen Anhänger Lentulus und Cethegus. In festgelegter Ordnung hatten sich nun die anderen Senatoren zu äußern, und jeder schloß sich dem Vorredner an. Man wundert sich nicht, denn Catilina stand mit Heeresmacht vor der Stadt und war im Begriff, sie zu überfallen. Als die Befragung indes bei einem Senator namens Caesar ankam, schlug dieser vor, Lentulus und Cethegus vielmehr außerhalb Roms in sicheren Städten gefangen zu halten, bis Catilinas Bande niedergeworfen sei: Danach könne man ein ordentliches Gerichtsverfahren gegen diese Männer anstrengen, die das doch verdient hätten, weil sie von edlem Geschlecht seien. Er hatte die Fragestellung gedreht: Nicht mehr wie „Rom gerettet“ werden könne, sondern was rechtmäßig sei, fragte der spätere Diktator. Kaum kann ein Zweifel daran bestehen, dass er mit den Verschwörern unter einer Decke steckte, auch wenn es niemals gelang, ihm das nachzuweisen. Sein Votum führte aber zum Umschwung: „Der Antrag schien so menschenfreundlich und war so geschickt begründet, dass ihm alle beipflichteten, welche nach Caesar ihre Stimme abgaben, ja eine ganze Anzahl von Senatoren, die sich schon geäußert hatten, widerriefen ihre Meinung und traten auf seine Seite – bis Cato und Catulus zum Worte kamen.“ (S. 108) Cato sprach es aus, dass Caesar selbst verdächtig sei, und erreichte den zweiten Umschwung, die Rückkehr zur ersten Frage: Bei der Endabstimmung wurde die Todesstrafe beschlossen.

In dieser Weise gingen auch Beratungen vonstatten, die in einer dem Volk vorzulegenden Gesetzesvorlage mündeten. Die Abstimmung im Senat selber führte formell bloß zu einer Empfehlung, doch hatte sie großes Gewicht. Das Volk, das nur Ja oder Nein dazu sagen konnte, sagte meistens Ja. Wenn es Nein sagte, hatte es die Frage nur an den Senat zurückverwiesen. Obwohl sich das Volk sogenannte Tribunen erkämpft hatte, die in Wahrnehmung seiner Interessen ihr Veto gegen Senatsempfehlungen einlegen konnten, blieb das Ganze bis zur Auflösungszeit der Republik eindeutig eine Adelsherrschaft – deshalb auch, weil die Tribunen selber dem Adel angehörten und Senatsmitglieder waren -, Herrschaft der alten Familien der Großgrundbesitzer, ausgeübt durch solche Mitglieder dieser Familien, die im Magistrat Karriere gemacht hatten, welche Karriere auf den Sitz im Senat hinauslief.

Die Bedingung solcher Herrschaft war, dass der Adel zusammenhielt und seine jeweilige Minderheit sich der Mehrheit unterordnete, so dass er immer geschlossen vors Volk trat, selbst dann noch, wenn er ihm eine Empfehlungsalternative bot, was bei der Besetzung der Ämter regelmäßig der Fall war. Erst seit dem Tribunat des Tiberius Sempronus Gracchus um 133 v. Chr. war die Bedingung nicht mehr gegeben. Von da an wandte sich zunehmend eine Adelspartei ans Volk, um mit dessen Hilfe die andere zu bekämpfen, und je mehr sich dieser Kampf der „Popularen“ und „Optimaten“ hochschaukelte, desto mehr wurde der Senat als Entscheidungsort in Frage gestellt und entwickelte sich der offene Bürgerkrieg, wo Figuren wie Catilina ihre Stunde hatten. Am Ende verbündeten sich einzelne Adlige in ihrer Eigenschaft als amtliche, vom Senat selbst eingesetzte Heerführer gegen diesen und schalteten ihn praktisch aus; aus ihren „Triumviraten“ ging zuletzt der sogenannte Prinzipat als neue politische Verfassung hervor, das ist die Alleinherrschaft eines „Ersten“ (Princeps), zunächst des Augustus, dann seiner Familienerben, dann irgendwelcher anderen Caesaren, die immer zugleich Militärführer waren.

