(149) Wählen und Wählen ist nicht dasselbe

1. Proportionwahlen und präsentative Demokratie / Sechster Teil - Retractationes

1

Meine Serie „Die Andere Gesellschaft“, die ich Anfang des Jahres schon für abgeschlossen erklärt hatte, nehme ich hier noch einmal auf, aus zwei Gründen. Erstens gibt es ein paar wenige, aber grundlegende Probleme, die zwar schon erörtert wurden, aber entweder zu knapp und schnell oder mit noch unbefriedigender Plausibilität. Dies verbindet sich damit, dass einige Autoren, die Wichtiges zu sagen haben, hier noch nicht vorgekommen sind. Die Probleme finden sich im frühesten Teil der Serie nach ihrer „Exposition“, dem zweiten also, der etwas wie eine historische Grundlegung ist. Mit ihnen fange ich aber jetzt nicht an und will deshalb auch nichts weiter dazu sagen. Durch den Rekurs auf sie wird es jedenfalls möglich werden, die Logik der ganzen Serie noch einmal zu rekapitulieren.

Zweitens ist mir ein grundlegendes Desiderat aufgefallen – also etwas, nach der Wikipedia-Definition, „das in einer gegebenen Umgebung fehlt, benötigt wird und erwünscht ist“ -, als ich schon dabei war, ein kleines Büchlein vorzubereiten, das die Kernpunkte und –argumente der Serie vorstellen soll. Was das angeht, will ich gleich sagen, worum es sich handelt. Indem ich es gleich sage, kann ich es allerdings nur in der Form tun, dass ich (unter „2“) ein paar pur logische Schritte präsentiere. Der Inhalt folgt anschließend. Er wird in Hinweisen auf die Geschichte des politischen Wählens bestehen und läuft auf das von mir propagierte  M o d e l l  e i n e r  „ p r ä s e n t a t i v e n  D e m o k r a t i e “  hinaus; das heißt, ich werde zuletzt ausführen, inwiefern die ökonomischen „Proportionswahlen“, die der Gegenstand der Serie gewesen sind, die Bedingungen dieses Modells erfüllen. Wer das ohne Weiteres interessant findet, zum logischen Kniffeln aber nicht so viel Lust hat, kann das jetzt unmittelbar Folgende, also die logischen Schritte, auch überspringen. Er kann auch die nachfolgende Erinnerung an meine logisch-historische Diskurstheorie überspringen und also gleich unter „4“ einsteigen, wo der Inhalt beginnt, in dem das alles implizit enthalten ist.

Ich selbst konnte es beim Inhalt und seinen Implikaten nicht belassen, weil ich es auch wichtig finde, darzustellen, dass und wie ich das Desiderat entdeckt habe. Denn Form und Inhalt der Darstellung sollen einander entsprechen. Es geht um eine Ökonomie, die durch geeignete demokratische Verfahren dem rationalen Selbstwiderspruch zugänglich ist. Ich hätte aber nichts entdecken können, wenn es nicht auch meine eigene Denkmethode wäre, mir selbst zu widersprechen.

2

Meine Grundidee war immer, dass in der Anderen Gesellschaft  Ö k o n o m i e  g e w ä h l t  w i r d , von allen; dies verband sich mit der Vorstellung, dass Wählen die charakteristische  O p e r a t i o n  i m  „ A n t w o r t – D i s k u r s “  sei. Der Antwort-Diskurs gehört zu den vier grundsätzlichen Diskursen, die sich so weit, wie sie historisch schon aufeinander gefolgt sind, in einer gegebenen Gesellschaft überlagern, wobei stets einer von ihnen die anderen „dominiert“. In der Anderen Gesellschaft dominiert erstmals der Antwort-Diskurs.

