(157) Der Weltmarkt im 16. Jahrhundert

2. Noch einmal zur Geschichte des Kapitalismus: Entstehungszeit, Aspekte des Funktionierens, Zeit der Auflösung / Sechster Teil - Retractationes

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Ich komme nun zum Werk Immanuel Wallersteins und wiederhole das bisherige Verfahren: ihn zuerst zu den Fragen sprechen zu lassen, die schon erörtert wurden – ob also gesagt werden kann, dass die Kriege der frühen Neuzeit den Kapitalismus hervorgebracht haben, und welche Rolle die Pest um 1350 bei der Beendigung des Mittelalters spielte -, um dann zu prüfen, ob sein eigener Ansatz dem, worum es in meiner Blogreihe ging, etwas hinzufügt, es bestärkt oder widerlegt. Beginnen will ich mit der Pest. Wallerstein lässt sie als wichtigen Faktor gelten, relativiert aber zugleich ihre Bedeutung und wie mir scheint zu recht. Er unterstreicht, dass mehrere Tendenzen zusammengespielt haben könnten, langfristige und kurzfristige (Das moderne Weltsystem I. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, Wien 2004 [engl. 1974], S. 46). Die Pest ist von einem Tag auf den andern nach Europa gekommen, wo sie aber auf eine bereits voll entfaltete Krise der feudalen Produktionsweise traf. Das Zusammenspiel bestand darin, dass aus der Wirtschaftskrise etwa Hungersnöte resultierten und diese die Abwehrkräfte gegen Seuchen im menschlichen Körper schwächten. Empirisch wird das dadurch belegt, „dass die Menschen gerade in den proteinproduzierenden Regionen der Pest gegenüber am widerstandsfähigsten waren“ (S. 44).

Dass ihr eine verheerende Wirtschaftskrise schon vorausgegangen war, war auch bei Jacques Le Goff zu lesen gewesen, auf den ich mich im ersten Jahr der Blogreihe gestützt hatte (vgl. die 27. Notiz): Drei Jahre Regenfluten und schlechte Ernten führen zwischen 1315 und 1318 „im ganzen Okzident zu einer fast allgemeinen Hungersnot, zum Ansteigen der landwirtschaftlichen Preise und zu erhöhter Sterblichkeit“ (Das Hochmittelalter, Frankfurt/M. 1965, S. 285). Die Grenzen der Dreifelderwirtschaft treten hervor: „in Mitteldeutschland beginnen die Wüstungen“; die Gefahr zeigt sich, „dass die Wälder zurückgehen“; durch Bewaldung nicht mehr geschützt, sind die Ackerböden bedroht. Die dem Anbau vorbehaltenen Flächen können nicht noch weiter eingeschränkt werden, so dass „die Ernährung des Viehs mit der wichtigeren des Menschen unvereinbar“ wird. (S. 277 f.) Dann kommt also noch die Pest dazu, eingeschleppt aus Zentralasien. Die vorausgegangene Wirtschaftskrise aber dürfte wesentlich von der Kleinen Eiszeit mitverschuldet gewesen sein, die damals begann und bis ins 18. Jahrhundert hinein andauerte; Historiker machen sie heute auch für die Französische Revolution mitverantwortlich. Den Anteil des Klimawandels betont auch Wallerstein, er wird unterstrichen von der Ausbreitung der Pest über Europa, Asien und Afrika (vgl. WBG Weltgeschichte Bd. IV, 2. Aufl. Darmstadt 2015, S. 122). Sie ist offenbar  ü b e r a l l  auf geschwächte Abwehrkräfte gestoßen, was für die Ursächlichkeit des Klimawandels spricht – wahrscheinlich auch in den Teilen der Welt, die den Europäern damals noch unbekannt waren.

