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„Ich habe einen Lebensentwurf. Dem ordne ich Waren zu.“ Mit diesem Doppelsatz der 69. Notiz sollte die Haltung des Individuums zur Warenwelt in der Anderen Gesellschaft charakterisiert werden. Er zeigt an, dass nicht mehr die Waren die Individuen, sondern die Individuen die Waren beherrschen. Waren sind Stützpunkte und „Kleider“ der Individuation, das ist viel, aber weiter ist es nichts – nur die „Außenseite“ von Lebensentwürfen. Und wie werden Waren beherrscht? Dadurch, dass man das Recht hat, sie zu wählen. Man hat dieses Recht angeblich schon heute, aber es stimmt nicht, obwohl der Augenschein dafür spricht. Gewiss wähle ich zwischen Opel und VW, aber das ist nur Wählen innerhalb einer Frage, nicht der Frage selber; nur w e l c h e s Auto ich will, steht mir heute frei, nicht ob ich mit dem A u t o überhaupt unterwegs sein will, statt mit einem besser ausgebauten Netz öffentlicher Verkehrsmittel. Fragen der letzteren Art können die Individuen nur dadurch an sich ziehen, dass sie allgemeine Wahlen über grundsätzliche Produktwege abhalten. In solchen Wahlen geht es darum, was sie selbst wollen, so kommen ihre „Lebensentwürfe“ ins Spiel. Der Begriff warenbeherrschender Individuen ist ganz ernst gemeint. Er steht nicht als Vorwand für irgendwelche Sachzwänge. Wenn das Individuum entscheidet, ob es Auto oder S-Bahn fahren will, dann ist das zwar „objektiv“ die Entscheidung, ob der Ökologie geschadet oder geholfen wird. Die Entscheidung gilt einem Sachzwang. Aber da sich das „Objektive“ nur allenfalls durchsetzt, indem es Individuen bewusst und von ihnen zur Geltung gebracht wird, gehen wir von dieser Seite aus und fragen, worüber Individuen „subjektiv“ entscheiden. Das ist, wie sie leben wollen. Indem sie es kundtun, artikulieren oder implizieren sie ihre „Lebensentwürfe“. Soweit waren wir gekommen und fragen nun weiter, wie die „Außenseite von Lebensentwürfen“ Gegenstand einer Wahl sein kann.
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Das Individuum ist g e s e l l s c h a f t l i c h e s Individuum. Man erkennt es ohne Theorie, wenn man nur die Augen aufschlägt und die Welt um sich herum betrachtet. Ich habe all diese inner- und außerstädtischen Landschaften nicht hervorgebracht. Auch kein anderes Individuum, ja die Summe der Beziehungen und Verhältnisse aller jetzt lebenden Individuen hat es nicht getan. Diese Landschaften sind kein Konglomerat unzusammengehöriger Stücke, sondern begegnen mir als Bild, das in sich kohärent ist. Sie stehen mir als Welt gegenüber, und es ist eine warenförmige Welt. Was ich mir gegenüber sehe, sind Warenoberflächen. So ist die Welt, so begegnet sie mir: als Bild einer Gesellschaft. Habe ich sie auch nicht hervorgebracht, nehme ich an ihrer Hervorbringung doch teil. Und selbst ohne das ist sie auf mich bezogen. Ich bin also gesellschaftlich. Indem ich sie aber mit hervorbringe, bringt sie ihrerseits m i c h mit hervor. Sie tut es auch dadurch – das ist, was uns hier beschäftigt -, dass ihr Bild, als eines von Warenoberflächen, in meinen Lebensentwurf eingeht.
Ich als Individuum werde zwar erst einmal hineingeworfen. Stadt und Land sind schon da, wenn ich die Augen aufschlage. Aber nun will ich, dass mir das Bild gefalle, von dem ich mir nicht eigens klarmache, dass es ein Bild von Warenoberflächen ist. Ich will es selbst entwerfen, das heißt mitentwerfen. Solange ich nur hineingeworfen bin, ist es mir „entfremdet“, Außenseite von Sachen, die ich nicht einmal durchschaue. In dem Maß, wie ich es mitentwerfe, wird es zu m e i n e r Außenseite, m e i n e m Entwurf.