Das skizzierte einfache Verhältnis – der Senat bildet Fragen heraus, das Volk sagt Ja oder Nein – kompliziert sich im Einzelnen durch Züge, die nur noch vom historischem Interesse sind. So dass es mehrere Volkskörper (Comitien) gab, die je nach Materie getrennt abstimmten. Dabei war das mächtigste Comitium faktisch nach einem Zensuswahlrecht zusammengesetzt. Theoretisch konnte aber auch jenes Comitium, das nur aus Plebejern bestand, Gesetze beschließen oder ablehnen, wenn ein Tribun sie ihnen vorlegte. So hielt es jener Tiberius Gracchus. Sein Gesetzentwurf sah vor, dem Adel Land zu entziehen, das er sich widerrechtlich angeeignet hatte, und es unter die Plebejer zu verteilen. Dagegen legte ein anderer Tribun, der mit der reaktionären Senatsmehrheit zusammenarbeitete, sein Veto ein; Tribunen konnten das nämlich auch gegeneinander tun, wie ebenso die Konsuln. Tiberius indessen argumentierte, das Vetorecht auszuüben sei dann nicht rechtlich, wenn ein Tribun sich damit gegen ein im Interesse des Volkes vorgelegtes Gesetz wende, denn Tribunen gebe es ja überhaupt nur zur Stärkung, nicht zur Schwächung der Volksinteressen. Er legte sein Gesetz dem Volk also vor, das Volk beschloss es und so war es gültig. Sein Argument war plausibel, was er aber tat, war ein klassischer revolutionärer Schritt und so war hiermit der Bürgerkrieg eröffnet, wie sich schon bald darin zeigte, dass der Senat den unbequemen Mann ermorden ließ und das Gesetz rückgängig machte.

Wenn ich sagte, dass diese Herrschaftsstruktur und „subsumtive“ Anordnung noch mit gewissen Zügen einer vorausgegangenen Verfassung überlagert ist, so denke ich etwa an die Einteilung des wählenden Volkes in verschiedene kollektive Volkskörper; dazu hat Friedrich Engels in Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates Einiges bemerkt, das man dort nachlesen kann. Ich denke ferner an den starken Einfluss, den die Adligen als Patrone über ihre plebejische Klientel normalerweise ausübten und zwar auch da, wo das rein plebejische Comitium wählte. Das heißt da war die „Familie“, wie sie damals definiert und aus der die „metaphorisch“ sich artikulierenden Welt der „Strukturen der Verwandtschaft“ (Claude Lévi-Strauss) hervorgegangen war, noch ein wichtiger Faktor. Der Einfluss wurde so ausgeübt, dass die Patrone sich neben die herauf- und herabführende Treppe stellten, auf deren Scheitel jeder Plebejer nacheinander einzeln und offen seine Stimme abzugeben hatte; in der Regel wagte er es nicht, seinem Patron die Stirn zu bieten.

Weiter ist die merkwürdige Doppelstruktur dieser Verfassung ein „metaphorisches“ Überbleibsel: zwei Konsuln, Konsuln und Tribune, senatus populusque. Jedesmal so, dass sich beide Seiten einigen müssen, wobei es auch typisch ist, dass beim grundlegenden Dual, dem von senatus und populus, die eine Seite etwas schwächer dasteht als die andere und sich der Senat also immer durchsetzt. Damit ist auch schon aufs Wichtigste verwiesen, das Konsensprinzip nämlich in der noch funktionierenden Republik. Es dient hier zwar vor allem der Selbstbehauptung des Adels gegen das Volk, kann aber auch, wie wir noch sehen werden, als Überbleibsel des zentralen Verfassungsprinzips aus einer Zeit, wo es einen Adel noch gar nicht gab, interpretiert werden. Im Moment sollte nur darauf hingewiesen werden, dass das antik-römische „subsumtive Wählen“ von einem anderen, nicht-subsumtiven Diskurs überlagert war. So erweist sich auch unser heutiges Wählen, zu dem ich nun übergehe, als überlagertes. Immer noch spielt der metaphorische Diskurs eine Rolle, daneben aber, und vor allem, der Angleichungsdiskurs, den es im alten Rom noch nicht gab. Auch davon abstrahiere ich zunächst, um erst einmal nur zu fragen, wie das „subsumtive Wählen“ als solches heute funktioniert.

