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Wir sind nun schon dabei, die Dominanz zu bemerken, die der Angleichungsdiskurs aufs Wählen ausübt. Er macht sich geltend, indem er die metaphorische Überlagerung des subsumtiven Wählens mit der Zeit wieder einkassiert. Aber nicht nur so. Dass inzwischen auch der Vorrang des subsumtiven Wählens verdämmert, ist besonders am allgegenwärtigen TINA-Prinzip abzulesen: Die da oben, die das Recht zur Deliberation haben, mögen noch so sehr zum Fragenaufwerfen berechtigt sein, wohingegen andere nur abstimmen dürfen – es ist doch auch das Deliberationsrecht ausgehöhlt, wenn von vornherein klar ist, wie geantwortet werden muss. Dass die Demokratie „marktgerecht“ sein müsse, wird heute offen ausgesprochen. Und wenn ein Volk wählt, wie das griechische am 5. Juli vorigen Jahres gegen die europäische Austerity, spielt das gar keine Rolle. Wie der Diskurs wirkt, wurde früher schon einmal erörtert (in der 36. Notiz): Wählen im Angleichungsdiskurs heißt das Optimum wählen, ist in diesem verkürzten Sinn „rational choice“ und insofern gar nichts, was den Ausdruck „Wählen“ überhaupt verdient; die Antwort steht hier vor der Frage schon fest, muss nur herausgefunden werden, was bei fortschreitender technischer Entwicklung den toten „intelligenten“ Maschinen überlassen werden kann.
Ein anderer Zug dieser Machtergreifung ist schon länger bemerkt worden, nämlich dass die Wählenden als atomisierte Individuen in die Wahl eingehen, was vorher nie der Fall gewesen war. Aufs Individuum kam im römischen Senat alles an. Gerade wie die Einzelnen argumentierten, sollte Gehör finden. Aber eben das überträgt sich nicht auf den Einzelnen als Atom eines 60 Millionen Wähler umfassenden Elektorats unserer Zeit. Ob und was er zu sagen hat, spielt überhaupt keine Rolle und bleibt auch völlig unbekannt, soll es auch geradezu, denn man ist stolz auf das Geheimnis der Wahlkabine. Die Anonymität hat ja auch wirklich Vorteile. Kein Patron steht mehr neben dem wählenden Arbeiter, um ihn zu beaufsichtigen. Herauskommt aber, dass der oder die Wählende n u r a l s Z ä h l e r e i n e r R e c h e n a u f g a b e in die Wahl eingeht, und das macht diese zur Angleichungs-Wahl. Man weiß dann etwa, dass 10 Millionen sozialdemokratisch gewählt haben, aus welchen Beweggründen aber, weiß man nicht und will es nicht wissen. Allenfalls in subsumtiven Umfragen wird es erforscht, wo den „Antwortenden“ wieder nur das Abstimmen über vorgegebene, ziemlich pauschale Alternativen bleibt.
Noch in der ersten Zeit des modernen Wählens im Kapitalismus konnte man davon ausgehen, dass große Bevölkerungsgruppen in einer Perspektive der Zusammengehörigkeit gemeinsam, wenn auch in getrennten Wahlkabinen, für eine bestimmte Politik votiert haben. Als die Theorie des atomisierten Wählers schon damals formuliert wurde, war sie zweifellos noch stark übertrieben. Die bürgerliche cleavage-Theorie (Seymor M. Lipset / Stein Rokkan) hat die Verhältnisse dieser Frühzeit besser abgebildet, wenn sie herausarbeitete, dass viele Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung darin übereinstimmten, sich als Angehörige einer sozialökonomischen Klasse, einer religiösen Konfession oder einer benachteiligten Region zu sehen, und eben dies in der Wahl zum Ausdruck brachten. So waren sie nicht atomisiert, sondern bündelten ihr übereinstimmendes Interesse. Solche Bindungen haben sich aber zunehmend verflüchtigt und heute bleibt wirklich weithin nur übrig, dass einzelne Menschen in der ganzen Zufälligkeit ihrer „Individualisierung“ abstimmen und man es zusammenrechnet, ohne hineinschauen zu können.