Von welchen vier Diskursen ich ausgehe, rufe ich unten unter „3“ in Erinnerung. Hier im ersten Schritt will ich nur erklären, was Wählen und der Antwort-Diskurs miteinander zu tun haben. Im Antwort-Diskurs ist ein bestimmtes Sprachspiel leitend, das des Fragens und Antwortens (das ich auch als „Fragespiel“ bezeichne; den Diskurs nenne ich nicht Frage- sondern Antwort-Diskurs, weil im Fragespiel die Antwort schwerer wiegt als die Frage; sie kann nämlich darin bestehen, dass sie die Frage zurückweist). Antworten geht aber in den meisten Fällen (wenn wir also den Fall, dass die Antwort die Frage zurückweist, erst einmal beiseitelassen) so vor sich, dass  v o n  d e n  A n t w o r t m ö g l i c h k e i t e n , die durch eine Frage vorgegeben sind,  e i n e  a u s g e w ä h l t  wird (weitergehend können wir dann auch sagen, dass zu allen vorgegebenen Möglichkeiten noch eine hinzukommt, die nicht vorgegeben aber ebenso legitim ist, eben die Möglichkeit der Fragezurückweisung, und dass auch diese ausgewählt werden kann). Zum Beispiel gibt die Frage nach der Uhrzeit alle Antwortmöglichkeiten zwischen 0 und 24 Uhr vor. „25 Uhr“ kann ich nicht antworten, es sei denn, mir fiele ein, dass es besser sei, den Tag in 25 als 24 Stunden einzuteilen, und ich das begründen könnte. (Meine Antwort sollte auch „wahr“ sein, aber darum geht es hier nicht; intendierte Wahrheit ist eine Eigenschaft der Aussagenlogik, nicht der Sprachspielregulatorien; „Aussagen sind Antworten“ ist zwar eine der wichtigsten Feststellungen der Fragespieltheorie, aber es gilt nicht das Umkehrte – Antworten als solche sind nicht schon Aussagen im Sinn der Aussagenlogik.) Dies alles scheint nun dahingehend zusammengefasst werden zu können, dass Wählen und Antworten dasselbe sind.

Es scheint aber nur so, und diesem Schein bin ich aufgesessen. Wer antwortet, wählt – das ist unbestreitbar -, also dachte ich, wer wählt, antwortet. Wenn das stimmt, sind Wählen und Antworten dasselbe. Doch muss jede Implikation einzeln darauf geprüft werden, ob sie umkehrbar ist, und das zu tun habe ich in diesem Fall unterlassen. Nein, es ist noch komplizierter. So wie eben hingeschrieben versteht es sich ja wirklich von selbst, dass die Implikation umkehrbar ist. Es gibt kein Wählen und kann keines geben, das nicht Antworten wäre. Aber die Frage, die ich mir stellen musste, war, ob wer wählt,  i m  S i n n  d e s  A n t w o r t – D i s k u r s e s  antwortet. Diese Bedingung ist nicht schon dann erfüllt, wenn überhaupt irgendwie geantwortet wird, was allerdings bei jedem Wählen geschieht, sondern es muss ein Antworten im Vollsinn sein – was das heißt, wird unten erläutert und in Erinnerung gerufen -, weil dieser Diskurs ja dadurch charakterisiert ist, dass das Sprachspiel des Fragens und Antwortens „leitend“ in ihm ist. Das Ergebnis wird jedenfalls sein: Wenn nur überhaupt irgendwie gewählt wird, ist das keineswegs per se schon eine „Operation im Antwort-Diskurs“. Es kann genauso gut eine Operation in einem der drei anderen Diskurse sein, die ich, wie gesagt, gleich noch einmal vorstellen will.

Ich hatte gedacht: Wenn Ökonomie gewählt wird – meine Grundidee -, dann wird sie im Antwort-Diskurs gewählt wie alles, was gewählt wird, und dann – der entscheidende Schritt – kann gesagt werden, dass die ganze so wählende Gesellschaft eine Gesellschaft sei, in welcher der Antwort-Diskurs dominant ist. Die gewohnten parlamentarischen Wahlen, dachte ich, seien zwar auch schon Wahlen im Antwort-Diskurs, aber das Wählen allein von Politikern und Parteien statt auch der Ökonomie reichten noch nicht aus, der Gesellschaft im Ganzen eine Dominanz des Antwort-Diskurses zuzuschreiben. Das könne erst geschehen, wenn auch die gesellschaftliche „Basis“, das ist die Ökonomie, gewählt werde. Das erst wäre die Andere Gesellschaft. Wie ich nun aber feststelle, ist dies zwar eine notwendige, aber noch nicht die hinreichende Bedingung. Eine Gesellschaft dominiert vom Antwort-Diskurs ist vielmehr eine, in der die Wahl der gesellschaftlichen „Basis“, also der Ökonomie, eine Wahl im Antwort-Diskurs ist. Und was die gewohnten parlamentarischen Wahlen angeht, so sind sie gerade keine Wahlen im Antwort-Diskurs. Dies werde ich zuerst zeigen, gleich nachdem ich die vier Diskurse in Erinnerung gerufen habe, wozu ich jetzt übergehe.

