(161) Der Weg zur Anderen Gesellschaft

2. Noch einmal zur Geschichte des Kapitalismus: Entstehungszeit, Aspekte des Funktionierens, Zeit der Auflösung / Sechster Teil - Retractationes

Ich will meinen Versuch von vor einem Jahr, der Theorie der Anderen Gesellschaft eine ihr entsprechende Theorie des revolutionären Übergangs beizugeben, hier nicht in Gänze noch einmal aufrollen, doch können als Ertrag der letzten Notizen (154 ff.) drei Punkte noch einmal aufgegriffen und klarer gefasst werden: die Gewaltlosigkeit der Revolution, der revolutionäre Weg über mehrere Generationen und das Ziel dieses Weges. Der erste Punkt ist ein Paradox: Den Übergang zur Anderen Gesellschaft kann man sich nur als „Gründung“ und neue Machtverteilung vorstellen, gegen einen friedlichen Verlauf scheint aber alle historische Erfahrung zu sprechen. Der zweite Punkt wirft die Frage auf, welchen Wert solche Begriffe wie Orthodoxie und Revisionismus oder umgekehrt Reformation und Erneuerung haben, wenn ich in meiner Blogreihe so etwas wie einen demokratischen Marktkommunismus propagiere. Der dritte Punkt reagiert auf die Einsicht der vorigen (160.) Notiz: Wenn die Kapitallogik so stark naturwissenschaftlich bedingt ist, wie ich dort in Erinnerung rufe, reicht es dann aus, das revolutionäre Ziel bloß ökonomisch und politisch zu artikulieren?

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Was den ersten Punkt angeht, knüpfen wir noch einmal an Immanuel Wallerstein an und zwar seiner Sicht der Französischen Revolution, die ich schon kurz dargestellt hatte: Nicht um den Übergang von der feudalistischen zur kapitalistischen Produktionsweise sei es in ihr gegangen, sagt er, sondern um den Kampf zweier Fraktionen derselben herrschenden Klasse, die längst schon im Ganzen kapitalistisch gewesen sei. Der ganze Weltmarkt war ja seiner Theorie zufolge seit dem 16. Jahrhundert ein kapitalistischer, alle, auch die „Feudalherren“, hätten für den Weltmarkt produzieren lassen, statt mit Land zu belehnen und Abgaben dafür zu empfangen, und gerade Frankreich habe neben England und den Niederlanden im Zentrum des Systems gestanden. Die Bedeutung dieser Revolution liegt für Wallerstein darin, dass er sie in die lange englisch-französische Auseinandersetzung einfügt, wer den Niederlanden als neuer Hegemon des europäischen Weltsystems nachfolgen würde. 1763 sei sie in ihre dritte Phase eingetreten und habe sich bis 1815 hingezogen; zur Französischen Revolution sei es deshalb gekommen, weil der Krieg den französischen Staat bis 1789 finanziell schon so ausgeblutet habe, dass nach einer neuen Wirtschaftspolitik gesucht werden musste, auf die sich die beiden Fraktionen indes nicht einigen konnten. Dass dann diejenige gewann, die ans Volk appellierte, ist nicht verwunderlich.

Man wird hinzufügen, dass es um „Antifeudalismus“ insofern tatsächlich ging, als das politische Zeremoniell noch viele Züge trug, die aus der Feudalzeit herrührten, und diese nun abgeschafft wurden. Und wie Wallerstein selbst hinzufügt, schälte sich als Ergebnis dieser Wirren der  d e m  K a p i t a l i s m u s  gemäße politische Überbau heraus, der dem Volk eine gelenkte Demokratie zugestand. Er tut dies im vierten Buch seiner Reihe (Das moderne Weltsystem IV, Wien 2012 [engl. 2011]), während er im dritten den Kampf der Fraktionen darstellt (Das moderne Weltsystem III, Wien 2004 [engl. 1989]). Mit einigen Modifikationen schließe ich mich der Deutung an. Überzeugend ist, dass es nicht mehr um einen Kampf gegen die feudalistische  P r o d u k t i o n s w e i s e  gegangen sein kann, denn die gab es längst nicht mehr; es ist deshalb zum Beispiel nicht überraschend, dass in der Nationalversammlung, wie vorher schon in den Logen, auf „bürgerlicher“ Seite auch viele Adlige saßen; und doch musste ein Krieg gegen den Adel inszeniert werden, weil eben das Volk mitspielte und zu seiner Kontrolle ein einfaches Symbol erforderlich war. Beim Kapitalismus war man allerdings, Zeremoniell und Feindbild hin oder her, durchaus noch nicht angekommen.