Kommen wir nun auf die europäischen Kriege zurück. Haben sie den Kapitalismus begründet? Darauf finden wir bei Wallerstein keine einfache Antwort. Wer ihm folgt, muss die Frage zerlegen: Hat der stark erhöhte Geldumlauf, den die Kriege verursachten, die Entstehung des Kapitalismus begünstigt? Das ist die Teilfrage, die von Robert Kurz bejaht wird. Wenn ja oder wenn nein, können sie die Entstehung des Kapitalismus (auch) auf andere Art begünstigt haben? Die Antwort, die Wallerstein der ersten Teilfrage erteilt, entspricht den Antworten, die sich bei Parker und Zinn abzeichnen, ist aber erschöpfender und wohl auch deutlicher. „Die Krone“, setzt er ein, „brauchte für den Aufbau einer Staatsmaschinerie Geld und besaß genug Staatsmaschinerie, das Geld zu bekommen.“ (a.a.O., S. 202) Er sieht nicht Staaten, die Krieg führen und dafür Geld brauchen, sondern umgekehrt: „Wahrscheinlich lag der wichtigste Gebrauch, zu dem das monetäre Surplus genommen wurde, […] in der Schaffung von stehenden Heeren.“ (S. 203) Das heißt, die Staaten treiben Geld für sich selber als Staaten auf. Bei der Frage, ob der Kapitalismus entsteht, weil Staaten Kriege führen, geht es genau genommen weniger um die ursächliche Rolle der Kriege als um diejenige der Staaten. Bei den Kriegen selber ist dann davon auszugehen, dass Kriege rein für sich genommen immer kontraproduktiv sind,  g e w o n n e n e  Kriege jedoch zur Vermehrung oder Absicherung staatlichen und damit auch gesellschaftlichen Reichtums führen können.

Die „Söldner“ wurden in der ersten Zeit nicht direkt von den Staaten rekrutiert, sondern der Staat „schloss […] Verträge mit ‚militärischen Unternehmern‘, die nach Profit strebten“. Und dies „ist ein weiteres Beweisstück in der Frage, wie die Staatenbildung den Aufstieg des Kapitalismus beeinflusste. Zumindest hat kurzfristig, in einer Gesellschaft, wo chronisch die Ressourcen nur zu einem geringen Grad genutzt werden, die Erhöhung der Militärausgaben auch anderweitige Mehrproduktion in Gang gesetzt, so dass in Kriegszeiten die Summe des Surplus anstieg. Doch waren in dem Militärunternehmen mehr als nur Handel und Produktion beteiligt. Das System war außerdem noch kreditschaffend.“ Man beachte das Wort „kurzfristig“. Fürsten wie Militärunternehmer borgten bei den Banken, so bei den Fuggern. „Dies blieb bis zum Dreißigjährigen Krieg so.“ (S. 204) Da hatte es, wie wir gleich sehen werden, mit der „anderweitigen Mehrproduktion“ schon ein Ende.

Wallerstein spricht von der  B e e i n f l u s s u n g , nicht Verursachung des Aufstiegs des Kapitalismus durch die Staaten. Sie haben einen Freiraum geschaffen, in dem sich „militärische Unternehmer“ ausbreiten konnten. Und nicht nur Unternehmer, auch Lohnarbeiter riefen sie hervor, denn als solche sind Söldner anzusehen. Der Soldatenberuf war „ein wesentlicher Bestandteil der neuen europäischen Arbeitsteilung“. Der Krieg schuf sozusagen Arbeitsplätze und zwar sehr viele. (S. 203) Doch es bleibt dabei,  v e r u r s a c h t  kann der Kapitalismus dadurch nicht werden – nur sein Bild wird gleichsam vorausgeworfen -, da Söldner das Schulbeispiel dessen abgeben, was Marx „unproduktive Arbeit“ nennt. Das heißt, ihre Arbeit schafft keinen Mehrwert, der den Mehrwert der Gesellschaft erhöht, sondern muss von ihm abgezogen werden. Mehrwert aus produktiver Arbeit, den sich ein Staat qua Steuern angeeignet hat, wird teils direkt vernichtet, indem die Söldner ihn bloß konsumieren, teils an die Militärunternehmer weitergegeben, die ihn selbst wieder unproduktiv verwenden, indem sie etwa Waffen kaufen. Nur wenn sie ihre „Arbeiter“ zu Siegen führen, kann das den Reichtum der Länder, für die sie tätig sind, erhöhen. Der Raub des amerikanischen Goldes und Silbers hat den Reichtum Europas natürlich vermehrt, wenn auch nicht auf marktliche oder gar kapitalistische Weise. Bei Spanien jedoch blieb das Edelmetall nicht, denn Spanien war unfähig, auch die innereuropäischen Kriege siegreich zu bestehen.