Das Thema „Außenseite von Lebensentwürfen“ ist damit nicht erschöpft, aber wir können sagen, Wahlen, die d i e s e r Außenseite gelten: der mir gegenüberstehenden, in mein Leben integrierten und es prägenden Welt, lassen sich relativ leicht denken. Auch deshalb fangen wir damit an. In der Anderen Gesellschaft bin ich an der Wahl eines von mehreren möglichen Grundsatzwegen der Produktion beteiligt. Das Wahlergebnis wirkt sich auf das Bild aus, das die Welt mir zukehrt, und führt also, mindestens so, zu einem Lebensinhalt, den ich selbst mitgewählt habe. Ein Grundwort, endlich zu nennen, ist hier einschlägig: Die Wahl hat Folgen für die S c h ö n h e i t der Welt. Dessen, was ich sehe, aber auch höre, rieche, schmecke, überhaupt sinnlich e r l e b e ; die Schönheit m e i n e s Lebens. Noch einmal, das erschöpft unser Thema nicht. Die Frage bleibt ja, wie die Außenseite dessen, worin jedes Individuum nur sich selbst verwirklicht, unter dem Schönheitsgesichtspunkt thematisiert und wählbar gemacht werden kann. Außerdem interessiert uns nicht nur die Schönheit der Welt, sondern auch ihre „Güte“. Aber schön und gut hängen zusammen.
Schönheit ist gerade nicht eine Frage der „Verpackung“. Die Philosophie der Schönheit seit Platon bestimmt sie vielmehr so, dass erstens sozusagen „drin ist, was draufsteht“, und es zweitens „das Gute“ ist, das in dieser Draufschrift – dem Bild, Hör- oder sonstigen Sinneseindruck – von innen nach außen gelangt. Wo das nicht der Fall ist, kann ein Ding, zum Beispiel eine Ware, zwar aufgehübscht werden, ist dann aber eben nur hübsch und nicht schön. Übrigens will ich nicht behaupten, das sei ein absoluter Unterschied. Weil „das Gute“, emphatisch genommen, vor allem eine erhoffte Zukunft ist, kann der Zauber des Schönen „nur“ darin liegen, diese Zukunft vorscheinen zu lassen. Etwas von der Differenz zwischen aufgehübschter Oberfläche und eher hässlichem Inhalt muss daher auch die schöne Oberfläche betreffen. Sie ist gerade dann schön, wenn sie nicht vertuscht, dass es Hässliches gibt. Sie selbst ist vom Hässlichen berührt und zerrissen, wenngleich sie den Riss bändigt oder mindestens gestaltet. Das Schöne, mit Rilke zu sprechen, ist „nichts als des Schrecklichen Anfang“. Es wird also nicht leicht sein, den nur relativen Unterschied von hübsch und schön zu erkennen. Weshalb es dennoch nützlich und auch operationalisierbar ist, danach zu fragen, erörtern wir noch. Im Moment genügt es zu sehen, dass wer das Schöne zum Thema macht, letztlich „das Gute“ bedenkt.