Wählen auf Basis der Atomisierung ist auch ein Aspekt der „Normalisierungs“-Soziologie von Jürgen Link, die das Aktuellste und Avancierteste zum Thema beitragen dürfte (vgl. Normale Krisen? Normalismus und die Krisen der Gegenwart, Konstanz 2013, S. 66). In der Vorstellung einer politischen „Mitte“, von der aus die politischen Tendenzen in beiden Richtungen erst allmählich, dann stärker abfallen, sieht Link eine Projektion der Gaußschen Glockenkurve auf den Parlamentarismus: „Ein solcher Bogen wäre […] nichts anderes als eine Quasi-Normalverteilung.“ (S. 170) Auch das zeigt, wie der Angleichungs-Diskurs Wählen und Gewähltes zurichtet. Mag sein, dass eine gewählte Partei sich nicht von vornherein in die Kurve einfügt, mit der Zeit jedoch setzt diese sich durch: „Am Beispiel der ‚Normalisierung‘ der Grünen wurde die Verwandlung einer zuvor ‚fundamentalistischen‘ und damit womöglich ‚extremen‘, also ‚nicht-normalen‘, in eine ‚normale‘ Partei medial durchgespielt.“ (ebd; vgl. auch Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Auch ein Beitrag zur Diagnose der Krise, in kultuRRevolution Nr. 70, Juli 2016).
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Wenn ich gerade hier einen Exkurs zum Projekt der auf Auslosung beruhenden „deliberativen Demokratie“ einfüge, mag das zunächst befremden. Die Anhänger dieses Projekts, das international diskutiert wird, in Deutschland aber jetzt erst durch das schon erwähnte Buch David van Reybroucks bekannt wurde (Gegen Wahlen, a.a.O.), leiden ja wie wir alle am Ungenügen der vorhandenen Demokratie und wollen die wahre errichten. Und könnte man das Projekt an seinem Namen messen (den allerdings auch etwa John Rawls und Jürgen Habermas für ihre Konzepte in Anspruch nehmen), spräche wirklich alles dafür, dass es auf der wahren Spur ist. Die Kritik der repräsentativen Demokratie, dass in ihr nur eine Minderheit deliberiert und es deshalb ein Unten gibt, das von oben beherrscht wird, trifft jedenfalls den Kern. Und ich begrüße die Idee, repräsentativen Organen ausgeloste Bürgergremien zur Seite zu stellen. Wo das schon geschehen ist, sind die Resultate beeindruckend. In Irland zum Beispiel setzten sich 33 Politiker mit 66 ausgelosten Bürgern aus der Republik und aus Nordirland zusammen, um ein Jahr lang miteinander zu beraten. In der Auslosung wurde dafür gesorgt, dass die Gruppe nach Alter, Geschlecht und Herkunft (Republik oder Nordirland) repräsentativ war. Beraten wurde über Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe, die Rechte der Frau oder das Verbot der Blasphemie in der heutigen Verfassung. Die Teilnehmer hörten auch Experten an und nahmen Beiträge anderer Bürger entgegen. Am Ende kamen Empfehlungen heraus, die durch beide Kammern des irischen Parlaments gingen, von der Regierung und dann auch in einem Referendum angenommen wurden:
„Am 22. Mai 2015 stimmte die irische Bevölkerung […] in einem nationalen Referendum einer Verfassungsänderung zu, die die gleichgeschlechtliche Ehe möglich machte. Die Befürworter erreichten gut 62 %. Das Referendum fand statt, nachdem die Constitutional Convention sich 2013 mit 79 % der Stimmen dafür ausgesprochen hatte, die Verfassung in diesem Sinne zu ändern. […] Es war das weltweit erste Mal in der Neuzeit, dass eine Beratung von ausgelosten Bürgern zu einer Verfassungsänderung führte. Zum Vergleich: Während im ‚katholischen‘ Irland die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe mehr oder weniger friedlich verlief, auch dank der Bürgerbeteiligung, erlebte das ‚libertäre‘ Frankreich in dieser Zeit ein Jahr heftiger politischer Unruhe wegen genau dieses Themas. Demonstrationen mit mehr als dreihunderttausend Teilnehmern zogen durch die Straßen von Paris. Dort hatte man die Bürger nicht zu Wort kommen lassen.“ (S. 134 f.)
Nebenbei sieht man auch, dass Referenden trotz Brexit eine gute Sache sind, wenn sie nur gut vorbereitet werden: nicht durch kommerzielle Werbung und Schlagworte, sondern durch Beratungen. Dass solche Beratungen aber nicht nur zur Klärung führen, sondern nachgerade die Haltung des Elektorats verändert können – was für mein eigenes Konzept der ökonomischen Wahlen wichtig ist: Wenn etwa, hatte ich argumentiert, über die Schäden des übermäßigen Fleischkonsums in einem Wahlkampf debattiert wird, wird wenigstens ein Teil der Wähler die Konsumgewohnheit modifizieren -, zeigt der texanische Fall.