Die Fraktionen, von den Wallerstein spricht, gehörten einer herrschenden Klasse  n i c h t k a p i t a l i s t i s c h e r  Marktherren an. Dies erklärt nun gerade die neue politische Form, die von der siegreichen Fraktion durchgesetzt wurde. Freiheit und Gleichheit, das wurde ja, wie Marx deutlich erklärt,  v o m  M a r k t  und nicht von der Kapitallogik nahegelegt (MEW 23, S. 189 f.). Mit der Demokratie der Volks„abstimmung“, die zur parlamentarischen werden sollte, hatte  d a s  M a r k t s y s t e m  (in seinen Zentren) den ihm gemäßen Überbau endlich gefunden. Zum Überbau des nachfolgenden Kapitalismus taugte diese schon im Vorkapitalismus verkürzte, weil nur „subsumtive“ Demokratie dann deshalb, weil sie dem Kapitalismus   g e r a d e  n i c h t  entsprach („Beim Scheiden von dieser Sphäre […] des Warentausches […] verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae“, a.a.O., S. 190 f.), aber geeignet war, ihn zu verhüllen. Wie die subsumtive Demokratie von der kapitalistisch-angleichenden zunehmend ausgehöhlt wurde und wird, habe ich im vorigen Kapitel (ab der 149. Notiz) dargestellt.

Was mich selbst im Revolutionskapitel ab der 141. Notiz veranlasst hat, auf die Französische Revolution zu sprechen zu kommen, war ihr kriegerischer Charakter: Während die Bolschewiki gerade hieran sich orientiert hatten, plädierte ich dafür, mit dem Kriegsvorbild zu brechen. Die Revolution der Anderen Gesellschaft kann und soll keine gewaltsame sein. Dafür gewinne ich aus dem, was Wallerstein über den Kampf zweier Fraktionen derselben herrschenden Klasse schreibt, zusätzliche Argumente, und das erste ist ganz einfach. Wenn zwei Menschengruppen in einer zugespitzten Krise des Systems, in dem sie beide stehen und das sie beide nicht verlassen wollen, um die politische Macht kämpfen, gerade dann ist zu erwarten, was ich im Revolutionskapitel schrieb: Ihre Behauptungen sind unvereinbar und „[s]ofern man sie […] zu begründen versucht, haben wir es mit dem Spiel des Argumentierens zu tun. Doch wenn die Gründe erschöpft sind, ohne dass ein Sieger zu ermitteln ist, und man sich auch nicht hat einigen können, dann kann es zum Krieg der Behauptenden gegeneinander kommen.“

Im Übergang zur Anderen Gesellschaft stehen sich aber nicht zwei Menschengruppen gegenüber. Vielmehr stellt sich  w ä h r e n d  des Übergangs erst heraus, wer  a m  E n d e  als Gegner unversöhnlich bleibt. „Das Prinzip wird Auflösung, nicht Konfrontation heißen, und daher Frage und Antwort, nicht Behauptung und Gegenbehauptung.“ „Dies bedeutet nicht, dass die Revolutionäre für Gegnerschaft blind wären. Gegnerschaft braucht aber weder in Gegenbehauptungen ausgetragen zu werden, noch ist sie mit jenem harten Kern von Gegnern zu verwechseln, der  z u l e t z t  übrigbleibt. Es ist klar, dass Unbeteiligte, in die sich veritable Gegner mischen, ja die von diesen ideologisch beherrscht werden, von Anfang an und gerade am Anfang das Gegenüber der Revolutionäre sind. Dies Gemisch ist das, was mit Antworten aufgelöst werden soll, damit sich die Unbeteiligten, aber auch soweit möglich die Gegner in Mitstreiter der Revolution verwandeln.“ (142. Notiz) Wie ich dann zeigte, war der Gedanke auch Lenin und Mao nicht fremd, die im Ganzen aber doch dem Kriegsvorbild verhaftet blieben.

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Ein weiteres Argument lässt sich daraus gewinnen, dass wir die Andere Gesellschaft als neue Produktionsweise statt bloß als politischen Machtwechsel konzipieren, wo eine Fraktion der herrschenden Klasse gegen die andere obsiegt: Wir können eben deshalb relativ gewaltlos zu ihr gelangen, weil Übergänge zu neuen Produktionsweisen  i m m e r  i m  G a n z e n  f r i e d l i c h  v e r l a u f e n  s i n d . Meine Darstellung hat es gezeigt: Der Übergang zur hierarchischen Marktwirtschaft musste nicht mit Gewalt im Innern der Niederlande oder Englands erzwungen werden, ebenso wenig der Übergang zum Kapitalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa. Und wer weiter zurückblickt, erinnert sich, dass auch der Übergang zur Sklavenhaltergesellschaft in Rom oder danach dortselbst zum Feudalismus mehr oder weniger gewaltlos geschah.

Es ist klar, dass  g e g e n  d i e  O p f e r  des jeweils Neuen immer Gewalt genug angewandt wurde – die Indios, die Sklaven, die Leibeigenen -, doch das ist eine andere Frage. Auch sie ist wichtig, denn der Übergang zur Anderen Gesellschaft darf selbstverständlich nichts kosten, was auf Dritte abgewälzt würde. Hier geht es aber darum, dass da, wo der Übergang jeweils entschieden wurde, das ist im Zentrum des jeweiligen ökonomischen Systems,  k e i n  G e w a l t k a m p f  f ü r  d i e  E n t s c h e i d u n g  ausgefochten werden musste. Beim uns bevorstehenden Übergang bräuchte es sich nicht anders zu verhalten. Der Kapitalismus ist nicht aus dem Krieg geboren, er muss in ihm auch nicht sterben.