Nun zum Schicksal der „anderweitigen Mehrproduktion“: „Wenn Karl V. und seine Nachfolger nicht zahlungsfähig waren, konnten die Fugger nicht verdienen.“ (S. 253) Sie gingen unter, weil Spanien unterging. „Bedrängt durch die unglaublichen finanziellen Belastungen […] mussten entweder das Reich oder die kapitalistischen Kräfte bankrott gehen. Letztere stellen sich als stärker heraus.“ (S. 255) Antwerpen im spanischen Flandern war die Kredithauptstadt gewesen, für Spanien und überhaupt. Doch als die nördlichen Niederlande den Unabhängigkeitskrieg gewannen, übernahm Amsterdam diese Rolle. (S. 262) Mit Amsterdams Hilfe werden neben den Niederlanden selbst auch England und Frankreich zu starken Staaten. In seinen Niedergang hat Spanien „alle die Teile Europas hinabgezogen, die mit seinem Aufstieg in Verbindung gestanden hatten: Norditalien, Süddeutschland, Antwerpen, Krakau, Portugal“. Die neuen starken Staaten ziehen aus dem spanischen Niedergang die Lehre: Sie versuchen, eine günstige Handelsbilanz zu behalten, „ein Begriff, der damals aufkam“ – das heißt sie werden merkantilistisch -, sorgen sich um Bruttosozialprodukt, den Anteil des Staates daran und die Verfügungsgewalt darüber. (S. 269)

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Erst Spanien, dann die Niederlande, England und Frankreich – wenn sie  n u r  m i t e i n a n d e r  Kriege geführt hätten, hätte das nichts gebracht. Es sei denn einer von ihnen hätte alle anderen geschluckt. Während der Kriege konnte Europa insgesamt nur ärmer werden. Die Frage wäre gewesen, ob sie beendet werden konnten oder nicht. Zwei Möglichkeiten hätte es gegeben: entweder einen Verlauf wie im antiken Griechenland und frühneuzeitlichen Italien.  E n d l o s e  Kriege zwischen Staaten, wie damals zwischen Stadtstaaten, hätten zunächst zur Teilung in Winner und Loser geführt, schließlich aber zur puren Verwüstung der Ökonomie aller Beteiligten. Oder eine Situation wie in China  n a c h  der „Zeit der streitenden Reiche“: Eins von ihnen setzt sich dauerhaft durch und begründet ein Imperium. Wären die europäischen Kriege auf einen imperialen Dauerfrieden hinausgelaufen, hätte sich in ihm der Reichtum der Sieger wie der Besiegten erhöht, wofür sowohl China als auch das antike römische Reich Beispiele sind. Er hätte sich aber nicht in der Weise erhöht, dass es zum Kapitalismus gekommen wäre.

Doch Spanien, die Niederlande, England und Frankreich führten nicht nur miteinander Kriege. Der Punkt ist, dass sie  z u  K o l o n i a l m ä c h t e n  w u r d e n . Was Kriege freilich voraussetzte. Aber nur weil dadurch eine Ökonomie entstand, die Wallerstein  a l s  „ W e l t s y s t e m “  bezeichnet, das ist ein Weltmarkt mit zu ihm passenden politischen Überbau, konnte Europa kapitalistisch werden.

Näher betrachtet auch deshalb, weil die Kriege  z w i s c h e n  den Mächten gerade  n i c h t  zum dauerhaften Sieg einer einzigen Macht führten, die das Weltsystem politisch in ein Imperium hätte einbetten können – wie es die Römer und Chinesen konnten, denn schon ihre Ökonomie hatte das Ausmaß von Weltsystemen. Mit  d i e s e m  politischen Überbau war eine Entwicklung zum Kapitalismus unvereinbar. Das ist ein Hauptgesichtspunkt der Wallersteinschen Theorie. Er argumentiert, dass der Kapitalismus eine entdeckte Methode ist, akkumulierten Reichtum mit nicht zu vielen politischen Kosten zu belasten. Die Kosten eines Imperiums sind recht hoch, da es alle Gebiete, auf die seine Ökonomie zugreift, direkt politisch beherrschen will. Wenn das fortfällt, braucht das Herrschaftszentrum keine Regionalregierungen in der Peripherie zu installieren. Es muss nur noch dafür sorgen, dass die Peripherie  ö k o n o m i s c h  einbezogen bleibt. Wenn es gelegentlich Militär entsenden muss, dann nur um dies sicherzustellen. Das System funktioniert aber nur, wenn solche Entsendungen der Ausnahmefall bleiben. Dafür reicht es, dass die vom Herrschaftszentrum ausgegebenen  ö k o n o m i s c h e n  R e g e l n  in der Peripherie grundsätzlich akzeptiert werden.