„Texas […] loste mehrmals Bürger aus, um über saubere Energie zu diskutieren, nicht gerade ein naheliegendes Thema für einen Ölstaat. Infolge dieser Beratungen mit ausgelosten Bürgern stieg der Anteil der Bürger, die sich bereiterklärten, etwas mehr für Wind- und Sonnenenergie zu bezahlen, dort von 52 auf 84 %! Durch diese gewachsene Unterstützung konnte sich Texas bis 2007 zum US-Bundesstaat mit der größten Anzahl von Windrädern entwickeln; zehn Jahre zuvor hatte es noch im hinteren Teil des Feldes gelegen.“ (S. 118)
Ja, das ist unbedingt ein begrüßenswerter Weg, so dass es mich zunächst auch nicht stört, dass er sich bei näherem Hinsehn als ein weiterer Fall von Überlagerung des subsumtiven Wählens durch den Angleichungsdiskurs entpuppt. Es handelt sich nämlich nicht wirklich um einen Rückgriff auf die attische Demokratie mit ihren „Rat der 500“ und anderen ausgelosten Gremien, wie Reybrouck glauben machen will, sondern um eine Anwendung der Mathematik der repräsentativen Stichprobe. Die gab es im alten Athen noch nicht. Aber was soll „schlimm“ daran sein, Mathematik anzuwenden. Auch wenn die repräsentative Demokratie mit ihren Grenzen, oder wie ich sage das subsumtive Wählen, dadurch nicht wirklich verändert wird. Reybrouck sagt es selbst: Zwar heißt sein Buch „Gegen Wahlen“, es ist aber weiterhin so, dass eine Minderheit berät – zum Beispiel 33 Politiker ergänzt um 66 Bürger -, eine Empfehlung beschließt und diese zur Abstimmung den Millionen Wählern überreicht wird. In seinen Beispielen werden die Grenzen des Verfahrens nicht immer deutlich. So spielt es bei der Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe keine Rolle, welches Gremium sie aufwirft, da alle sie aufwerfen würden, das gesamte Elektorat. Etwas anders verhält es sich aber schon bei der „sauberen“ Energie. Da fragt man sich, warum die Ausgelosten nicht auch erwogen haben, mehr Windräder anders herbeizuführen als durch höhere Strompreise.
Der Ausbau der „elektoral-repräsentativen“ zur „aleatorisch-repräsentativen“ Demokratie, so Reybroucks Termini, ist sicher ein Schritt voran. Es ist aber bezeichnend, dass er selber an der bloßen Modifikation des repräsentativen Wählens kein Genüge findet und letztendlich ihre völlige Abschaffung empfiehlt. Die würde so aussehen, dass die beratenden Stichproben-Gremien ihre Empfehlungen nicht mehr den Wählern, sondern nur noch einem weiteren Stichproben-Gremium zur letztgültigen Abstimmung übergeben. So wäre politische Repräsentation durch mathematische vollkommen ersetzt. Und das würde sie zweifellos erheblich verbilligen. Die Verfechter des „aleatorischen“ Projekts sollten aufpassen, dass nicht womöglich dieser Projektteil der einzige ist, der umgesetzt wird, weil er so „marktgerecht“ wäre – man hat die neoliberale Verurteilung der Kosten jenes griechischen Referendums noch im Ohr.