Ich habe zunächst nur eine empirische Beobachtung ausgesprochen, die theoretische Begründung muss noch folgen. Doch bleiben wir zunächst beim Empirischen, um uns zu versichern: Was ist um 1500 und um 1850 geschehen? Der Übergang im „langen“ 16. Jahrhundert geschah so, dass die Feudalherren selber, west- wie osteuropäische, zur Produktion für den neuen europäischen Weltmarkt übergingen, indem sie diese entweder selbst befehligten oder an Pächter abtraten, von denen sie Grundrente kassierten. Da die Feudalökonomie abgewirtschaftet hatte, lag es in ihrem Interesse und sie erkannten es. Sie waren nun keine Feudalherren mehr, ökonomisch gesehen jedenfalls nicht. Um 1850 geschah das Analoge: Marktherren gingen auf breiter Front zur industriellen und damit zur kapitalistischen Produktionsweise über. Ihr Versuch, das marktmäßige Politikmodell, den Parlamentarismus, als Herrschaftsform durchzusetzen, war 1848 mit Gewalt zum Scheitern gebracht worden, gegen ihre gleich anschließende  ö k o n o m i s c h e  Revolution hatte jedoch kein einziger reaktionärer Staat etwas einzuwenden; im Gegenteil, sie wurde unterstützt. Und das ist bemerkenswert genug, denn die Folge war bald, dass diese Staaten von der neuen Kapitalistenklasse politisch übernommen wurden.

Dasselbe Bild, wenn wir weiter zurückgehen: Die Römer hatten immer Kriege geführt, auch als sie noch im Wesentlichen ein Volk von Ackerbauern waren; gegen etwas andere Kriege, die eine sehr große Sklavenbeute erbrachten, hatte später kein Römer Grund sich zu wehren. Viel früher war das Sklavenhaltersystem als solches aus der Übung orientalischer Reiche hervorgegangen, Teile einer besiegten Bevölkerung ins eigene Land umzusiedeln, was in Babylon anscheinend nicht dazu führte, dass die zwangsexilierten Juden dort zur Arbeit eingesetzt wurden, Gefangenen in Assyrien (vielleicht auch den Juden in Ägypten?) aber schon passieren konnte. Der Feudalismus entstand in der Endzeit des römischen Reiches, weil dessen Verteidigung gegen „Barbaren“ immer kostspieliger wurde und deshalb die Militärsteuern ein Maß erreichten, das es gewöhnlichen Bauern unmöglich machte, ihr Land noch schuldenfrei zu bewirtschaften; sie begaben sich deshalb sua sponte unter die Herrschaft der Großgrundbesitzer.

War die Produktionsweise erst verändert, wälzte sich später auch der politische Überbau um und dies manchmal in revolutionärer Form. Eine Rückkehr zur alten Produktionsweise gelang dann aber nicht mehr. Falls sie überhaupt noch angestrebt wurde.

Nun liegt der Einwand nahe, dass wir es ja in all diesen Fällen mit Umwandlungsprozessen innerhalb der jeweils herrschenden Klasse zu tun haben; wie können sie dann beispielhaft sein für den Übergang zur Produktionsweise der Anderen Gesellschaft, wo es sich darum handelt, die heute herrschende Kapitalistenklasse zu entmachten und sogar zum Verschwinden zu bringen? Allerdings soll dies „Verschwinden“ ja nur darin bestehen, dass aus denselben Menschen, die jetzt Kapitalisten sind, nichtkapitalistische Unternehmer werden und sie sich gewissen demokratisch beschlossenen Prozeduren fügen. Das wird schwierig genug werden, eins ist aber sicher: Es geht, anders als bei der Französischen Revolution,  n i c h t  darum,  e i n e r  M e n s c h e n g r u p p e  den Kampf anzusagen. Die Menschengruppe „Unternehmer“ soll nur dazu gebracht werden,  s i c h  s e l b s t , ohne deshalb ihre Posten räumen zu müssen,  e i n e  a n d e r e  F u n k t i o n  zuzuschreiben. Insofern also dasselbe zu tun wie die Feudalherren um 1500, die Marktherren um 1850.

Ich komme nun zu meinem theoretischen Argument, das nicht zuletzt deshalb gebraucht wird, weil trotz allem der Unterschied bleibt, dass die herrschende Klasse aufhören wird, die herrschende Klasse zu sein. Machen wir uns aber klar, dass die Verallgemeinerung der Fälle von Übergängen in andere Produktionsweisen, die ich aufführte, in Wahrheit nicht darin schon liegt, dass die Herrschenden  s e l b e r  b e s c h l i e ß e n , die Ökonomie zu verwandeln, um eine zwar andere doch immer noch herrschende Klasse bleiben zu können; denn das stimmt zwar in den meisten Fällen – beim Übergang zum Feudalismus stimmt es nicht ganz -, ist aber für eine Verallgemeinerung zu personalistisch gedacht. Die Verallgemeinerung liegt vielmehr darin, dass jeder der Übergänge  „ s y s t e m i m m a n e n t “  g e s c h a h , das heißt im Einklang mit der jeweils vorhandenen (geschriebenen oder ungeschriebenen) Verfassung.