Warum ist das alles überhaupt von Interesse? Weil inzwischen, und mit Recht, so viel Skepsis dem Wählen gegenüber aufgekommen ist. Dem Wählen, wie wir es kennen. Wählen nach dem Antwort-Diskurs kennen wir aber noch nicht.

3

Das Grundsätzliche zu den vier Diskursen findet sich in der 40. Notiz. Ich zitiere es:

„Wie es ähnlich auch anderswo geschieht, unterscheide ich vier Diskurse, die sich durch die Übertragungsformen Metapher, (An-) Gleichung, Subsumtion und Frage-Antwort charakterisieren und auseinanderhalten lassen, auch da noch übrigens, wo sie sich wie Palimpseste überlagern. Mit dem Stichwort ‚Palimpseste‘ deute ich an, dass die vier Diskurse nicht nur ein logisches Modell, sondern auch eine soziologische Hypothese sind. Man kann nämlich versuchsweise zuordnen: der Metapher die archaische Welt der Verwandtschaftsstrukturen, später die sich modifizierenden Familien-Welten; der (An-) Gleichung Einiges in der Neuzeit, wozu ich jetzt nur sagen will, dass es vor dem 17. Jahrhundert keine Gleichungsmathematik gegeben hat; der Subsumtion die Welten des Befehls, später der funktionalen Leitung; dem Fragen-Antworten die Welt der ‚Urteilskraft‘, also des Gerichts und später der Aufklärung, gelegentlich auch der Revolution.

[…] Ich wollte immerhin unterstreichen, dass diese Formen nicht bloß Formen der Rhetorik sind, sondern geschichtlichen Hintergrund haben. Ein Weiteres aber noch: Diese Formen, als historisch gesättigte, sind auch eine Art zu sagen, was ‚Rationalität‘ sei; sie sind deren mögliche Prinzipien. Ich befinde mich in einem Spannungsverhältnis zu Max Weber, insofern ich annehme, dass nicht nur eine Rationalität historisch waltet und sich zuspitzt und klärt, sondern mehrere.“

„‚Metapher‘ heißt schon wörtlich ‚Übertragung‘. Sie ist aber nicht die einzige Übertragungsform, die Gleichung ist auch eine. Wenn wir es so aufrollen, sehen wir, dass in verschiedenen Formen verschieden übertragen wird. Dabei gibt es davon, dass der zweite Signifikant ein anderer als der erste ist, nie eine Ausnahme. Aber nur bei der Gleichung ändert das gar nichts an der Übertragungs-Identität. ‚7 + 5‘ ist ein anderer Signifikant als ‚12‘: Für die Identität ihrer beiden Signifikate macht das nicht den mindesten Unterschied. Die Metapher überträgt nicht ebenso streng. Hier kann der Signifikant eine Nuancierung, Akzentuierung und sogar ‚Verschiebung‘ des Signifikats bewirken, das dennoch mit sich identisch bleibt. Bezeichne ich das Kamel als Schiff der Wüste, so habe ich es ja in einen Horizont der Globalisierung von Verkehrsmitteln gestellt – die Vorstellung liegt nicht fern, dass ich mich zum Hafen tragen lasse, in ein wirkliches Schiff umsteige -, und genau deshalb nimmt Kant die Metapher in seine Schrift Zum ewigen Frieden auf, die das Besuchsrecht aller Menschen auf der ganzen Erde postuliert (BA 40 f.). Würde ich das Kamel als Taxi der Wüste bezeichnen, was viel hässlicher, aber nicht weniger möglich wäre, wäre ein anderer Akzent gesetzt. Aber ob ich auf bloßes Hin- und Herfahren oder das weltweite Verkehrsnetz anspiele: Was metaphorisiert wird, ist immer das Kamel.“