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Das grundsätzliche Prinzip des „subsumtiven Wählens“, wie wir es in der antiken römischen Republik gefunden und an ihr betrachtet haben, liegt dem parlamentarischen Wählen in der Bundesrepublik Deutschland immer noch zugrunde. Es ist immer noch so, dass qua Verfassung eine Minderheit die Fragen stellt und die Mehrheit nur das Recht hat, sie so, wie sie gestellt sind, zu beantworten. Und doch ist natürlich Vieles völlig verändert. Zum Besseren? Ich würde sagen, ja. Denn erstens muss sich die fragenaufwerfende Minderheit von denen, die nur antworten können, ihrerseits wählen lassen, während der altrömische Senat nicht vom Volk gewählt wurde. Zweitens besteht die Minderheit nicht wie in Rom (und auch nicht wie in den USA) aus den höheren ökonomischen Klassen, sondern ist aus Mitgliedern aller Klassen zusammengesetzt. Das dritte betrifft eine Dimension, die ich bisher noch gar nicht angesprochen habe: Die Fähigkeit, Fragen aufzuwerfen, zu prüfen, zu verändern, ist im heutigen „Volk“ verglichen mit dem altrömischen stark gestiegen, auch wenn sie noch kaum zur Geltung gebracht werden kann.

Ich will dies Dritte, weil es hier erstmals auftaucht, zunächst einmal erklären: Die beschriebene Anordnung, dass die Einen nur antworten und die Andern über die Fragen entscheiden, war historisch auch deshalb so haltbar, weil die Meisten mit der Beratung verschiedener Fragemöglichkeiten überfordert gewesen wären. Wenn wir eine Gesellschaft ohne Herrschaft wollen, kann das aber nur eine sein, in der alle unterschiedslos sowohl die besten Fragen aufwerfen wie auch sie beantworten können. Nur dann nämlich bräuchte kein Unterschied von Herrschenden und Beherrschten mehr zu sein. Solange das nicht erreicht ist, könnte das Optimum nur darin bestehen, dass die Herrschenden Fragen aufwerfen, die „im Interesse“ der Beherrschten gestellt sind. Angesehen davon aber, dass eine Realisierung dieses Optimums schwer vorstellbar ist, weil Herrschende stets auch ihre Sonderinteressen ins Spiel bringen, hätte man es jedenfalls selbst dann, wenn das nicht geschähe, immer noch mit einer „subsumtiven“ Verfassung zu tun, einer Herrschaftsverfassung. Es scheint ja, dass wir heute von der Kompetenz aller im Fragenaufwerfen nicht mehr weit entfernt sind. Das ist ermutigend. Auf dem Weg zur Anderen Gesellschaft wäre natürlich gerade diese Fähigkeit zu fördern. Doch gibt es auch eine Gegentendenz: Das Internet scheint geeignet, das Fragen und Antworten den „Usern“ eher abzugewöhnen.

Ein kurzer Exkurs zur antiken attischen Demokratie schließt sich an dieser Stelle am besten an. In der attischen Volksversammlung konnte seit Perikles nicht nur jeder freie Mann abstimmen, sondern vorher auch mitreden. Ein ausgelostes Gremium, der „Rat der 500“, bereitete die Debatten vor, und noch in ihnen selbst konnten die Fragen verändert werden. Es scheint also überhaupt keine Trennung der Antwort- von der Fragekompetenz gegeben zu haben. Faktisch bestand sie aber durchaus, weil die Adligen besser reden und überreden konnten als andere, welche Differenz durch die Rednerschule (Sophisten) dann noch systematisch gesteigert wurde. Zwar stiegen mit der Zeit auch Redner aus der Schicht der Kaufleute auf, doch als das geschah, war schon entschieden, und zwar durch die sich so teilenden Aristokraten, dass es immer, grob gesagt, eine aristokratisch-friedliche und eine demokratisch-kriegerische Strömung gab, in die sich die bürgerlichen Redner dann nur einordneten. Wie inkompetent aber das „abstimmende“ Volk war, oder wie wehrlos den geschulten Rednern ausgeliefert, ist am Verlauf des peloponnesischen Krieges, den Athen hätte gewinnen können und müssen, durch absurde Volksentscheide indes verspielte, überdeutlich abzulesen.