Das ist nur erst das empirisch Allgemeine der Fälle. Theoretisch wäre zu begründen, wie es denn möglich sein kann, dass etwas so Grundstürzendes wie der Übergang von einer Produktionsweise zur andern geschieht, ohne dass die Verfassung tangiert wird. Nun: Es kann keine Verfassung einer Produktionsweise geben, die nicht unter allen Wegen, die sie zu gehen erlaubt, auch (mindestens) einen enthält, der aus ihr herausführt, wenn man ihn nur entdeckt oder zufällig auf ihn gerät. Dies führt zum einen dazu, dass diejenigen, die gewohnte Wege weitergehen, keinen Widerstand leisten, weil ja nichts Ungewöhnliches zu geschehen scheint, und zum andern dass aus dem gewöhnlich Scheinenden das Neue entsteht. Abstrakt gesprochen ist es der Fragespiel-Mechanismus: Der Möglichkeiten, eine Frage zu beantworten, gibt es immer viele, (mindestens) eine gehört aber immer dazu, die aus der Frage herausführt; das ist die Antwort, die der Frage widerspricht, indem sie deren Konfusion entdeckt.

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Beim Übergang zur Anderen Gesellschaft ist die Sache ein wenig komplexer, weil es sich um eine Umwälzung der Produktionsweise  u n d  g l e i c h z e i t i g  um eine politische Revolution handelt. Insofern verabschieden wir uns  n i c h t  g a n z  von der tradierten Leninschen Auffassung, dem Kapitalismus könne ein Ende nur so gesetzt werden, dass eine politische Revolution am Anfang stehe, die Produktionsweise danach umgewälzt werde und dies wesentlich vom Staat her geschehe. Nicht ganz, aber doch sehr weitgehend. Wahr bleibt, dass die neue Produktionsweise die vollständige Entmachtung der Kapitalistenklasse  z u r  V o r a u s s e t z u n g  h a t , wahr bleibt auch, dass die neue Produktionsweise nicht nach und nach, sondern wenn überhaupt dann nur  i n  e i n e r  e i n z i g e n  k o o r d i n i e r t e n  A k t i o n , einer „Gründung“ errichtet werden kann, womit eben politische Organisation und auch Lenkung, basierend auf dem Konsens der Gesellschaft, zwingend impliziert sind. Aber das ist nur die eine Seite der Sache, und nicht die dominante.

Die andere Seite ist, dass es sich trotz allem nicht darum handelt, „den Staat umzustürzen“; denn auch mit der Verfassung des Staates, den wir heute haben, verhält es sich so, dass sie die Möglichkeit des Übergangs zur neuen Produktionsweise selber enthält, auch wenn wir gerade erst dabei sind, das entdecken. Drei Eigenschaften dieses Staates sind einschlägig: Erstens, er nimmt sich gelegentlich das Recht, in die Proportionen der Volkswirtschaft einzugreifen und sie zu verändern (ich verweise auf die permanente staatliche Unterstützung der Automobilindustrie, wodurch sie ihre Überproportion aufrechterhalten kann, ferner auf die Energiegrundlage der Volkswirtschaft, die seit langem vorwiegend staatlich proportioniert wird), zweitens, wenn wir von der zu entmachtenden „Macht der Kapitalistenklasse“ sprechen, dann ist er, der Staat, ja selbst diese Macht (ich verweise auf die „Machtblock“-Analysen von Nicos Poulantzas), und drittens, der Verfassung nach müsste sich alles, was er tut, auf den Wählerwillen zurückführen lassen.  U n s e r e  Position ist, dass in die Proportionen nicht gelegentlich, sondern immer und in Allem (und in der Sache ganz anders) eingegriffen werden soll und zwar durch die Wähler direkt. Dadurch würde der „Machtblock“ aufhören, eine Kapitalistenklasse zu vereinen, weil wenn unter der Bedingung gewählter Proportionen einer begrenzten Produktmenge produziert wird (die Begrenzung ergibt sich aus den Grenzen des Umweltraums der Gesellschaft), es keine Kapitallogik mehr gibt.

Was wir zu tun haben, ist zwar auch politisch, also keine bloß ökonomische Revolution, doch ein politischer  U m s t u r z  ist es gerade nicht. Wir wollen wirklich „nur“ brachliegende Möglichkeiten nutzen: den Unternehmer etwas anders definieren, so nämlich, dass er nicht außerdem noch Kapitalist ist; andere parlamentarische Mehrheiten; ein anderes Verständnis des Wählens, derart dass es zusätzlich zur Parlamentswahl noch die Proportionswahl gibt; und nicht zuletzt auch eine etwas andere Naturwissenschaft. (Auf das Letzte, die Naturwissenschaft, komme ich am Ende zurück.)

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Das Paradox, um das es in der vorigen Notiz ging – einer Revolution, die über mehrere Generationen, ja über Jahrhunderte hinweg vorbereitet wird – ist auch unser eigenes. Spricht zwar Einiges dafür, dass bereits die jetzt heranwachsende Generation den Übergang zur Anderen Gesellschaft vollziehen wird – nach Wallersteins Agenda wäre dies zu erwarten: Er gibt dem Kapitalismus gerade noch zwei oder drei Jahrzehnte (vgl. Die strukturelle Krise oder Warum der Kapitalismus sich nicht mehr rentieren könnte, in: Wallerstein u.a., Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert, Frankfurt New York 2014 [engl. 2013] S. 17-47) -, sind doch einige schon vorausgegangen, so dass wir erneut, ganz wie im Rückblick auf die kapitalistische Revolution, mit der merkwürdigen Tatsache konfrontiert sind, dass zwar alle kämpfenden Generationen einem einzigen Zielbereich sich nähern, im Einzelnen aber jede ihr eigenes ganz eigentümliches Ziel ansteuert. Das Paradox liegt darin, dass das Gesamtziel sich gleichsam erst im letzten Moment offenbart.