Der politische Überbau, den ein Weltmarkt braucht, um kapitalistisch werden und bleiben zu können, ist ein System vieler Staaten, teils solcher im ökonomischen Zentrum, teils solcher in der Peripherie, die sich nicht politisch beherrschen; einer der Staaten im Zentrum ist der ökonomische und politische „Hegemon“, setzt in dieser Funktion die Regeln und verfügt über Gewaltmittel, gravierende Regelverletzungen zu verhindern oder ungeschehen zu machen. Da wir noch heute in einem solchen System leben, fällt die Veranschaulichung nicht schwer. Die USA brauchen den Nahen Osten nicht politisch zu beherrschen, um das wertvolle Gut dieser peripheren Region, das Öl, zu erlangen; die Kosten sind also nicht so hoch, als würde sich dahin ein amerikanisches Imperium erstrecken; doch tendieren sie auch nicht gegen Null und könnten sogar unbezahlbar werden, wenn etwa die Regelverletzung, die heute im Westirak sich ereignet, aufs ganze Land und auch noch auf Saudi-Arabien übergriffe.

Ich hatte angekündigt, Wallersteins Theorie mit der von Herfried Münkler zu vergleichen. Für Münkler sind die USA ein Imperium, wie das antike Rom eins gegründet hatte, und er fordert die Europäische Union auf, es den USA nachzutun. Sein Programm ist schon im Titel seines Buchs enthalten: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten (Berlin 2005). Da er sich an Rom orientiert, hat er vom Imperium einen positiven Begriff: Man wisse doch, dass dort die imperiale Herrschaft der Peripherie ebenso wie dem Zentrum ökonomisch genutzt habe. Schon vor ein paar Jahren wandte ich dagegen ein, dass es einen Unterschied macht, ob man es mit einem antiken oder einem kapitalistischen Imperium zu tun hat. In Wahrheit ist aber der ganze Begriffsrahmen verkehrt. Was sich im Nahen Osten abspielt, ist kein Zerfall des imperialen Rands der USA, wie Münkler meint, sondern eben der typische Beleg, dass die USA als kapitalistischer Hegemon, der sie immer noch sind, es nicht nötig haben, andere Länder imperial zu beherrschen.

Zur Frage, ob nicht die vergangenen europäischen Kolonialreiche als Imperien angesehen werden können, äußert sich Wallerstein meines Wissens nicht. Es ist aber leicht, sie in seiner Perspektive zu beantworten. Ja, das waren wohl Imperien. Aber sie konnten keinen Bestand haben, so wenig wie das spanische ihn haben konnte. Und so wenig wie Hitler eine Chance hatte. Auch Kolonialreiche passen mit dem Kapitalismus weder zusammen, noch werden sie benötigt. Ob man sie kontinental oder maritim zu gründen versucht, gleichviel. Die USA haben das von Anfang an erkannt. Zwar gibt es noch heute zwei Imperien, das russische und das chinesische. Aber das russische ist nicht gerade von kapitalistischem Erfolg gesegnet. Und ob das chinesische einfach nur kapitalistisch ist oder doch einen Weg zum Kommunismus zu bahnen versucht, ist eine in der Literatur diskutierte Streitfrage (die ich hier nicht nebenbei erörtern kann).

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Um es noch einmal zusammenzufassen: Wenn man sagt, Kriege hätten den Kapitalismus ermöglicht, ist es in dieser Allgemeinheit grundfalsch. Denn Kriege an und für sich tun weiter nichts, als jegliche Ökonomie zu vernichten. Jedenfalls war das im 16. Jahrhundert so, als es noch keinen Überhang künstlichen Geldes, das nicht realwirtschaftlich profitabel angelegt werden kann, und keinen ihn abarbeitenden „Militärkeynesianismus“ gab.  B e s t i m m t e  Kriege indes, diejenigen, mit denen seinerzeit Amerika, die Küsten Afrikas und Ostasiens, pazifische Inseln und schließlich der ganze indische Subkontinent besiegt wurden: die haben eine die Entstehung des Kapitalismus begünstigende Situation geschaffen. Bestimmte Kriege, also nicht einmal alle siegreichen. Der bloße Umstand, dass Frankreich  m e h r  Kriege führte als England, warf es im Kampf um die Hegemonie im Weltsystem zurück (Das moderne Weltsystem I, a.a.O., S. 399).

Und ich sage, sie haben „eine günstige Situation geschaffen“: Das heißt,  d i r e k t  konnten auch jene bestimmten siegreichen Kriege keinen Kapitalismus hervorrufen. Denn das Weltsystem, wie es aus den Kriegen hervorging, war zunächst noch kein kapitalistisches. Die Frage ist allerdings, ob mit seiner Existenz die Weichen zum Kapitalismus schon zwingend gestellt waren. Wallerstein nimmt das an und wir werden es prüfen. Mit der „Kriegsthese“ hat das aber nichts mehr zu tun. Kein Zweifel zwar, dass Kriege als notwendige, nicht hinreichende Existenzbedingung der kapitalistischen Geschichte immer präsent bleiben. Sie können aber genauso gut Bedingung nichtkapitalistischer Systeme sein. Von ihnen selbst hängt es nicht ab.