Die attische Verfassung wird immer wieder bemüht, wenn es darum geht, die heutigen Verhältnisse mit mehr Demokratie zu konfrontierten. Sowohl Flaig, der das „Abstimmen“ feiert und vom Konsensdruck bedroht sieht (Die Mehrheitsentscheidung, a.a.O.), als auch Reybrouck, der es abtut, weil er meint, dass ausgeloste Gremien sich besser aufs Bessere einigen können (Gegen Wahlen, a.a.O.), rekurriert aufs alte Athen. Beide aber rühren nicht an den Problemkern, der darin besteht, dass nicht alle am „Deliberieren“ beteiligt sind.

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Zurück zur Bundesrepublik. Dem Positiven, oben in drei Punkten aufgelistet, steht nun auch Vieles entgegen. Um mit dem Dritten zu beginnen: Die Fähigkeit, Fragemöglichkeiten zu beraten, und zwar auf der Ebene des Gemeinwesens, wäre gerade das, was jemanden zum Philosophen nach Platons Terminologe, zum „Intellektuellen“ in heutiger Redeweise machte. Davon, dass die ganze Bevölkerung aus Intellektuellen bestünde, kann aber auch heute noch nicht die Rede sein. Antonio Gramsci, der Mitbegründer der italienischen kommunistischen Partei, hat einst die Bedingungen des Problems durchdacht. Er ging davon aus, dass die Menschen zunächst über enge Eigeninteressen nicht hinausdenken – und dazu in einer Gesellschaft der Ausbeuter und Ausgebeuteten auch allen Grund haben -; wollen sie sich zum Regieren befähigen, reicht es nicht, dass sie ihre Gegner besiegen, sondern sie müssen im obigen Sinn Intellektuelle werden. Das Medium, das ihnen dazu verhilft, ist in Gramscis Konzept die Partei. Die Lösung kann heute nicht mehr überzeugen – wir sehen längst die Grenzen des Parteienstaats, vom Einparteienstaat zu schweigen -, aber die Problemstellung ist noch gültig.

Man braucht bloß an die Fremdenangst eines Teils unserer Bevölkerung zu denken. Man ist froh, dass die subsumtive Demokratie diese Angst wenigstens zwingt, sich überhaupt zu artikulieren, statt dass sie sich nur im Affekt und manchmal gewaltsam äußert. Das heißt, es müssen „Repräsentanten“ auftreten, die sie zu Fragestellungen rationalisieren und nolens volens zu den Fragestellungen anderer ins Verhältnis setzen. So kann sich das Gemeinwesen noch halbwegs zusammenhalten. Würden sich auch alle „Repräsentierten“ rational oder rationalisierend artikulieren können und überhaupt wollen, wäre die Chance, zu echten Problemlösungen zu gelangen, viel größer, aber es ist nicht an dem. So ist man fast froh darüber, dass die Parlamentarier mehr Definitionsmacht haben, und wird daran erinnert, dass „Athen“ nicht zufällig der Modellcharakter verwehrt blieb. Wenn andererseits kompetente Fragen vom Volk aufgeworfen werden, wie es ja nun auch vorkommt, können sie sich nicht zur Geltung bringen, da bindende Volksentscheide nicht vorgesehen sind – in Deutschland gerade auch deshalb nicht, weil die Grundgesetzväter „völkische“ Affekte befürchteten. Kurzum: Die repräsentative ist gewiss noch nicht die wahre Demokratie – das liegt aber auch an denen, die repräsentiert werden.

Zum ersten Punkt: Die fragenaufwerfende Minderheit muss also heute gewählt werden; aber daran, dass sie die fragenaufwerfende Minderheit ist, ändert das nichts. Mehr noch, die Wahl dieser Minderheit ist nun die einzige, die es überhaupt noch gibt. Da könnte man fast sagen, das antike Rom war weiter. Auch täuscht sich heute niemand mehr darüber, dass die Minderheit sich gar nicht für diejenigen Fragen wählen lässt, die sie aufwerfen wird, wenn sie einmal gewählt ist. Lange zwar hat der Anschein bestanden: Parteien stellen sich zur Wahl mit Partei- und Wahlprogrammen, die ihre Fragestellungen enthalten. Aber wer glaubt das inzwischen noch? Niemand hat die SPD dafür gewählt, mit Hartz IV den Sozialstaat in Frage zu stellen und die Frage selbst zu beantworten, ohne Wählerbefragung, mit dessen Abbau. Niemand hat die Grünen gewählt, damit sie den Kosovokrieg mitführen. Manchmal kommt Begrüßenswertes heraus, denn ich könnte fortfahren: Niemand die CDU dafür, dass sie Flüchtlinge ins Land lässt. Aber es geht hier nicht um mich und was ich für richtig halte, sondern darum, wie unsere Verfassung funktioniert. Die Parteien tun inzwischen kaum noch so, als wollten sie für die Fragestellungen ihrer Wahlprogramme geradestehn, indem diese vielmehr um sogenannte „Werte“ gruppiert werden: was ja bedeutet, dass man bloß noch eine Haltung wählt, zum Beispiel „für Gerechtigkeit“, „für Freiheit“, „für schonenden Umgang mit der Umwelt“, und es den Gewählten überlassen muss, Fragen daraus abzuleiten. Oft kommt es dann zu Fragen, die den „Werten“ eher äußerlich angeklebt als wirklich aus der Wert-Haltung hervorgegangen sind.