„Kommen wir zu Subsumtion und Frage-Antwort. Bei der Subsumtion wird die Bedeutung des Ganzen in seine Teile übertragen. Sofern sich von einem Ganzen alle Teile angeben lassen, müsste die Bedeutung des Ganzen vollständig übertragen werden können, sei’s vom Ganzen auf die Teile oder umgekehrt – wie Hegel einmal sagt, wenn alle Bedingungen einer Sache gegeben seien, trete sie in die Existenz. Diese Übertragungsform wurde historisch zuerst als Verhältnis von Arten zu ihrer Gattung gedacht, da hatte sie sich noch nicht gänzlich von der metaphorischen Übertragungsform gelöst, wurde aber schon zum ersten Modell von ‚Logik‘. Dafür steht Aristoteles.

Das Frage-Antwort-Verhältnis stellt sich zunächst so dar, dass man es mit dem Verhältnis von Ganzem und Teilen leicht verwechseln könnte. Denn eine Frage ist auf den ersten Blick die Summe aller Antworten, die ihr erteilt werden können. Zum Beispiel ist die Frage, wie spät es sei, die Summe aller Uhrzeiten von Null Uhr bis 23 Uhr 59. Der Unterschied zum subsumtiven Verhältnis besteht so weit nur darin, dass das subsumtive Ganze über  w i r k l i c h e  Teile, die Frage als Ganzes hingegen über  m ö g l i c h e  verfügt; denn der Sinn des Fragens ist, dass man aus den Antworten, die möglich sind, eine auswählt. Es gibt freilich auch das Phänomen, dass eine Frage, an der man festhalten will, nacheinander alle Antworten erfährt und dann doch verlassen werden muss, weil keine unter ihnen ist, die befriedigen konnte.

Das Ganze der Subsumtion kann niemals verlassen werden. Die Frage aber sehr wohl. Es ist immer auch die Antwort möglich, eine Frage sei konfus, in ihr vermische sich mehreres, was nicht zusammengehöre – zum Beispiel ‚Was war früher, Henne oder Ei‘: Wer sagt denn,  d a s s  eins früher gewesen ist? -, daher sei anders zu fragen. Es gibt Fragetheoretiker, die diesen Unterschied des Frage-Antwort-Verhältnisses zum Subsumtionsverhältnis nicht erfassen. Sie behaupten ernsthaft, nur subsumtive Antworten seien korrekt, solche also, die der gestellten Frage nicht widersprechen. Aber wenn sie recht hätten, würde sich eine Frage nicht von einem Befehl unterscheiden.“

4

Es folgen meine Hinweise zur Geschichte des Wählens und am Ende zur „präsentativen Demokratie“. Fünf Einträge werde ich, diesen hier eingeschlossen, dafür brauchen.

Die chronologische Ordnung zugrunde zu legen, ist beim Thema „Wählen“ nicht ratsam. Ich möchte lieber am vorherrschenden Bewusstsein anknüpfen, das uns allen gemein sein dürfte: vom Wählen unter Herrschaftsbedingungen. Wir sehen recht gut, dass Herrschaft auch heute noch nicht beseitigt ist – ökonomische sowieso nicht, aber auch politische -, auch etwa in Deutschland nicht, obwohl wir, wie es heißt, in der Demokratie leben. Zwar wenn der Sachverhalt wie das Wort wäre, könnten wir uns die Erörterung sparen: „Herrschaft des Volkes“ wäre eine, die sich selbst aufhebt. Es ist aber nicht an dem; das Volk mag mitherrschen, mehr noch herrscht aber eine politische Klasse. Mit zentralen Exempeln, die ich immer wieder zitiert habe, lässt es sich rasch in Erinnerung rufen: Das Volk hat dreißig Jahre lang deutlich zu erkennen gegeben, dass es aus der Nutzung der Atomenergie aussteigen wollte, die politische Klasse hat es dreißig Jahre lang ignoriert; in einer Umfrage vom Anfang der 1990er Jahre hat der im Ruhrgebiet lebende Teil des Volkes sich deutlich negativer über den Autoverkehr ausgesprochen als die politische Klasse, diese aber, darin bestand sozusagen die demokratische Dimension, glaubte ganz im Sinne des Volkes zu handeln.