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Das europäische Weltsystem des 16. Jahrhunderts ist  ö k o n o m i s c h  gesehen weiter nichts als ein sehr großer Markt. Da es um ein Vielfaches größer ist als die Binnenmärkte der beteiligten Staaten, können viel höhere Profite erzielt werden; das ist seine subjektive Seite. Die objektive ist, dass dieser Markt eine  i n t e r n a t i o n a l e  A r b e i t s t e i l u n g  vermittelt, womit er eine Aufgabe übernimmt, die sonst Binnenmärkte gespielt haben. Fernmärkte für Luxuswaren gibt es außerdem noch, Wallerstein sagt, sie gehören zwar nicht zum Weltsystem, sind aber seine „Außenarena“. Schon zwischen China und dem römischen Reich, die beide, wie gesagt, als politische Imperien eigene ökonomische Weltsysteme einschlossen, gab es Handelsbeziehungen, die über die sogenannte Seidenstraße liefen. Später im Mittelalter verlief diese durch das Reich der Mongolen. Für die Europäer war sie seit dem Ende des Mittelalters nicht mehr gangbar. Auch dafür übrigens gab die Pest den ersten Anstoß (vgl. WBG Weltgeschichte Bd. IV, a.a.O., S. 124 f.). Wie man weiß, suchten sie nun andere Wege nach Ostasien, zunächst um Afrika herum und dann in Richtung Westen, wo stattdessen Amerika gefunden wurde. Aber auch der Weg um Afrika herum änderte nichts daran, dass sich der Handel mit Asien weiter um Luxuswaren drehte. Zum eigenen Weltsystem erweiterte sich Westeuropa nur deshalb, weil es mit Amerika und auch mit Teilen Osteuropas in solche wechselseitige Handelsbeziehungen trat, die für das Leben der Bevölkerung in den beteiligten Ländern unverzichtbar wurden. Wo es also nicht um Luxus-, sondern um Massenwaren ging.

Wenn eine solche Arbeitsteilung von einem sie umgreifenden Markt vermittelt wird, heißt das, dass alle beteiligten Produzenten  f ü r  d i e s e n  M a r k t  produzieren. Und der Markt ist, wie gesagt, in einem Weltsystem sehr groß. Kriterium dafür, dass er die Arbeitsteilung umgreift, also  e i n  e i n z i g e r  ist, ist die Preisangleichung (Das moderne Weltsystem I, a.a.O., S. 102 f.). Damit lässt sich empirisch arbeiten: Wallerstein kann zeigen, wo und von wann an, auch in welchen Schritten sie das große Gesamtgebiet erfasst. Produktion aller Beteiligten für den Markt, ist das bereits gleichbedeutend mit kapitalistischer Produktion? Genauer gesprochen: Ist sie es dann, wenn dieser Markt sehr groß ist? Wir verschieben die Frage auf später, außer dass wir ein letztes Mal auf Robert Kurz zurückkommen. Es war für Kurz das zentrale Argument, dass er einen sehr großen Markt in der frühen Neuzeit annahm, wo gerade die Größe dafür sprechen sollte, dass aus ihm der Kapitalismus notwendig habe entstehen müssen. Allerdings stellte er sich den Übergang ganz einfach so vor, dass die Größe des Marktes eine Verselbständigung des Geldes, das vorher noch religiös eingebunden gewesen sei, bewirkt habe. Jetzt erst sei Geld im strikten Sinn entstanden, und dieses müsse von selbst zum Kapitalismus führen. Ich hatte im zweiten Jahr der Blogreihe nach Begründungen für die Behauptung gesucht (ab der 33. Notiz) und keine gefunden.

Kurz‘ Argumentation hat aber noch einen weiteren Mangel: Er spricht von der Größe eines Marktes, der gar keiner war. Vom „Markt“ der Kriegsgüter nämlich, dem der Charakter eines geldvermittelten Warentauschs (W-G-W) vollkommen abgeht; in Wahrheit werden die Waren der Waffenproduzenten und der Söldner, die ihre „Arbeitskraft“ anbieten, mit einem Geld bezahlt, das die Staaten sich mit Gewalt beschafften, seien es Steuern oder amerikanische Edelmetalle. Selbst wenn die Steuern von „Ständen“ freiwillig hergegeben wurden – das heißt von Grundherren, die sie ihren Untertanen abpressten -, bestand die Gegenleistung des Staates nicht darin, dass er seinerseits Waren hergab. Das ist die theoretische Seite der Sache. Die empirische liegt darin, dass „Märkte“ dieser Art immer zusammengebrochen sind und Staaten, deren Stärke nur darin bestand, sie zu errichten, mit in den Abgrund rissen. Und wenn die Staaten, dann auch die Gesellschaften. Nicht Spanien war der Ort, aus dessen Märkten heraus ein dynamischer industrialisierter Kapitalismus entstehen sollte. Und Frankreich war es weniger als Großbritannien, weil es, wie gesagt, zu viele Kriege führte.