Es scheint nämlich klar zu sein, dass der Frühsozialismus, dann der Anarchismus und Marxsche Sozialismus, darauf die leninistische, stalinistische und „realsozialistische“ Peripherie-Variante desselben und schließlich der von mir mitvertretene demokratische Marktkommunismus, wie ich ihn oben genannt habe, derselben antikapitalistischen Reihe zuzuordnen sind. Höchst unterschiedlich sind die Ziele der genannten Bewegungen: Für Saint-Simon, den Frühsozialisten, war auch der Unternehmer ein Arbeiter und Louis Bonaparte, sein geistiger Schüler, ließ sich von ihm zur Förderung einer großen Nationalbank inspirieren; Marx lehrte dagegen den Klassenkampf; der Peripherie-Sozialismus brach mit dem Marxschen Demokratismus, der freilich in den Zentren des Weltmarkts leichter aufrechtzuerhalten gewesen wäre, auch unter revolutionären Bedingungen; der neue demokratische Kommunismus wird gerade in den Zentren erkämpft werden und wird auch die Marktfeindschaft zurücknehmen, in die sich nicht erst der Peripherie-Sozialismus sondern schon Marx verstrickt hatte.

Einen solchen Prozess als sich steigernden Revisionismus aufzufassen, wäre albern. Im Versuch, ihn zu verstehen, wird man sich zuerst an Ernst Bloch erinnern. Der hat über die Möglichkeit eines gerichteten Prozesses, dessen Ziel während des Verlaufs nicht bewusst wird, schon nachgedacht. Da er solche Prozesse in der außermenschlichen Natur annahm, war die Herkunft der Problematik leicht zu erkennen: Bloch wollte von der aristotelischen Teleologie etwas übrigbehalten. Das Ergebnis war eben, dass er das Endziel als Zweckursache zwar aufgab, stattdessen aber  „ d i e  R i c h t u n g “  eines Prozesses für fähig hielt, sich als solche über lange Zeit aufrechtzuerhalten. Dem antiken Vorgänger konnte er darin sich anschließen, dass schon der es sich so vorgestellt hatte, dass die „Materie“ von sich aus gerichtete Wege durchläuft, um bei einem gleichsam noch unklaren natürlichen Letztzustand anzulangen, dem erst der Mensch die voll-endete „Form“ aufprägt. Die „Materie“ ist eben bei Aristoteles eine Möglichkeit, die selbst schon zur Verwirklichung drängt, ja diese als „in Möglichkeit seiende“ Wirklichkeit (dynamei on) schon an sich selber hat. Befriedigend wird man das heute nicht mehr finden, nicht jedenfalls in der Anwendung auf Gesellschaftsprozesse, weil das Modell allzu herrscherlich wäre. Es würde ja bedeuten, dass die „letzte Generation“ aus eigener Allmacht entscheidet, was sie mit dem Vorlauf von Jahrhunderten anzustellen beliebt; sie wäre so bedeutend wie in Eisensteins Film der Kopf Iwans des Schrecklichen, der eine ganze Hälfte der Riesenleinwand einnimmt und von oben herab betrachtet, wie das ganze Volk sich durch die Wüste zu ihm heraufschlängelt, um seine Befehle entgegenzunehmen.

Blochs Modell ist aber besser als das von Nietzsche: Der lässt selbst noch die Richtung weg; der Prozess ist ihm bloßes Material, das zugerichtet wird, nicht um es zu klären, sondern um einem jeweiligen Willen zur Macht Genüge zu tun; dies geschieht in irgendeiner Gegenwart, die dann selbst wieder zum Material herabsinkt. Von der Art sind die Prozesse, die wir betrachten, nun auch wieder nicht. Eine „Richtung“ haben sie schon – nur dass der Begriff nicht recht weiterführt, ja wohl geradezu irreleitet durch den ihm noch anhaftenden Substanzialismus. Dass er immer noch zu viel Teleologie enthält, wird in den Begriffen „Tendenz“ und „Latenz“, die Bloch ihm zur Seite stellt, nur noch deutlicher: „Latenz ist die Beschaffenheit, worin die Tendenz die seltsame Vorexistenz ihrer Richtung und ihrer Vorwegnahme hat; mit anderen Worten: Latenz ist die Weise, womit der noch nicht seiende Zielinhalt sich in der Tendenz geltend macht […]. So wenig die Substanz als das Wesen schon herausgebracht ist, ist doch Substantialität als das Wesenhafte schon im Prozess zugegen und am stärksten eben in der Latenz“, die sich „mit dem platonischen Eros [berührt]“ (Experimentum mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Frankfurt/M. 1975, S. 147 f.) Demgegenüber möchte ich doch festhalten, dass wenn der Zielinhalt „noch nicht ist“, er sich vorher auch nicht „geltend machen“ kann.