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Vom metaphorischen Wählen sahen wir, dass es auf Konsens hinauslief. Dem Konsens war aber die Deliberation verschiedener Optionen vorausgegangen, und zwar unter Beteiligung aller Männer der jeweiligen Gruppe (die Beteiligung konnte die Form annehmen, dass man erst das Alter der „Ältesten“ erreichen musste). Also führte, dass zwischen Verschiedenem entschieden wurde, n i c h t a u s G r ü n d e n d e r L o g i k dazu, dass die Entscheidung im zweiten Schritt oder gleichzeitig von allen übernommen werden musste (Konsens). Vielmehr hielt man die Fortdauer verschiedener Auffassungen für gefährlich. Die unterstellte Gefahr bestand wohl nicht so sehr in einer psychischen Unkontrolliertheit, die man sich attestierte, und daraus folgendem Gruppenzerfall als darin, dass man die Opposition Lebendige – Tote in der Opposition Mehrheit – Minderheit, oder umgekehrt, metaphorisch wiedererkannte. Wie auch immer, der Konsens, der für nötig gehalten wurde, hob nicht rückwirkend die Verschiedenheit der Optionen auf. Das tut aber die Angleichung. Deshalb lässt sich nicht sagen, sie laufe auf Konsens hinaus. Es wird zwar auch im Angleichungs-Diskurs vom „Wählen“ gesprochen, mit dem Zusatz jedoch, dass es „rational“ zu sein habe – rational choice -, was bedeutet, dass d a s B e s t e zu wählen sei. Dies Beste steht vor dem „Wählen“ fest, die Antwort vor der Frage, so dass es nicht im Ernst darum geht, sich dafür zu entscheiden, sondern eher nur es z u e r r e c h n e n .
Solches „Wählen“ hat seinen Ort nicht in der Politik, wo es sich nur auswirkt mit unwiderstehlicher Macht, sondern in der Ökonomie. Dort aber zeigt es einen ganz eigentümlichen Charakter. Mit dem politischen subsumtiven Wählen stimmt es in dem einen Punkt überein, dass es herrschende Kräfte gibt, die anders „wählen“ als die Beherrschten, und dass diese Letzteren nur abstimmen, das heißt zwischen Optionen – den Waren – wählen, die sie sich nicht selbst zur Auswahl hingestellt haben. Wissen wir doch, dass das Angebot die Nachfrage beherrscht. Gewiss suchen die Anbieter auch herauszufinden, was die Nachfrage will, und haben selbst ein Interesse daran, sie zu befriedigen; dasselbe Interesse gebietet ihnen aber, eine Nachfrage allererst hervorzurufen, die es sonst gar nicht gäbe, oder eine vorhandene in eine Richtung nach ihrem Willen zu lenken.
Dieses in allen denkbaren Fällen identische Interesse richtet sich immer darauf, den größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Und das ist der Punkt, worin sich ökonomisches Angleichungs- von politischem subsumtiven Wählen unterscheidet. Wenn eine Regierung im modernen Parlamentarismus oder wenn der altrömische Senat Entscheidungsalternativen vorgibt, hat er oder sie diese vorher in der Deliberation herausgearbeitet, das heißt hat Fragestellungen erwogen und mögliche Antworten zusammengestellt, die anschließend dem „Volk“ übergeben werden. Was hieran höchst unbefriedigend bleibt, ist dass n i c h t a l l e an solcher Erwägung teilnehmen, wie es beim „metaphorischen Wählen“ schon einmal der Fall war. Dann erst, wenn alle teilnähmen, könnte im Vollsinn von Demokratie, der „Herrschaft des Volkes“ über sich selbst die Rede sein. Im Angleichungs-Diskurs indessen, wo es den Unterschied von Herrschenden und Beherrschten auch gibt, kommen nicht einmal die Herrschenden in den Genuss, Fragen erwägen zu dürfen. Hier gibt es Deliberation weder „oben“ noch „unten“. Es besteht vielmehr der ganz paradoxe Unterschied, dass man sich „oben“ der totalen Unfreiheit der rational choice absolut bewusst ist, während „unten“ umso mehr die Illusion des freien Wählens herrscht und auch alle ideologischen Mächte bestrebt sind, sie in die Köpfe zu hämmern; der „freie Markt“ der Endkonsumenten erscheint als das Paradigma, woran jedermann auch die politische Demokratie messen soll.