Man sieht, wie sich von der Kurzschen Argumentation die Wallersteinsche unterscheidet. Auch er unterstellt, dass ein Markt nur groß genug sein muss, damit er praktisch von selbst zum kapitalistischen Markt wird. Doch spricht er von Märkten, die in allem Ernst Märkte sind. In seinem „Weltsystem“ geht es im wesentlichen so zu, dass die einen Länder Rohstoffe liefern, die andern Fertigprodukte – Waren gegen Waren. Außerdem verselbständigt sich bei ihm nicht bloß das Geld, sondern der ganze Markt. Machen wir uns den Unterschied klar: Wo das Geld nicht verselbständigt ist, kann von einem Markt gar keine Rede sein. Märkte im Ganzen sind damit aber noch nicht bestimmt. Sie können reguliert oder dereguliert sein, „selbstregulierend“ mit dem Ausdruck von Polanyi. In selbstregulierenden Märkten ist nicht nur das Geld dereguliert, sondern sind es die Märkte im Ganzen. Wir haben uns mit Polanyis Markttheorie ausführlich befasst und gesehen, dass er keinen selbstregulierenden Markt vor 1832 sieht. Das ist bei Wallerstein anders. Für ihn entsteht ein solcher Markt bereits im „langen“ 16. Jahrhundert. Und zwar als Weltmarkt, Markt des neuen europäischen Weltsystems. Dies System war nur insofern reguliert, als ein jeweiliger Hegemon die Deregulation selber im Interesse seiner Händler dem Weltmarkt als Regulation aufzwang (wobei er sich selbst mitunter protektionistisch ausnahm).

Ich will noch den dritten Unterschied zwischen Wallerstein und Kurz benennen. Der Erstgenannte würde auch den Satz, verselbständigtes Geld, das im Kontext eines geeigneten Marktes funktioniere, laufe notwendig auf den Kapitalismus hinaus, so noch nicht unterschreiben. Denn anders als Kurz verfügt er über den Marxschen Kapitalbegriff und weiß, dass nur ein Zustand, der irgendwie schon die kapitalistische Spur enthält, auf den Kapitalismus hinauslaufen kann. Wallerstein behauptet nicht, dass Geld und Märkte per se dieser Zustand schon seien. In seiner Sicht müsste sich vielmehr zeigen lassen, dass in den Märkten bereits  k a p i t a l i s t i s c h e  A k k u m u l a t i o n  wirksam und sogar dominant ist oder zu werden beginnt, ein Kriterium, das über bloße Geldmengen weit hinaus geht. Man könnte von einer historisierenden Definition sprechen:

„Wenn wir […] sagen, dass wir den historischen Kapitalismus beschreiben, beschreiben wir jenen konkreten, zeit- und raumgebundenen integrierten Bereich produktiver Tätigkeiten, in dem die Akkumulation von Kapital in der Tat der wirtschaftliche Zweck oder das ‚Gesetz‘ war, das in fundamentalen wirtschaftlichen Aktivitäten regierte oder doch überwog. Es ist dieses soziale System, in dem diejenigen, die nach solchen Regeln vorgingen, einen derart großen Einfluss auf das Ganze hatten, dass sie Bedingungen schaffen konnten, in denen die anderen gezwungen wurden, sich entweder den Normen anzupassen oder die Folgen auszubaden. Es ist dieses System, in dem die Reichweite dieser Regeln (das Wertgesetz) immer größer wurde, in dem die Vollstrecker dieser Regeln immer unnachgiebiger wurden, in dem das Eindringen dieser Gesetze in das soziale Gefüge immer größer wurde, selbst als die soziale Opposition gegen diese Regeln immer lauter und immer organisierter wurde.“ (Der historische Kapitalismus, Hamburg 1984 [engl. 1983], S. 14; eine analoge Definition bietet Die strukturelle Krise oder Warum der Kapitalismus sich nicht mehr rentieren könnte, in Wallerstein u.a., Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert, Frankfurt New York 2014 [engl. 2013], S. 17-47, hier S. 18)

Wallerstein sagt, dass die Wendung „Akkumulation des Kapitals“ „das ‚Gesetz‘“ sei, identifiziert sie also offenbar mit dem Ausdruck „das Wertgesetz“; er versteht unter diesem nicht einfach die Ware-Geld-Beziehung, sondern die Kapitallogik – nicht W-G-W, sondern G-W-G‘. Von G-W-G‘ sahen wir, dass es für Marx nur dann Kapitallogik ist, wenn es unendlich wiederholt wird.