Ich bleibe dabei, statt der Möglichkeit, die „selbst“ zur Verwirklichung strebt, nur diejenige anzunehmen, die nur eben Möglichkeit ist, ohne sich als solche aufzudrängen, ja oft ohne sichtbar zu sein. Übrigens ist auch das eine Position, die man gewagt nennen kann, da es in der Naturwissenschaft starke Tendenzen gibt, Möglichkeit ganz einfach für ein Märchen zu halten. Wie auch immer, ich schließe mich denen an, die als Möglichkeiten bloße „Höfe“ um erfolgte Verwirklichungen herum ansehen. Man kann diese übersehen oder aufgreifen. Wenn man sie aufgreift, wird es sich meist um  W a h l möglichkeiten handeln. Das aber verweist auf die Theorie des Fragespiels. In ihr lässt sich der gerichtete Prozess ganz unteleologisch denken. Nicht das Ziel als Zweckursache wirkt hier auf den Prozess ein, der aber ebenso wenig allein von seiner Anfangs-„Ur“sache gesteuert wird; entscheidend ist vielmehr, dass der Prozess ständig  m i t  s e i n e m  A n d e r e n ,  d e m  P r o z e s s g e g e n s t a n d  kommuniziert, der als gleichberechtigter sein Veto einlegen kann.

Hilfreich ist, dass  z w e i  Prozesse dieser Art unterschieden werden können, einer, der „methodisch“ verläuft, und einer, der es nicht tut. Beiden gemeinsam ist die „Frage-Antwort-Kette“ (F-A-Kette): Eine Schlussantwort, die am Ziel mehrerer F-A-Sequenzen steht, wird am Anfang angestrebt, macht sich aber vom unvorhersehbaren Verlauf des Durchlaufs der Kette abhängig. Nehmen wir eine Kette aus drei Sequenzen: Die Polizei will den Dieb des goldenen Ringes festnehmen; ihre Methode ist, dass sie erst fragt, wer der Dieb ist, dann nach dem Ort, wo er sich derzeit aufhält, und ihn drittens dort festnimmt. Das wird sich immer wieder bewähren, doch kann der Fall auftreten, dass schon die erste Frage vom Prozessgegenstand zurückgewiesen wird: In der Frage nach dem „Wer“ war ein passpolizeiliches Subjekt unterstellt, es stellt sich aber heraus, dass eine diebische Elster den Ring aufgepickt hat. Damit bricht die Methode ab, denn von einer Festnahme der Elster wird man hoffentlich absehen.

Nur nebenbei bemerke ich, dass Polizeimethoden und auch solche, die den Umgang mit außermenschlicher Natur regeln, die Sensibilität des Aufhörenkönnens nicht immer gewährleisten. Bei den Prozessen, die uns gerade beschäftigen, bleibt denen, die sie vorantreiben, aber gar nichts übrig, als sensibel zu sein. Denn ihr Prozessgegenstand ist eine menschliche Macht, die sie zwar revolutionieren wollen, die aber immerfort stärker ist als sie. Nur im  l e t z t e n  M o m e n t , nach Jahrhunderten vielleicht, ist sie allenfalls schwächer.

Wenn eine Generation, deren revolutionärer Impuls sich verbraucht hat, nicht mehr weiter weiß, wird sie wohl aufgeben. Sie hat ihr Ziel erreicht und es stellt sich als fad heraus, oder hat es nicht erreicht und glaubt völlig gescheitert zu sein. Eine nächste Generation wird aber das Erreichte oder nicht Erreichte als bloße unerwartete Teilantwort in einem übergreifenden Prozess begreifen. Und auch sie mag eine Antwort erwarten, die wiederum so nicht erfolgt. Was ich sagen will: Auch das ergibt insgesamt  e i n e  e i n z i g e  F – A – K e t t e , nur dass sie nicht mehr „methodisch“ genannt werden kann – weil am Anfang nicht schon die Antwort angestrebt wird, von der ersten Generation, bei der am Ende die letzte endgültig anlangt oder endgültig nicht anlangt. Diese „letzte Antwort“, erreicht nach einer nicht mehr methodisch sondern im Ganzen „spontan“ verlaufenden Kette – methodisch sind nur deren Teilabschnitte – wird von der „letzten Generation“ mit einer gewissen Freiheit aber doch  n i c h t  u n a b h ä n g i g  v o m  V o r l a u f  erteilt werden. Und so gesehen hat der Gesamtprozess eine Richtung gehabt, eine einzige; und das nicht bloß vom Ende her gesehen, sondern jederzeit.

Was das für eine Richtung ist, kann nur annähernd oder irreführend angegeben werden, solange der Prozess noch läuft, von Ende her wird man sie aber klar bestimmen können. Im Fall des Kampfes, der zur kapitalistischen Revolution führte, wovon die Generation, die ihn im 17. Jahrhundert begann, noch gar nichts ahnte, war das die Richtung aufs „ferne“ Unendliche. Darum ging es in den vorigen Notizen (besonders der 156. und 160.). Wir können es heute sagen, weil dieser Prozess an seinem Ziel längst angelangt ist. Das erreichte Ziel ist seit anderthalb Jahrhunderten die ökonomische Basis unserer Gesellschaften. Von der antikapitalistischen Revolution, die uns heute aufgegeben ist, scheint man dagegen sagen zu können, dass sie sich  a u f s  „ n a h e “  U n – E n d e  zubewegt und diese Richtung immer schon hatte. Schon den Frühsozialisten ging es darum, auf der Einlösung des Versprechens der Französischen Revolution, dass alle Menschen „Brüder“ seien, das heißt zuendegedacht Brüder und Schwestern, zu bestehen. Dabei blieb es in allen späteren Generationen und bleibt es auch in der, die den Kampf heute wird fortsetzen müssen; nur darin, wie die Brüder- und Schwesterlichkeit erreicht und geregelt werden kann, haben wir aufgrund unerwarteter Erfahrungen in dem und jenem Punkt unsere Ansicht verändert.