Wir haben es mit einer Verfassung zu tun, in der gewählt wird, und doch sind „oben“ und „unten“ recht klar verschieden. Das ist Wählen unter dem subsumtiven Diskurs. Unmittelbar an diese Erfahrung anknüpfend, die unsere eigene ist, können wir aber einen weiten Bogen zurück schlagen: Schon in der antiken römischen Republik vertrugen sich Herrschaft und Wählen des Volkes. Zwischen damals und heute gab es lange Zeiten, in denen nur von „oben“ geherrscht wurde und das Volk nicht mitwählte. Das musste aber nicht heißen, dass es überhaupt kein Wählen gab, vielmehr gab es ja etwa im ersten deutschen Reich die „Kur“fürsten, die den König wählten, der sich dann noch, vom Papst, zum Kaiser krönen ließ („Kur“ von Küren, Wählen); der Papst seinerseits wurde von Kardinälen gewählt. Heute wiederum gibt es Verfassungen, die dem Volk mehr Wahlrechte einräumen als die deutsche und von denen man dennoch nicht sagen kann, sie seien herrschaftsfrei (so in Großbritannien und Italien, wo das Volk sich, wie gerade geschehen, in Referenden äußert). Haben wir derart eine Konstante trotz aller Unterschiede im Einzelnen über mehr als zweitausend Jahre, eben die Unterordnung, Subsumtion, als Prinzip des Politischen, das mit Volkswahlen verbunden sein kann, wenn auch nicht muss, so fällt andrerseits dieselbe Zeit infolge der Diskurse, die sich dem subsumtiven überlagern können, in drei Epochen auseinander: Die mittlere, wo das Volk nicht wählte, kam mit Subsumtion allein aus, in der heutigen ist neben, wenn nicht über dem subsumtiven der Angleichungsdiskurs stark wirksam, in der antiken war der metaphorische noch sehr bedeutend. Was das heißt und was es mit den Überlagerungszuständen auf sich hat, darauf kommen wir noch; ich wollte vorläufig nur andeuten, wie tief unser politisches Bewusstsein in der Erfahrung des Subsumtiven verankert ist.

Die mittlere Epoche kann ich beiseite lassen, bei der ersten und dritten abstrahiere ich zunächst von der Logik und den Phänomenen der Diskursüberlagerung, um die subsumtive Logik ganz allein, wie sie sich durchsetzt trotz Volkswahlen, möglichst unvermischt zu erfassen. Noch einmal, uns interessiert die  p o l i t i s c h e  Durchsetzung, nicht die ökonomische, auf die sie sich natürlich stützt, was wir aber ohnehin längst wissen. Es braucht also nicht wiederholt zu werden, dass im alten Rom die großgrundbesitzende Aristokratie ökonomisch herrschte und deshalb auch politisch herrschte, wie heute die Kapitalistenklasse. Nein, unsere Frage ist jetzt, wie die auch politische Herrschaft denn möglich ist und zwar selbst dann, wenn formell das Volk politisch entscheidet, indem es wählt.