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Bleibt die Frage, wie das Weltsystem denn nun wirklich entstanden ist; wie seine Entstehung  ö k o n o m i s c h  erklärt werden kann. Ohne Kriege wäre es nicht gegangen, aber Kriege bringen keine neue Produktionsweise hervor, können nur den Übergang zu ihr erleichtern. Die Sätze, in denen Marx das feststellt, gehören übrigens zu seinen bekanntesten: „[U]m den Verwandlungsprozess der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen“, wird, so schreibt er, die „Staatsmacht“ eingesetzt; „[d]ie Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“. Auch wenn Marx hinzufügt: „Sie selbst ist eine ökonomische Potenz“, heißt das nicht, dass schon jemals eine Hebamme zugleich auch die Mutter war, der sie hilft, das Kind zur Welt zu bringen. (MEW 23, S. 779)

Wallersteins ökonomische Erklärung setzt bei der Krise der Feudalwirtschaft im späten Mittelalter an, über die ich eingangs sprach. Ihr Ergebnis waren Bevölkerungsrückgang, sinkende Nachfrage, höhere Arbeitslöhne in der Stadt mit Ausstrahlung aufs Land. Die Ausstrahlung aufs Land bestand in Westeuropa im Rückgang der großen Domänen. Wenn nun die Feudalherren ihr Luxusleben fortsetzen wollten, hatten sie nur diese Möglichkeiten: Umwandlung der Feudalabgaben in Geldrente – was zum Pachtsystem und zur „allmähliche[n] Verschiebung der Herrschaft über das Land“ führen musste – oder Übergang zur Produktion für den Markt, das heißt Umwandlung des Landes in Weide für Rinder- oder Schafzucht, oder beides. (Das moderne Weltsystem I, a.a.O., S. 135 f.) Dabei konnte Rindfleisch für einen einheimischen Nahrungsmittelmarkt produziert werden (mit welcher Innovation sich auch Jeremy Rifkin, Das Imperium der Rinder, Frankfurt New York 1994, befasst), während die Schafzucht für die Tuchproduktion nützlich war; da hatte England schon im 15. Jahrhundert erfolgreich mit Flandern konkurriert, womit es zunächst, wie Wallerstein hervorhebt, nur einen  l e i c h t e n  Vorteil andern Regionen gegenüber errang, der sich aber ausbauen ließ (Das moderne Weltsystem I, a.a.O., S. 128).

Dass die Umwandlung des Landes in Weide Bauern „freisetzte“ – ihre Arbeitskraft von ihren Produktionsmitteln trennte – und dass damit die Vorgeschichte der kapitalistischen Arbeiterklasse begann, ist der Gesichtspunkt, der Marxlesern bekannt ist, weil er Marx vor allem interessierte (vgl. MEW 23, S. 741-777). Auf die von Wallerstein untersuchten Prozesse geht er sehr viel knapper ein (S. 777-788), so dass Wallersteins Untersuchung als Vervollständigung, ja als Fundierung des Marxschen Ansatzes angesehen werden kann.

Die Inanspruchnahme von Land für die Schafzucht ging auf Kosten des Getreideanbaus und führte so zur Nahrungsmittelknappheit (Das moderne Weltsystem I, a.a.O., S. 129 f., 135 f.). Diese Knappheit machte den Getreideimport aus bestimmten Regionen Osteuropas erforderlich, und damit war der östliche Teil des Weltsystems entstanden. Denn die Herren der osteuropäischen Domänen kämpften ebenfalls mit der Krise und ergriffen die Gelegenheit dankbar, nun ebenfalls im großen Stil für den neu entstehenden Markt zu produzieren, das heißt produzieren zu lassen. Der westliche Teil des Weltsystems entwickelte sich gleichzeitig aus den spanischen Eroberungen in Amerika. Von dort wurde zunächst nur das Edelmetall gebraucht. Spanien holte es und gab es für seine Kriege weg. Wo es landete, war es für die Vermittlung des nun ungeheuer ausgedehnten innereuropäischen Warentauschs unverzichtbar. Wallerstein diskutiert in diesem Zusammenhang die bekannte langfristige Preisinflation der Epoche: Er betont, dass sie nicht nur durch den plötzlichen Zuwachs des Geldstoffs erklärt werden kann, sondern auch daher rührte, dass man ihn brauchte, eben für den neu entstehenden innereuropäischen Markt. Daneben auch für den asiatischen Handel, der aber wie gesagt nur „Außenarena“ war. Hier vermittelte das Edelmetall keinen Warentausch, denn die Asiaten interessierten sich nicht für Europas Produkte, sondern war selbst die getauschte Ware.