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Was das „nahe Un-Ende“  ö k o n o m i s c h  bedeutet, habe ich ausgeführt. Es bedeutet, dass die Menschen sich je und je nur nächste Produktionsziele setzen, statt sich auf übernächste „Kondratjew-Wellen“ zuzubewegen und diese für ein unendlich fortlaufendes Naturgesetz zu halten, dem sie sich sich blind fügen müssten. Es bedeutet, dass sie sich zu  nächsten Schritten  f a l l w e i s e  entschließen, statt einen technischen Selbstlauf zu imaginieren, der sie ihnen angeblich aufzwingt.

Doch was bedeutet es naturwissenschaftlich?

Ich bin nicht kompetent, die Frage zu beantworten oder auch nur zu vertiefen. Doch auf sie ist nun alles hinausgelaufen, und das festzuhalten ist wesentlich. Ich schließe mit ihr die Notiz, das Kapitel und die ganze Blogreihe. Was ich selbst dazu noch sagen kann, bewegt sich in dem Grenzgebiet, wo naturwissenschaftliches in philosophisches Denken eingeht. Wie naturwissenschaftliches Denken philosophisch wahrgenommen wird, kann Naturwissenschaftlern, die zugleich Demokraten sind, nicht gleichgültig sein.

Mit Hannah Arendt haben wir unterstrichen, dass nicht das Unendliche schlechthin, sondern das „ferne“ Unendliche problematisch erscheint. Die Ferne ergibt sich daraus, dass eine fortdauernde Beschleunigung oder Steigerung oder ganz einfach, wie Leibniz es definiert hat, wiederholte Anwendung derselben Regel – so beim Zählen nach Peanos Theorie: immer Eins drauf – vom Ausgangspunkt nicht nur mehr oder weniger, sondern absolut und definitiv wegführt. Dass die „nahe“ Unendlichkeit damit buchstäblich überhaupt nichts zu tun hat, erschließt sich aus der Lektüre der Philosophie von Emmanuel Levinas, auf den sich Derrida und Lacan bezogen haben. Diese Philosophie ist nicht naturwissenschaftlich, vielmehr ethisch orientiert; doch was soll’s, die Philosophie Spinozas war beides in Einem gewesen. Levinas unterscheidet:  E s  g i b t  zwar eine nahe Unendlichkeit, die nichts weiter als der Beginn der fernen ist und daher unter ihren Begriff fällt, also selbst schon nah und auch fern in Einem ist; dass ich nämlich in der Absicht, mit dem Zählen nie aufzuhören, bei keiner noch so großen Geldanhäufung beispielsweise, das Anhäufen schon beginne. Wenn er aber sein erstes Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit nennt (München 1987 [frz. 1961]), dann bezieht sich auf  d i e s e  Nähe, die es nur zum Schein ist, der erste Ausdruck (Totalität), nicht der zweite. Nach seiner Analyse ergibt sich nämlich der Weg in die ferne Unendlichkeit aus der Totalisierung des eigenen Selbst; es ist der eigene Ansatz, der sich selbstgenügsam wähnt und deshalb auf alles, die ganze Welt, glaubt ausdehnen zu können; und wenn er so allmählich beim Fernsten anlangt und es usurpiert, dann ohnehin und zuerst beim Nächstliegenden, dem Anderen oder der Anderen, deren Andersheit nicht zur Kenntnis genommen, nicht akzeptiert und nicht geduldet wird. „Totalität“ verweist bei Levinas auf Totalitarimus.

Das nahe Unendliche ist demgegenüber das  A n d e r e , das mir  b e n a c h b a r t  ist. Und diese Nachbarschaft, selbst wenn ich gewaltsam ihren Eigensinn zerbreche, ist  d a s  R e a l e . Unendlich kann Levinas das nahe Andere nennen, weil zwischen ihm und mir eine Grenze liegt, die von mir aus gesehen ein Ende ist, das Ende meiner selbst; ich muss es übersteigen, um zum Andern zu gelangen, ebenso das Andere, um zu mir zu gelangen; weil das geschehen kann, wenn auch nie so, dass das Andere „durchsichtig“ wird, und es auch geschehen sollte, ist das Ende auch ein Un-Ende. Levinas‘ Philosophie macht darauf aufmerksam, dass man „den Menschen“ nicht als das Selbst oder als Verallgemeinerung des Selbst-Seins definieren muss, sondern auch als den oder die Andere(n) definieren kann; für ihn gibt es genau diese Möglichkeiten und er entscheidet sich für die zweite. Ich selbst würde das Dritte zugrunde legen, dass „der Mensch“ das Selbst  u n d  das Andere ist. Dieses Andere kann der andere Mensch, es kann auch mein „Unbewusstes“ und es kann schließlich die  a n d e r e  N a t u r  im Unterschied zur eigenen menschlichen sein – womit wir bei der Frage der Naturwissenschaft anlangen. Im Übrigen hat jenes Dritte auch einen formalen Aspekt, der in der Logik des Fragespiels liegt: Wenn ich nicht rechne, aussage, behaupte oder befehle, sondern frage, öffne ich mich dem Anderen, gebe ihm nämlich die Möglichkeit, meine Frage zurückzuweisen. Das Un-Ende meiner Frage liegt darin, dass ich mich nicht dagegen verwahren kann, aus ihr herausgeführt zu werden.