Antwort gibt ein stets gleicher Mechanismus. Das Volk stimmt ab, die Abstimmungsalternative indes hat eine besondere Gruppe von Menschen vorgelegt, aus deren Beratung sie entstanden ist. Diese Gruppe herrscht, ohne ihre Herrschaft deklarieren zu müssen; das Volk wählt zwar, aber es wählt nur eine Position der Herrschenden gegen eine andere. In den Termini, die ich eben gebraucht habe, pflegt die Sache gedacht zu werden. So von Egon Flaig in Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik, Paderborn München Wien Zürich 2013: Die Beratung oder „Deliberation“ ist auf eine besondere Gruppe von Menschen beschränkt, während das Volk nur über das alternative Ergebnis der Beratung „abstimmt“. Auf der Linie dieser Begriffsbildung liegt es, wenn dann auch über die wahre „deliberative Demokratie“ nachgedacht wird, die sich, wie ihre Verfechter sagen, von der bloß „repräsentativen Demokratie“ unterscheide; über diese Debatte kann man sich bei David van Reybrouk, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen 2016, informieren. Es ist aber vorerst wichtiger sich klarzumachen, dass Begriffe wie „Abstimmen“ und „Deliberieren“ nicht besonders erhellend sind. Bessere Begriffe wären dem Vokabular des Antwortdiskurses zu entnehmen.

Was Wählen im Antwortdiskurs heißt, darauf will ich hinaus, aber da sind wir noch nicht, im Moment steht das subsumtive Wählen zur Debatte, und doch sage ich, dieses sei mit Begriffen jenes Diskurses am besten zu erfassen. Ein Widerspruch ist das aber nicht; ich behaupte ja auch, dass der Antwortdiskurs den anderen Diskursen überlegen sei. Die Überlegenheit äußert sich nun eben darin, dass die anderen Diskurse sich als seine unvollkommenen Abbilder begreifen lassen. So ist subsumtives Wählen nichts weiter als fragend-antwortendes Wählen in einer Verzerrung, die sehr deutlich bestimmt werden kann. Was ist denn Wählen überhaupt, immer und überall, wenn nicht dass eine Frage verschiedene Antworten möglich macht, von denen man eine auswählt? Das kann sich in keinem Diskurs anders verhalten. Die Besonderheit des subsumtiven Wählens liegt aber darin, dass es zwei Wählergruppen gibt, von denen die eine, als überwältigende Mehrheit, nur antworten darf, während die andere, sehr kleine, das Recht hat die Fragen zu stellen. Das Erste wird „Abstimmung“, das Zweite „Deliberation“ genannt, Begriffe, die so tun, als bezeichneten sie zwei Welten, die an sich getrennt sind und wenn überhaupt dann nur nachträglich kompatibel gemacht werden können.

Dass aber die Frage über die Antwort herrscht, solange es nicht möglich ist,  i m  V o l l s i n n  zu antworten, die Frage also gegebenenfalls zurückzuweisen, springt nun sofort ins Auge. Außerhalb des Politischen weiß es jede(r): Hast du deinen Vater heute wieder geschlagen? Wäre ich gezwungen, die Frage zu akzeptieren, ich müsste mich als jemand klassifizieren lassen, der seinen Vater schlägt. Im Politischen ist es nicht anders: Soll eine SPD-Koalition herrschen oder eine CDU-Koalition? Da kann ich wählen was ich will, ich wähle jedenfalls die Kapitalherrschaft. Eine Frage, die nicht zurückgewiesen werden kann, ist in Wahrheit ein Befehl, da eben der in ihr festgeschriebenen Erwartung auf eine begrenzte Antwortmenge, in der allein ausgewählt werden darf, gehorcht werden muss.

Umgekehrt geht ja ein Befehl nicht etwa auf eine bestimmte einzelne Art zu gehorchen hinaus. Der militärische Befehl, eine Brücke über einen Fluss zu schlagen, geht an Unteroffiziere mit Sachkenntnis, die in der Auswahl der gemäßesten Lösung freie Hand haben. Insofern spielt es auch gar keine Rolle, ob eine Frage oder ein Befehl zurückgewiesen wird,  w e n n  sie es wird: Der Unteroffizier, der mitteilt, dass das Zeitfenster zu klein ist, die Brücke zu bauen, hat den Befehl des Generals rückwirkend zur Frage gemacht, während jene „Frage“ SPD-Koalition oder CDU-Koalition, weil sie bisher nicht zurückgewiesen werden konnte, noch nie eine gewesen ist. Vom Standpunkt der Wählenden jedenfalls nicht.