Im Innern des Weltsystem zeichnet sich von Anfang an das Gefälle von  Z e n t r e n  u n d  P e r i p h e r i e  ab: In den neuen ökonomischen Zentren, den Niederlanden, Nordfrankreich und England, werden verarbeitete Produkte hergestellt, die lateinamerikanischen und osteuropäischen Marktteilnehmer bieten dagegen Rohstoffe an. In den Zentren wird eine Produktpalette produziert, in der Peripherie entstehen Monokulturen. Und weiter: In den Zentren kommt es zur Lohnarbeit auf Vertragsbasis, in der Peripherie zu Formen der Zwangsarbeit. Das hat vor allem zwei Ursachen. Erstens gibt es in den Zentren genug Menschen, die man zur „freiwilligen“ Arbeit bringen kann, ohne ihnen allzu viel Zugeständnisse machen zu müssen. In Amerika und Osteuropa ist das anders. Die wenigen Menschen, die verfügbar sind und gebraucht werden, muss man zwingen. Das geschieht in Amerika per Sklaverei, die in Osteuropa zu teuer gekommen wäre. Daher bleibt dort der Bauernstand erhalten und wird unfrei. Die zweite Ursache ist, dass man Zwangsarbeiter nicht zwingen kann, die komplexe Arbeit der Zentren „con amore“, wie Marx sagt (MEW 23, S. 210 f.), zu leisten. (Der letztgenannte Punkt bleibt bis heute umstritten, vgl. die 67. Notiz. Wahrscheinlich kann nur gesagt werden, dass der direkte Zwang in den Zentren eine geringere Rolle spielte.)

Sind damit nun alle Bedingungen gegeben, aus denen heraus sich der Kapitalismus notwendig entwickeln muss? Wallerstein nimmt das offenbar an. Eine Bemerkung noch dazu, dass in seiner Sicht verschiedene Staaten im Weltsystem konkurrieren müssen. Staaten sind Staaten der herrschenden Klasse. Von der herrschenden Feudalklasse des Mittelalters haben wir gehört, dass sie selbst es als notwendig ansehen musste, ihre Produktionsweise umzuwandeln, hin zur Produktion für einen Weltmarkt. Es ist dann zu erwarten, dass sie ihren jeweiligen Staat entsprechend umorientiert. Ohne Konflikt wird das nicht gehen, wir haben aber ja den Satz von Marx im Ohr, dass die Widersprüche der ökonomischen Basis im Überbau bewusst und dort „ausgefochten“ werden (MEW 13, S. 9); das geschah zuerst in England zu einer Zeit, als England auf die Idee, einen imperialen Weg einzuschlagen, schon wegen fehlender Machtressourcen gar nicht kommen konnte. Damit war aber die Situation schon entstanden, in der die neuen Marktproduzenten den von ihnen hinreichend beherrschten Staat davon abhielten, sie am Immer mehr ihres Gewinnstrebens zu hindern.

Heißt das nicht wirklich, dass damit die „Akkumulation des Kapitals“ als „das Wertgesetz“  v o n  A n f a n g  a n , also beginnend mit dem „langen“ 16. Jahrhundert, das  d o m i n a n t e  Prinzip ist? Dass also, theoretisch gesprochen, der Kapitalismus allein deshalb entstehen  m u s s t e , weil es nun einen sehr großen Markt gab? Denn Wallersteins Definition, die ich oben zitierte, scheint erfüllt zu sein: Das neue Weltsystem erscheint als jener „Bereich produktiver Tätigkeiten, in dem die Akkumulation von Kapital […] der wirtschaftliche Zweck oder das ‚Gesetz‘ war, das in fundamentalen wirtschaftlichen Aktivitäten regierte oder doch überwog“. In der nächsten Notiz wird sich zeigen, dass die Frage trotz allem verneint werden muss, weil wir Eines noch gar nicht erörtert haben: die Rolle der neuen Naturwissenschaft.