Dass die verschiedenen Aspekte miteinander zusammenhängen, zeigt sich in Marx‘ Bemerkung über das Verhältnis der Geschlechter, die ich im Revolutionskapitel zitierte: Er behandelt es als paradigmatisch für das Verhältnis von Mensch und Natur, das heißt von eigener menschlicher und anderer Natur überhaupt; daraus, wie sich der Mann zur Frau verhalte – das hieß zu Marx‘ Zeit: der Stärkere zur schwächer Gehaltenen -, könne „die ganze Bildungsstufe des Menschen“ beurteilt werden, damit aber auch, „inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen des Menschen geworden ist“ (MEW Ergbd. I, S. 562). Es ist hierin die Erwartung impliziert, dass die „Bildung“ (Selbsterschaffung) des Menschen nicht nur die Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern auch die  G l e i c h b e r e c h t i g u n g  v o n  M e n s c h  u n d  N a t u r  herbeiführe, beides basierend auf der Anerkennung der Andersheit der Pole.

Das Problematische im Umgang des Menschen mit der ihm äußeren Natur liegt gerade darin, dass er sich über ihr Anderssein hinwegsetzt, sie in ihrer Eigenbedeutung missachtet. Genau hieraus entspringt die ökologische Katastrophe. Hier sieht man aber auch, dass dies der Naturwissenschaft „als solcher“ – das heißt wenn wir sie von der Frage der fernen Unendlichkeit zu trennen versuchen, die ihr zwar zugrunde liegt, die aber dennoch  k e i n e  n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e , aus naturwissenschaftlicher Forschung hervorgegangene Frage ist – gerade nicht vorgeworfen werden kann. Die in jeder Hinsicht eigene Leistung der Naturwissenschaft hat vielmehr von Anfang an darin bestanden, das  A n d e r s s e i n  der Natur  z u  e n t d e c k e n . Deshalb gilt es in der Kritik, die Hannah Arendt an der Naturwissenschaft übt, zu unterscheiden: Eine Sache ist es, dass sie über die Ferne des Blickpunkts der Naturwissenschaft, eine andere, dass sie über ihre  U n v e r s t ä n d l i c h k e i t  seit Einstein und Planck sich beklagt (vgl. Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981 [engl. 1958], S. 18 und S. 9 f.) – Unverständlichkeit in dem Sinn, dass man, was seitdem Natur heißt, zwar als mathematisches Gebilde nachvollziehen, nicht aber mehr „sich vorstellen“ kann, was deutlicher philosophisch gesprochen heißt, es ist nicht mehr möglich, das „Ich denke“ im Sinn des Kantischen Postulats mit diesen Denkinhalten zu verbinden. Ich sage, man muss unterscheiden: weil diese Unverständlichkeit wohl nicht selbst wieder nur eine Ferne des Blickpunkts illustriert; sie könnte vielmehr andeuten, dass das vorstellungsfähige Denken der Forschung zwar nachhinkt, sie aber einholen könnte.

Dahin führt Ernst Blochs Frage: „Steht die neue Physik nicht genauso am Ende der bürgerlichen Gesellschaft wie das ptolemäische System am Ende der feudalständischen, und haben die kühn-komplizierten ‚Epizyklen‘ (Schleifen) der damaligen Planetenbahnen nicht manche Ähnlichkeit mit den Flicken und Neuheiten auf dem alten reißenden Rock von heute?“ (Das Materieproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt/M. 1972, S. 343 f.) Man könnte das zuspitzen: Was die Epigonen des Ptolemäus am Einfachen hinderte, war gerade die Selbstzentriertheit ihres Weltbilds; die Erde als Ort der Menschen sollte das Zentrum sein, was ein nachvollziehbares aber  a u ß e r wissenschaftliches Postulat gewesen ist. Als es fiel, war das vielleicht ein psychologischer Schmerz, doch die Planetenbahnen wurden verständlicher. Analog dazu fällt es heute schwer, außermenschliche Natur als andere zu denken statt als Verlängerung der eigenen. Was sind aber denn die logisch-mathematischen Modelle, wenn nicht  u n s e r e  menschliche Natur? Sie sind deren abstrakteste, das heißt  i n s  i n n e r l i c h  F e r n s t e  vorgeschobene Grenzen. So ist die Ferne der Natur, in der wir uns einrichten, vielleicht nur selbstverschuldete Entfremdung.

Dies sollte alle Naturwissenschaftler, es sollte auch alle Demokraten beschäftigen. Ökonomie und Ökologie hätten den Nutzen.