Auf dieser philosophischen Spur bewegt sich auch Marx. Der Mensch, schreibt er, der sich im „praktische[n] Erzeugen einer gegenständlichen Welt“ als das „Gattungswesen“ bewährt, das er ist – oder zu sein hofft -, produziert nicht „einseitig […] nur unter der Herrschaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses“, sondern „auch nach den Gesetzen der Schönheit“ (MEW Erg.bd. I, S. 517). Wir lesen das in dem Text, der die Warenwelt heftig kritisiert, den Pariser Manuskripten (siehe 69. Notiz). Marx hat die Warenwelt als Beleidigung der Sinne erlebt. Man spürt s i n n l i c h , was an ihr nicht „gut“ ist, oft noch bevor man eine Ware gekauft hat. Deshalb kann Marx ihr das Schöne konfrontieren. Im Schönen würde das Gute vorscheinen, eben die „Bewährung des Menschen als eines bewussten Gattungswesens“ (S. 516), von der wir so weit entfernt sind und die heute auch ästhetisch kaum vorscheint, außer in der Kunst. Dass wir bestenfalls auf dem Weg sind, zeigt Marx in einer überraschenden Volte, und wieder ganz sinnlich, am Verhältnis von Mann und „Weib“: Da sehe man, „inwieweit der Mensch als Gattungswesen, als Mensch sich geworden und erfasst hat“. Der Grad der Nähe zum „Gattungswesen“ – oder Ferne, wo das „Weib“ als „Magd der gemeinschaftlichen Wollust“ gilt -, hat hier, in diesem „unmittelbare[n], natürliche[n] Gattungsverhältnis“, „seinen unzweideutigen, entschiednen, offenbaren, enthüllten“, kurz g e g e n w ä r t i g e n „Ausdruck“. (S. 535)
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Inwiefern wirkt sich die Wahl von Grundsatzwegen der Produktion auf die Schönheit der Welt aus? Die ersten Wahlsujets, die uns einfallen, sind ökologische. Als Modell denke man sich Entscheidungsfragen wie die, ob es mehr Genfood oder mehr „biologischen Anbau“ geben soll; mehr motorisierten Privatverkehr oder mehr öffentlichen Verkehr; mehr Atom- und Kohle- oder mehr Wind-, Wasser- und Sonnenenergie. Diese Themen sind bis heute von fast allen Ökologen nur biologisch, chemisch, physikalisch und technizistisch behandelt worden. Es geht dann um Kalorien und Biomasse, Feinstaub und Kohlendioxid, „Umwelträume“ und Schadstoffbilanzen. Natürlich muss man das alles erfassen und wissenschaftlich aufbereiten. Aber es sind zunächst nur Stellschrauben und noch keine Sujets von Politik. Einer Ökodiktatur, wenn sie möglich und wünschenswert wäre, würden Stellschrauben genügen, passend zu den „Machthebeln“, an denen sie säße. In der Demokratie hängt aber alles von der Politik ab. Ökologie setzt sich, wenn überhaupt, dann politisch durch. Voraussetzung dafür ist, dass sie mit den Lebensinteressen der Individuen, jedes einzelnen von ihnen, zusammentrifft und sie es auch merken. Das Individuum sieht sein ganz eigenes Leben nicht tangiert, wenn die Zeitung Schadstoffbilanzen veröffentlicht. Denn das ist „graue Theorie“, nicht „des Lebens grüner (!) Baum“. Es kauft also trotzdem das nächste Auto. Soll darüber p o l i t i s c h gestritten werden, kann der Streit nur davon handeln, was das Individuum für sinnvoll hält, für schön und gut.
Darüber tauschen sich Individuen heute schon aus. Ganz anders können sie es, wenn ihr Austausch in einer Wahl resultiert und das Resultat Folgen für die Autoproduktion hat. Dann wird im Wahlkampf die Güte und auch die Schönheit oder Hässlichkeit des Autoverkehrs zum Streitthema. Jedes Individuum fängt nun an, darüber nachzudenken, und begreift, wonach gefragt ist: was e s s e l b s t schön findet, im eigenen Leben. Ist es schön, dass Autostraßen alle Natur zerschneiden, Autos sich am Rinnstein der Straßen der Städte fast übereinander türmen? Ist der Lärm schön, der Benzingestank, der Gummigeruch in der Autokabine, das Gefühl im Magen, wenn man auf dem laufenden Motor sitzt? Manch einer wird sagen, schön zwar nicht, aber gut, denn im Auto sind wir mobil und frei. Das ist dann die nächste Diskussion. Kann man nicht auch anders mobil sein? Ist man frei, wenn man im Stau steht? Was verstehen wir überhaupt unter Freiheit? Und wenn wir frei wären, was fingen wir mit der Freiheit denn an? Welches Ziel würden wir anstreben? Denken wir über Ziele überhaupt noch nach, oder ist uns alles egal geworden?