Von irgendeiner freien Wahl kann „oben“ nicht im Mindesten die Rede sein: Teils hat man darauf zu reagieren, was die Konkurrenz tut, teils glaubt man sich einem angeblichen Selbstlauf der technischen Entwicklung unterordnen zu müssen, den man erforscht statt in ihn einzugreifen. Auch die Reichsten der Superreichen tun nichts anderes, als für diese Erforschung – der technischen Zukunft und der lukrativsten Märkte – die besten, teuersten Forscher anzuheuern, und vergrößern nur dadurch ihre Macht, die mit totalstem Selbstzwang identisch ist. Wenn freilich solche Reichsten aus dem Mechanismus, der ihnen die ökonomische Herrschaft garantiert, heraustreten und ihrerseits als Endkonsumenten im Markt einkaufen, dann sind sie die Freisten, weil sie das meiste Geld haben. Überhaupt hat das ökonomische Wählen der Endkonsumenten den Charakter, eine Zensuswahl zu sein. Wer viel Geld hat, kann zwischen Vielem wählen, wer wenig, zwischen Wenigem. Auf dieser Ebene besteht also überall Freiheit, wo Geld ist, und sei es nur eine Münze; eine Freiheit, die sich je nach Einkommen ausweitet und oben an der Spitze unendlich groß wird. Der Mechanismus aber, der diese Freiheitsgrade bewirkt, ist wie gesagt absolut unfrei und bietet sich auch deshalb nicht zur Verallgemeinerung an. Die Verallgemeinerung wird ja versucht: In den volkswirtschaftlichen Modellen stellt man sich auch Endkonsumenten mit wenig Geld als Entdecker ihres je privaten Optimums vor. Alle zusammen, Herrschende wie Beherrschte, „entdecken“ dann, dass es rational ist, den Planeten ökologisch zu verwüsten, weil das die zwangsläufige Folge einer Produktions- und ihr entsprechenden Konsumtionsweise ist, die nach dem unendlichen Mehrwert strebt.
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Die nachkapitalistischen ökonomischen Wahlen, näher „Proportionswahlen“, die in meiner Blogreihe als der große Hebel zur umfassenden Demokratie vorgestellt wurden, gehen fragend-antwortend vonstatten. In welcher Form, wurde bereits beschrieben, so in der 112. und 113., 120. und 123. Notiz. Diese Form unterscheidet sich aber von allem Wählen, das es bisher gegeben hat. Wie ich das selbst erst spät begriff, berichte ich am Anfang der 149. Notiz (wer die Passage zunächst überschlagen hat, kann die Lektüre jetzt nachholen): Es handelt es sich nicht einfach darum, dass nun auch ökonomisch und nicht mehr bloß politisch gewählt wird, sondern indem dies geschieht, kommt ein neuartiges Wählen, W ä h l e n i m A n t w o r t – D i s k u r s zum Zuge.
Die Besonderheit der „Proportionswahl“ muss daher auch a l s W a h l eigens hervorgehoben werden, und nicht bloß nach ihrer ökonomischen Seite. Denn wenn es so aussieht, als sollten einfach nur „freie Wahlen“ von gesellschaftlichen Teilbereichen auf die ganze Gesellschaft ausgedehnt werden, derart dass auch der ökonomische Bereich und da nicht nur der Endkonsum, sondern auch das Grundsätzliche einbegriffen ist, wird schon einmal die Propagandakraft des Konzepts, seine mögliche politische Wirksamkeit geschmälert: weil man zu wissen glaubt, was freies Wählen ist, und das Bekannte zwar nicht missen will, aber auch nicht gerade von ihm begeistert ist. Erfahrungen wie dass man die SPD wählt, weil sie das „kleinere Übel“ ist, oder ein „Schnäppchen“, weil man wenig Geld hat, oder das Zusammenagieren mit anderen, die auch irgendwie links sind, machen kaum Lust auf mehr. Die Forderung, das bekannte „freie“ Wählen zu verallgemeinern, wird daher nicht einleuchten. Wobei davon, dass es bekannt sei, in Wahrheit keine Rede sein kann. Denn niemand macht sich klar, dass er oder sie im ersten Beispiel subsumtiv wählt, im zweiten angleichungsdiskursiv und im dritten metaphorisch. Nein, weil es nicht bekannt ist, scheint Wählen und Wählen dasselbe zu sein. Und deshalb wird man sich keine wirkliche Befreiung davon versprechen.
Es ist aber nicht nur eine Frage der Propaganda. Die Sache selbst fasst sich besser zusammen und wird in ihrer neuartigen Struktur durchsichtiger, wenn man sie als ein Wählen beschreibt, mit dem verglichen sich jegliche Wahl, die es historisch schon gab, als mehr oder weniger unfrei erweist. Dabei ist von dem auszugehen, was Wählen linguistisch heißt: auf eine Frage antworten. Das habe ich immer schon getan, in dem Irrtum aber, Wählen gehe per se schon als Wählen nach dem Antwort-Diskurs vonstatten. Alles Wählen indes, wie es bisher verstanden und organisiert wurde, hat den Frage-Antwort-Mechanismus an der oder jener Stelle eingeschränkt. Erst in der p r ä s e n t a t i v e n D e m o k r a t i e , zu deren Erörterung ich jetzt übergehe, fallen die Schranken.