Und zum zweiten Punkt: Die Gewählten gehören zwar allen ökonomischen Klassen an statt nur den höheren, sind aber doch mit diesen durch Abhängigkeitsverhältnisse verbunden. Die Mechanismen sind zu bekannt, als dass ich sie hier in Erinnerung rufen müsste, und wurden auch in der Blogreihe schon erörtert. Im Übrigen, wie ebenfalls schon erwähnt, kann die parlamentarische Regierungsform damit, dass nur Angehörige der herrschenden Klasse gewählt werden, durchaus verträglich sein; in den USA sind Senat und Abgeordnetenhaus ausschließlich mit sehr reichen Bürgern besetzt. Dafür hat der US-amerikanische Kongress dann aber wirklich das Recht, sich über die aufzuwerfenden Fragen zu verständigen, und nimmt es sich auch, lässt sich nicht, wie man das vom deutschen Bundestag sagen muss, zum Erfüllungsgehilfen der Regierung erniedrigen – soll ich sagen, er habe dies Recht gerade deshalb,  w e i l  er eine Institution der ökonomisch herrschenden Klasse ganz ebenso ist, wie es im alten Rom der Senat war?

In Deutschland sind die Parlamente kein Ort, wo Fragen aufgeworfen werden. Das geschieht vielmehr in der Regierung und ihrer Bürokratie unter vielfältiger Mitwirkung der kapitalistischen Lobby. Die parlamentarische Mitwirkung beschränkt sich hauptsächlich auf die Zuarbeit der Parteiführer, die im Fall, dass sie die Regierung tragen, in diese eingebunden sind. Nun sind sie immerhin auch in ihre Parteien eingebunden und das sind große, weit in die Gesellschaft hineinreichende Arenen der Aufwerfung und Bestimmung von Fragen. Man muss das betonen, denn nicht zuletzt gerade hierin liegt ein Hauptgrund für die gestiegene demokratische Kompetenz der modernen Bevölkerungen. Man kann es auf jedem Parteitag beobachten, und auch die Delegiertenwahl zu Parteitagen ist ein mustergültiger demokratischer Prozess. Die gängige Kritik am Parteienstaat pflegt diese Tatsachen zu ignorieren. Wahr ist aber, dass Delegiertenauffassungen dann doch keinen großen Einfluss haben. Theoretisch kann jede(r) Delegierte einen Antrag stellen, es gibt aber keine Partei, die sich nicht hauptsächlich an den Anträgen ihrer Führung orientierte, und das heißt faktisch im Fall, dass es sich um eine Regierungspartei handelt, an den Anträgen von Regierenden.

Nur in den Oppositionsfraktionen verteilt sich das Fragedefinitionsrecht auf alle Abgeordneten und kommt es eher vor, dass auf Parteitagen Parteiflügel miteinander streiten, was aber damit erkauft ist, dass die Opposition aufs Regieren keinen Einfluss hat. Sie kann ja immer nur damit drohen, sie selbst werde nach der nächsten Wahl regieren, womit dann alles hier Ausgeführte von vorn begänne. Das Resümee ist trostlos: Nicht nur das Recht, Fragen aufzuwerfen, die zur Abstimmung gestellt werden, sondern sogar auch das Recht abzustimmen beschränkt sich heute auf eine viel kleinere Minderheit und ist zudem noch viel unbedeutender geworden als im alten Rom. Denn letztendlich stellt nur die Regierung Fragen, nur die Parlamente dürfen antworten und nur mit Ja bei Strafe des Untergangs der Regierung, den sie niemals riskieren.