Schön nicht, aber gut: Das wird heute von Ökologen vorgebracht, wenn es um Windenenergie, also um Windkraftanlagen geht. Es geht aber auch hier um beides. Die Schönheit oder Hässlichkeit von Windmühlen erschließt sich nicht aus deren isolierter Betrachtung, sondern aus dem Vergleich mit den Hässlichkeitsfolgen der Atom- und Kohlenenergie. Was ist hässlicher, Windmühlen in der Landschaft oder die geschwärzte und zerfressene Hauswand, auch Kathedralenaußenwand? Ist Fukushima eine schöne Gegend? Abgesehen davon kann man auf beiden Seiten der Alternative etwas tun. Wenn nicht gerade ein AKW platzt, können Haus und Kathedrale renoviert werden. Beim Design von Windmühlenparks lässt sich vielleicht ein besserer Kompromiss zwischen Technik und Ästhetik erzielen. Hat man diese Frage schon einmal Künstlern vorgelegt? Und schließlich, wir wissen gar nicht, wie unsere Kindeskinder die Windmühlen beurteilen werden. Im 19. Jahrhundert galten große Eisenbahn-Viadukte, von denen Täler überbrückt und Städte, wie Morlaix in der Bretagne, zerschnitten wurden, als äußerst hässlich. Heute finden wir Morlaix gerade wegen seines Eisenbahnviadukts schön.
Ich glaube ganz grundsätzlich, dass als Gegenstand der Ökologie die Oberflächen, in ihrem Verhältnis zur lebendigen, menschlichen Wahrnehmung, begriffen werden sollten. Denn wenn Ökologie nur die Wissenschaft der Kalorien und Biomasse, des Feinstaubs und Kohlendioxids, der Umwelträume und Schadstoffbilanzen ist, dann lässt sie sich, als bloße Frage der Technik, die sie dann geworden ist, auch auf dem Mond realisieren. Es geht aber doch um die Rettung der Erde. Einmalig an der Erde ist nur ihre schon oder noch vorhandene Schönheit – vieles, was schön war, ist der Umweltzerstörung zum Opfer gefallen – und die Aussicht, dass sie überall schön sein könnte. Davon handelt der politische Diskus der Anderen Gesellschaft.
Die Andere Gesellschaft wird zum Beispiel das Thema Touristik so aufrollen. Heute flieht man ins Reisen, um wenigstens zeitweise eine schönere Welt zu genießen. Doch wie unschön ist es dann wieder, das Bild elender afrikanischer Geröllplatz-Wüstendörfer, ja -hauptstädte im Fernsehen vorgeführt zu bekommen. Selbst im Urlaub! Die Hotelzimmer sind mit TV ausgestattet. Was ist das für eine Schizophrenie. Haben wir nicht Mittel, Afrika seine Schönheit zurückzugeben? Dann gäbe es Touristik nicht nur in Schönheitsnischen, sondern überall. Das ist die Frage, wie wir in einer Wahl die Proportion von regionalem Eigenbedarf und Entwicklungshilfe bestimmen. Und wenn nicht alle nach Spanien fahren, wird dort das Leitungswasser nicht knapp. Und wenn man nicht mit Auto und Flugzeug hinfährt, sondern mit Schiff und Eisenbahn, dann werden zwar die Urlaube länger, was andere Regeln des Verhältnisses von Arbeits- und Urlaubszeit bedingt, aber dafür wird w e l t w e i t weniger Schadstoff ausgestoßen und die Welt wird ü b e r a l l schöner.
Das Thema Schönheit, wie es sich in der eigenen Stadt stellt, haben wir mit dem Hinweis auf parkende Autos am Bürgersteig schon berührt. Viele andere Fragen stellen sich hier, zum Beispiel ob ich es schön finde, wie sich der Markt, also die Geschäfte und Kaufhäuser, in der Stadt „flächendeckend“ ausbreitet, nur „Schlafstädte“ neben sich duldend, die tot zu sein haben, während er selbst versucht, alle Lebendigkeit zu usurpieren. Aber damit sind wir schon so nahe an der Kehrseite unseres Themas: der Schönheit nicht nur des Bilds der mir begegnenden Welt, sondern meines individuellen Lebens – meiner Selbstverwirklichung im tagtäglichen Ablauf, zu dem das Einkaufen gehört -, dass wir es besser in diesem neuen und nächsten Kontext miterörtern, also in der 71. Notiz.